Das bewirken die neuen Nationalräte aus dem Oberland
Zweite Halbzeit in Bundesbern
Bei den letzten nationalen Wahlen schafften mit Yvonne Bürgin und Erich Vontobel zwei Oberländer den Sprung in den Nationalrat. Während in Bern bereits die zweite Halbzeit läuft, ist es Zeit für eine Zwischenbilanz.
Seit Anfang Dezember läuft in Bern die Wintersession des National- und Ständerats – und damit so etwas wie die zweite Halbzeit der aktuellen Legislaturperiode. Wir erinnern uns: Eine rekordverdächtige Zahl von 111 Frauen und 145 Männern aus dem Oberland stiegen bei den nationalen Wahlen im Oktober 2023 ins Rennen.
>> Wie die bisherigen Oberländer Nationalräte auf die erste Hälfte der Legislaturperiode zurückblicken, lesen Sie hier.
Den Sprung nach Bern schafften neben den vier bisherigen auch zwei neue Politiker: die Rütner Gemeindepräsidentin und inzwischen Mitte-Fraktionschefin Yvonne Bürgin und der Wolfhauser Erich Vontobel von der EDU.
Zwei Jahre später drängen sich einige Fragen auf. Wir beantworten einige davon.
Wie haben sich die beiden eingelebt?
Nach zwei Jahren Legislatur scheinen die Oberländer Politiker in Bern angekommen zu sein. Für beide ist es nicht das erste Amt in einem Parlament: Yvonne Bürgin und Erich Vontobel sassen über zehn Jahre im Kantonsrat, zwei Jahre davon sogar in derselben Kommission.

Fragt man sie nach ihrem Start in Bern, verweisen beide auf die im Kantonsparlament gesammelte Erfahrung, die ihnen den Einstieg erleichtert hat. «Ich war sehr schnell drin», sagt Vontobel. Bürgin fiel anfangs vor allem der «Kantönligeist» auf – so ticken selbst Parteikollegen aus anderen Kantonen anders als die Zürcher Gspändli. Vontobel findet das Miteinander ein wenig entspannter als im Kantonsrat.
Wie politisieren sie?
Yvonne Bürgin und Erich Vontobel – beide sind in Rüti aufgewachsen – vereint zwar die politische und persönliche Herkunft, doch Unterschiede gibt es genügend.
Bürgin, seit 2021 Mitte-Vizepräsidentin, ist durch ihre Stellung in der Partei – zwischenzeitlich war sie gar als Anwärterin fürs Parteipräsidium gehandelt worden – nicht nur bekannter, sondern hat die politische Karriereleiter Sprosse für Sprosse erklommen. Für sie ist klar: «Wer es bis nach Bern schafft, hat diese kompetitive Ader, sonst wäre man vielleicht gar nicht so weit gekommen.»
Vontobel dagegen wollte eigentlich einen Gang herunterschalten und schaffte die Wahl überraschend – dank Listenverbindungen. Gut drei Monate nach Amtsantritt liess er sich pensionieren und fokussiert sich seither auf seine Politikerrolle. Der 66-Jährige sagt aber: «Für mich ist das Amt in Bern nicht Teil eines Karrierepfads.» Trotzdem gebe er Vollgas.

Pensionär Vontobel ist gewissermassen das Gegenstück zu Bürgin, die mehrere Hüte trägt. «Es ist ein grosses Privileg, dass ich diese Zeit habe», sagt er. Obwohl das Milizparlament funktioniert, stellt er fest: «Viele Politiker haben für diese wichtigen Aufgaben im Grunde viel zu wenig Zeit.»
Auch was ihren politischen Stil angeht, gibt es deutliche Unterschiede: Bürgin versteht sich als ambitionierte und kompromissorientierte Sachpolitikerin, die sich gerne in die Akten kniet. Die 55-Jährige tritt als «stille Schafferin» auf und konzentriert sich auf die Kommissionsarbeit, anstatt viele Vorstösse auszuarbeiten.
Vontobel politisiert im Vergleich deutlich ideologischer. Er positioniert sich klar im christlich-konservativen Umfeld und hängt seine Politik auch stark am Glauben auf. So zeigt er sich etwa kritisch gegenüber Abtreibungen und gibt sich dezidiert Israel-freundlich. Der Aussenpolitiker reichte ausserdem mehrere Vorstösse ein, die die Situation verfolgter Christen im Ausland verbessern sollten.
Wer fehlte öfter?
Immer wieder machen Politikerinnen und Politiker Schlagzeilen mit ihrer Abwesenheit in Bundesbern – das prominenteste Beispiel ist wohl Roger Köppel, dem deswegen der Ruf als «Schwänzer» anhaftete.
Auch wenn weder die Mitte-Politikerin noch der EDUler derart oft fehlte: Müsste man unter den beiden Oberländer Neo-Nationalräten einen Absenzenkönig oder eine -königin ausmachen, so wäre das Yvonne Bürgin.
Laut Abstimmungsdatenbank verpasste sie total 184 Abstimmungen, während es bei Erich Vontobel deren 14 waren. Bürgin führt die versäumten Abstimmungstermine auf ihre Verpflichtungen als Gemeindepräsidentin zurück – etwa für Gemeindeversammlungen. «Im ersten Jahr waren alle Termine schon fixiert, und ich fehlte genau dann, wenn über viele Vorstösse am Stück abgestimmt wurde.»
Das sei ein Anfängerfehler gewesen, räumt sie ein. «Bei Abstimmungen über Gesetze, wo jede Stimme einen grossen Unterschied macht, habe ich aber nie gefehlt.» Mittlerweile schaffe sie es, die Termine so zu planen, dass sie möglichst wenige Abstimmungen verpasst.
Vontobel begründet seine Versäumnisse mit den zahlreichen Besuchern, die er – auch während der Session – empfängt. «Manchmal muss ich dann rennen, um rechtzeitig zur Abstimmung zu gelangen», erzählt er. Und so habe es eben auch einige Male nicht zeitig gereicht. In anderen Fällen wiederum laufe parallel eine Sitzung, die wichtiger sei als die Abstimmung. «Absichtlich fehle ich aber nie.»
Wer hat wo Akzente gesetzt?
Vergleicht man, wie viele Vorstösse Bürgin und Vontobel mengenmässig produziert haben, kommt man zum Schluss: Vontobel macht deutlich mehr. Ihn deshalb als den fleissigen Politiker darzustellen, greift jedoch zu kurz.
Denn: Wichtiger als Vorstösse ist die Arbeit in den Kommissionen. Was dort besprochen wird, unterliegt dem Kommissionsgeheimnis und ist somit auch nicht öffentlich zugänglich. Vontobel könnte man als «fleissigen Fragesteller» charakterisieren, der oft in Fragestunden und mit Interpellationen auffällt und dieses Instrument nutzt, um Themen «auf den Radar» zu bringen. Derweil sagt Bürgin selbstkritisch, sie nutze dieses Werkzeug «vielleicht noch etwas zu wenig». Sie nimmt anderweitig Einfluss. «Ich stelle meine Fragen in der Finanzkommission, dort kann ich mit einer kritischen Nachfrage mehr bewirken.»
Ausserdem ist ihr wichtig, keine «Vorstösse um der Vorstösse willen» einzureichen. Denn die Mehrheit aller eingereichten Vorstösse wird letztlich abgeschrieben. Und: «Als Finanzpolitikerin bin ich mir auch bewusst, dass jeder Vorstoss wiederum Kosten für die Verwaltung generiert.»


Auch Vontobel betont seine Erfolge in der Kommission. Er bearbeitete dort insbesondere die Themen Israel und Gaza und setzte sich für ein Nein zu «anti-israelischen Vorstössen» von linken Kräften ein. Die meisten Spuren hat aber eine Motion der aussenpolitischen Kommission hinterlassen, die er einbrachte.
Diese fordert den Bundesrat auf, einen Friedensgipfel zum Bergkarabach-Konflikt zu organisieren, mit dem Ziel, dass die vertriebene christliche Minderheit in ihr Gebiet zurückkehren kann. Für den religiösen Vontobel steht fest: «Wir müssen denen helfen, das sind unsere Glaubensgeschwister.» Vontobels Motion wurde zunächst von der Kommission, dann von National- und Ständerat angenommen und schliesslich an den Bundesrat überwiesen, der sich dagegen stellte.
Bürgin hebt ihre Mitarbeit bei dem Kompromiss vor, die Verteidigungsausgaben bis 2032 auf ein Prozent des Bruttoinlandprodukts zu erhöhen. «Zu wissen, dass ich bei einer Einigung mitgeholfen habe, ist mir wichtiger, als in vielen Statistiken aufzutauchen.» Stolz ist sie auch auf ihre erste Motion. Ziel dieser ist, die Obergrenze für Einkäufe in die Pensionskasse zu senken, damit sie nicht primär zur Steueroptimierung genutzt werden. Der Bundesrat hat sie zur Annahme empfohlen.
Was sagen sie übereinander?
Erfolgreich in Bern zu politisieren setzt voraus, Verbündete für sein Anliegen zu finden. Das wiederum geht nur, wenn man auch über Parteigrenzen miteinander auskommt – hier sind sich die beiden Oberländer Parlamentarier einig. Und was denken sie vom jeweils andern?

«Ich kenne und schätze ihn als guten Kollegen, auch wenn unsere Anschauungen wahrscheinlich in vielen Bereichen auseinandergehen», sagt Yvonne Bürgin über Erich Vontobel. «Aber genau das macht es auch aus.» Wenn sich die beiden treffen, dann am ehesten im Zug. Dass sie in Bern wenig miteinander zu tun haben, liegt wohl an den unterschiedlichen Schwerpunkten. «In der Finanzpolitik kann ich inzwischen gut mitreden, aber zu gewissen Themen halte ich mich mit Äusserungen eher zurück», sagt Bürgin.
Sie habe sich sehr schnell in die Materie eingearbeitet, sagt Vontobel über Bürgin. «Das kann sie.» An ihrem Kampfgeist erkenne man ihre Vergangenheit als Kunstturnerin. «Für unser Land und den Kanton ist das gut, aber ich könnte und wollte das nicht in diesem Ausmass, weil mich das kräftemässig überfordern würde.» Aber sie sei schliesslich auch noch etwas jünger.
Wie blicken sie auf die Wintersession?
Für die dreiwöchige Wintersession, die seit Anfang Dezember läuft, haben sich Bürgin und Vontobel verschiedene Schwerpunkte gesetzt. Vontobel beispielsweise plant ein Votum zur Feuerwerksverbots-Initiative. Zudem will er dem Bundesrat eine kritische Frage stellen zur Übertragung des katarischen Senders Al Jazeera über Swisscom-Fernsehsignale.
Yvonne Bürgins Aufmerksamkeit gilt in dieser Session vornehmlich ihrer neuen Rolle als Präsidentin der Mitte-Fraktion – keine einfache Aufgabe, zumal diese sehr breit gefächert ist. Da geht es um taktische Fragen, den Überblick über alle Geschäfte, aber auch darum, dass alle wie vereinbart abstimmen. «Langweilig wird mir sicher nicht», sagt sie.