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Gesellschaft

Mandala aus Sand

Mönche in Rikon erschaffen ein vergängliches Kunstwerk

Fasziniert beobachten die Zuschauer die geübten Hände der Rikoner Mönche. Sie fertigen ein Kunstwerk, das bald im Wasser landet.

Konzentriert arbeiten die Mönche am Mandala. Sonam Gyatso (Mitte) gibt die Technik des Sandstreuens an Kursen weiter.

Foto: Simon Grässle

Mönche in Rikon erschaffen ein vergängliches Kunstwerk

Mit geübten Händen und einem gleichmässigen Rhythmus lassen buddhistische Mönche aus Rikon Sand zu einem filigranen Mandala rieseln. Doch die Schönheit dieses farbenprächtigen Kunstwerks ist vergänglich.

Es herrscht eine andächtige Stille im Gebetsraum des Tibet Instituts in Rikon. Das rhythmische Geräusch von Metallrohren, die aneinander gerieben werden, bringt sogar die fünf Zuschauer in einen entspannten, meditativen Zustand.

Die Blicke der Anwesenden ruhen auf den Händen von zwei buddhistischen Mönchen. Sie sind es nämlich, die das gleichmässige Geräusch verursachen: In der einen Hand halten sie ein trichterförmiges Metallrohr mit Rillen. Mit einem zweiten Rohr reiben sie über die Rillen.

Aus der feinen Spitze des nach unten gerichteten «Chakpur»-Rohrs – wie es im Buddhismus genannt wird – rieselt feinkörniger, oranger Sand. Mit ruhigen, geübten Händen «zeichnen» die beiden Mönche filigrane Muster auf ein farbenprächtiges Mandala.

Das Sandmandala ist auf einer Holzplatte angelegt. Die Platte wiederum liegt auf einem Tisch, sodass die Mönche stehend daran arbeiten können. Ihre Oberkörper sind über die Arbeitsfläche gebeugt. Sie stützen ihre Hände auf Kissen ab, um komfortabler arbeiten zu können. Und vor allem ruhiger, denn: eine unbedachte Bewegung, und das Werk, in dem bereits rund 15 Arbeitsstunden stecken, wäre zerstört.

So lange sind die Mönche des Instituts nämlich schon mit dem Streuen eines Mandalas – für die Öffentlichkeit und zu Übungszwecken – beschäftigt. Dies ist eine von verschiedenen Aktivitäten im «Jahr des Mitgefühls», das mit dem 90. Geburtstag des Dalai Lama begonnen hat. Nach einem Einführungsprogramm und einem Ritual begannen sie Ende August mit dem «täglichen Streuen». Nach zehn Tagen sind die Arbeiten abgeschlossen.

Am 20. September wird das Kunstwerk mit einem Ritual aufgelöst und in die Töss gestreut. Alle diese Schritte waren und sind auch für die Öffentlichkeit zugänglich: Vom Einführungsritual über das tägliche Streuen bis hin zur Auflösungszeremonie können Interessierte den Prozess begleiten.

Bedeutung des Sandmandalas

Was hat es mit dem Streuen eines Sandmandalas auf sich? Das erfahren wir von Loten Dahortsang, dem Lehrer für Buddhismus und Meditation im tibetischen Kloster Rikon. «Ein Mandala ist die Darstellung unserer menschlichen Psyche», erklärt er in fast perfektem Deutsch. «Es zeigt den Weg zum inneren Selbst auf.»

Es könne auch als «Kosmogramm» verstanden werden, das zeige, wer wir seien und wo wir lebten. «Die fünf vorherrschenden Farben entsprechen den fünf Elementen, aus denen der Kosmos besteht.» Übrigens dieselben Farben (Rot, Grün, Gelb, Blau und Weiss), in denen auch die bunten Gebetsfahnen gehalten sind, die um das ganze Kloster anzutreffen und für den buddhistischen Glauben charakteristisch sind.

Die Farben stehen für die fünf Elemente Feuer, Wind, Erde, Wasser und Raum. Das Dreieck, das in vielen Mandalas vorkommt, ist eine zweidimensionale Darstellung einer Pyramide. Sie steht für die «Erkenntnisstufen»: Je weiter man nach oben kommt, umso reicher wird man an Erkenntnissen. «Wer vor einer Pyramide steht, sieht nur seine eigene Seite», sagt Loten Dahortsang. Erst von oben erkennt man jede Sichtweise.

Die fünf tibetischen Buchstaben in der Mitte des Mandalas stehen für die fünf Weisheiten des Buddhas: die absolute Weisheit, die unterscheidende Weisheit oder die spiegelgleiche Weisheit – diese besagt, dass nicht alles so ist, wie es scheint. Die Weisheit der Wesensgleichheit – alle haben die gleiche göttliche Natur. Und die alles verwirklichende Weisheit. «Diese fünf wichtigen Weisheiten werden weiblich dargestellt, in Form von Göttinnen.»

Vom 31.8.-20.9. streuen die Mönche im Tibet Institut in Rikon Turbenthal ein Sandmandala.
Schlussspurt: Wenn der äusserste «Feuerring» fertig gestreut ist, ist das Mandala komplett.

Loten Dahortsang erklärt, dass die Tradition des Mandala-Streuens ihre Ursprünge in Indien hat: Dort legen Frauen Muster aus Blumen aus, zur Meditation und für Rituale. «Im Buddhismus wurden die Blumen durch verschiedenfarbigen Sand ersetzt, weil man diesen präziser streuen kann.»

In Rikon wird Sand aus zermahlenen Bergkristallen verwendet. Er stammt von einem Kloster aus dem Himalaya, wo die Kristalle in tagelanger Arbeit von Hand zerrieben worden sind. «Der so gewonnene Sand nimmt die Naturfarben viel besser an, weshalb er dann intensiv leuchtet.» Neben dieser besonders edlen Version könne man auch einfachere Sandvarianten verwenden.

Anschauungsobjekt für die Praxis

Doch wozu das alles? «Nach buddhistischen Lehren streuen wir ein Mandala, wenn wir eine Initiation oder einen Ritus begehen», erklärt der Lehrer. Bei Ersterem handelt es sich um eine Zeremonie, mit welcher der Übergang eines Menschen in einen neuen spirituellen oder sozialen Zustand markiert wird. «Oder auch einfach, um diese kreative Tradition anderen Kulturen näherzubringen.» Aus letzterem Grund haben die Rikemer Mönche schon einige Werke für Museen oder Ausstellungen gestreut, zum Beispiel für das Museum der Kulturen in Basel 2008 oder das Historische Völkerkundemuseum St. Gallen 2019.

«Zu Hause», in den Räumlichkeiten des Tibet Instituts, allerdings haben sie das zuletzt im Jahr 1985 gemacht. «Damals waren etwa zehn sehr geübte Mönche während zweier Wochen intensiv mit einem komplexen Mandala beschäftigt.» Denn die Technik des Streuens wird zwar in den meisten buddhistischen Klöstern vermittelt. «Jedoch ist auch Praxiserfahrung notwendig.» Somit dient das aktuelle Mandala auch ein wenig dem «Training» der Mönche. Bewusst wurde dafür eine einfachere Form verwendet.

Indes stossen im Gebetsraum nach und nach weitere Mönche dazu. Schliesslich sind alle sechs derzeit in Rikon lebenden Mönche um den Tisch versammelt – auch der älteste. Der 85-Jährige, der seit der Klostergründung 1968 hier lebt, beherrscht die Technik des Sandstreuens zwar ebenfalls. «Ich überlasse das mittlerweile aber lieber den Jungen», erzählt er herzlich lachend.

Als Vorbereitung auf das Streuen haben sie zuvor meditiert. Trotzdem unterhalten sich die Mönche immer mal wieder kurz. Zuerst ganz leise, dann etwas angeregter.

Immer wieder schauen sie auf die ausgedruckten Vorlagen. «Es geht um die Wahl der Farben», übersetzt Peter Oberholzer. Der Geschäftsführer des Instituts kennt sich nicht nur in der tibetischen Kultur aus, sondern auch in deren Sprache. «Trotz Vorlagen haben sie einen gewissen Interpretationsspielraum.»

Und was passiert, wenn jemand einen Fehler macht? Gerade ist ein Mönch zu sehen, der mit einer Art Spachtel und mit einem Pinsel ein Stück des Sands vorsichtig wegputzt.

«Nachdem die Mönche schon zwei Drittel der grossen grünen Fläche gestreut hatten, stellten sie fest, dass zu wenig von diesem Grünton übrig ist», erzählt Peter Oberholzer. «Also mussten sie die ganze grüne Fläche entfernen, um dann mit einem anderen Grünton wieder von vorne zu beginnen.»

Im Vorraum befindet sich ein kleiner Tisch, an dem sich Besucher selbst in dieser Technik ausprobieren können. Spätestens bei diesem Versuch wird klar, warum die Mönche jahrelange Praxis benötigen, um die filigranen, vergänglichen Kunstwerke zu kreieren. Auch das ist eine Erkenntnis.

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