Spaziergang wird für Zürcher SP-Kantonsrat zum Horrortrip
Zum Glück sitzt Thomas Marthaler gesund und munter da, während er davon erzählt, was er im April auf einer Karibikinsel erlebte. Denn was sich jetzt wie ein spannendes Abenteuer anhört, hätte wirklich schiefgehen können. Die Lokalzeitung «Diario Libre» widmete dem Ereignis ihre Titelseite. In der Schweiz berichtete zuerst die NZZ darüber.
Es ist der 22. April, ein Freitagmorgen. Der Zürcher SP-Kantonsrat und Friedensrichter ist zu Besuch bei seinem Bruder Hans, der seit seiner Pensionierung in Puerto Plata im Norden der Dominikanischen Republik lebt. Von dessen Haus aus hat er einen schönen Blick auf den von dichtem Wald bewachsenen Hügel Isabel de Torres.
Er ist nur gerade 793 Meter hoch – der Uetliberg würde ihn um mehr als siebzig Meter überragen. Diesen grünen Hügel will der sportliche 2-Meter-Mann mal schnell besteigen. Marthaler sagt: «Ich habe die Gefahr total unterschätzt.»
Morgens um sieben bricht er auf. Ohne Morgenessen. «Ich hab nicht einmal einen Kaffee getrunken.» In Turnschuhen, Shorts und einem grünen Leibchen. Beim Erzählen schüttelt er den Kopf: «Ausgerechnet grün! Inmitten dieses grünen Dschungels.»
Er sei ohnehin etwas nachlässig in der Vorbereitung gewesen. Schlechtes Kartenmaterial, nur eine kleine Flasche Wasser. Er sei einfach losmarschiert. Google gibt eine Marschzeit von knapp zwei Stunden an. Hätte er etwas länger gegoogelt, wäre er schnell auf eine Website geraten, in der dieser Aufstieg beschrieben wird: als anspruchsvoll. «Keine Turnschuhe», steht dort.
Der 60-jährige Marthaler ist fit. Er war einst Profi-Schwergewichtsboxer, zehnfacher Schweizer Meister. Er lief bis vor einiger Zeit regelmässig Marathons, geht immer noch auf Schneetouren, war auch schon auf dem über 4000 Meter hohen Piz Bernina. Dieses Jahr hat er den Engadiner Skimarathon bestritten.
«Dass ich eine gute Kondition habe, war schon von Vorteil», sagt er. Er hätte den Gipfel allerdings auch ohne diese erklimmen können. Mit einer Seilbahn, offenbar der einzigen in der Karibik. Auch führt ein guter Weg auf den Berg, eigentlich eine Strasse, die befahren werden kann. Denn oben auf dem Plateau gibt es eine Aussichtsterrasse, ein Restaurant und eine riesige Jesusstatue.
Rauflaufen, runterfahren, beschliesst Marthaler. Wegen der Knie. Beim Weg entscheidet er sich für den schmaleren, weil er, laut Google, drei Minuten kürzer ist. Er orientiert sich mit dem «Navi» auf dem Handy, kommt zügig voran.
Es ist Viertel vor neun, und er glaubt, demnächst oben anzukommen, als er realisiert, dass er sich verirrt hat. «Ich muss an einer Gabelung den falschen Weg genommen haben.» Das Gestrüpp wird immer dichter, der Boden glitschig. Dann steht er oberhalb eines Bachs, der im freien Fall etwa zwanzig Meter in die Tiefe stürzt.
Das Gelände ist nun so steil, dass er immer wieder ausrutscht, hinfällt, den Halt verliert, kollert. In Bergsteiger-Manier befolgt er jetzt die 3-Punkte-Regel. Sie besagt, dass man immer mit mindestens drei Gliedmassen Kontakt zum Gelände haben muss. Er klammert sich an Gebüsche und merkt bald, dass die Wurzeln der Bananenstauden keinen Halt geben. «Das sind Flachwurzler, zwar kräftig, aber wenn ich mich an einer hielt, löste sie sich einfach vom Boden.»
Angst? «Ich war voller Adrenalin, aber es war mir bewusst, dass ich aufpassen muss. Hätte ich bei einem Sturz den Kopf angeschlagen oder mir etwas gebrochen, wäre es wirklich dramatisch geworden.»
Kein Handy-Empfang mehr
Sein Handy hat keinen Empfang mehr, der Akku ist ohnehin bald leer. Im letzten Moment spricht er seinem Bruder noch eine Nachricht aufs Band. Er habe sich verirrt, gibt ihm seinen ungefähren Standort durch. Der Bruder macht an diesem Tag einen Ausflug mit seinen Enkeln. Er wird die Nachricht erst gegen fünf Uhr abends hören. Eine Stunde bevor es Nacht wird, die in der Karibik schnell einbricht.
Gegen die Mittagszeit sieht Marthaler die Kabel der Seilbahn. Diese verkehrt nur im Stundentakt, doch ist er zuversichtlich, dass dieser Horrortrip bald zu Ende sein wird. Er winkt hinauf, sieht Menschen, die runterschauen. «Ich war mir sicher, dass sie mich entdeckt haben.»
Als er am Tag nach seiner Rettung – mit der Seilbahn – auf den Berg fährt, um zu «debriefen», wie er sagt, stellt er fest: In diesem allumfassenden Grün einen Mann im grünen Shirt zu erkennen, ist unmöglich.
Er wartet. Getraut sich nicht mehr vor-, nicht rückwärts. Weshalb ist er nicht einfach auf dem Weg zurück, auf dem er gekommen ist? Einen Weg gibt es schon lange nicht mehr, das Gelände ist unwegsam. Es ist 17 Uhr. Er hat seit dem Vorabend nichts gegessen und seit dem halben Liter Wasser in der Früh nichts getrunken. Und ihm wird klar, dass er die Nacht hier verbringen muss.
«Zum Glück wusste ich wenigstens, dass es in der Gegend keine giftigen Tiere gibt, auch keine Raubtiere», sagt er, und lacht. «Das nächste Mal unternehme ich so etwas, wenn die Bananen reif sind.» Er sucht sich eine einigermassen flache Stelle, wickelt sich gegen die Kälte in Bananenblätter ein, saugt etwas Saft aus den fleischigen Stielen.
Stockdunkel, Chilbimusik aus dem Tal
Es ist stockdunkel. Aus dem Tal klingt von einem Jahrmarkt Chilbimusik zu ihm hinauf, und die Vögel machen einen «Riesenmais». Dann, es ist kurz vor 23 Uhr, fingert ein Scheinwerfer von oben herab über die Bergschulter. «Ich dachte, nun suchen sie mich, nun finden sie mich, ich winkte und rief.» Bis er realisiert, dass die Beleuchtung der Jesusstatue eingeschaltet worden ist.
Tatsächlich waren Suchtrupps unterwegs, denn unterdessen hatte sein Bruder seine Nachricht abgehört. Etwa hundert Zivilschützer suchten das Gelände ab, fuhren die Strasse hinauf und hinunter, riefen nach ihm. Marthaler sagt: «Es ist schon schwierig, einen Menschen zu finden, der sich am Uetliberg verirrt hat. In diesem Urwald ist das fast unmöglich.»
Halluzinationen und Rutschpartie
Er kann tatsächlich schlafen, wohl auch aus Erschöpfung. Als es hell wird, keimt neue Hoffnung auf. Die Seilbahn wird sicher bald fahren, dann muss mich doch jemand sehen! Die erste Bahn fährt um neun. Da sitzt er schon drei Stunden da. Er winkt. Vergeblich. Zwischendurch scheint es ihm, als ob er hohe Masten sehe, die in den Himmel ragen. «Ich wollte hinaufsteigen, um näher zur Bahn zu kommen.» Doch die Masten entpuppen sich als Lianen, als er auf sie zugeht.
Es ist Mittagszeit, und er weiss nun: «Sie finden mich nicht. Ich muss selbst aus dieser misslichen Situation herausfinden.» Auf dem Hosenboden rutscht er den Abhang hinunter, zerkratzt sich die Beine und Arme, Steine lösen sich unter seinen Füssen. 3-Punkte-Regel.
Einmal sieht er etwas weiter unten einen Weg, ein kleines Dorf, eine Frau mit Kind. Er hört sie sprechen. Das heisst: Er glaubt, sie sprechen zu hören, als er näher kommt, ist da nichts als Gestrüpp und Grün.
In Zürich wird Mario Fehr informiert
Unterdessen haben seine Verwandten Marthalers Angehörige in der Schweiz informiert. Seine Frau war nicht erreichbar, der 37-jährige Sohn schon. Man bittet ihn, in Zürich eine Vermisstenanzeige aufzugeben, denn nur wenn eine internationale Suchmeldung laufe, sei es Apple erlaubt, Marthalers Handy zu orten.
Die Polizei nahm die Meldung auf und informierte Sicherheitsdirektor Mario Fehr, dass Kantonsrat Marthaler verschollen sei. Das war am Samstag etwa um 16 Uhr Schweizer Zeit.
Fehr sagt, man habe ihn kontaktiert, weil man von seiner Freundschaft mit ihm wusste. «Ich habe mir grosse Sorgen um Thomas gemacht.» Auch Polizeikommandant Bruno Keller wurde informiert. Als Marthaler das erzählt, schiesst ihm das Blut in den Kopf. Es ist ihm unangenehm, dass er für solche Aufregung sorgte. «Zum Glück gab es dann schnell Entwarnung.»
«Ich muss ziemlich schlimm ausgesehen haben. Sie sind erschrocken.»
Thomas Marthaler
Zwei Stunden ist er den Berg hinuntergerutscht, als er tatsächlich auf einen Weg trifft. Dem folgt er eine weitere halbe Stunde, schliesslich kommt er zu einer Siedlung. Eigentlich wollte er nur möglichst schnell seinen Bruder anrufen, doch ein paar Einheimische umsorgen ihn sofort.
«Ich muss ziemlich schlimm ausgesehen haben. Sie sind richtig erschrocken.» Sie setzen ihn auf ein «Motoconcho» ein Velomofa-Taxi, und fahren ihn zum Haus seines Bruders, wo Polizisten und Sanitäter versammelt sind.
Erleichterung. Es ist sechzehn Uhr, in der Schweiz 22 Uhr. Der Bruder, Hans Marthaler, der selbst Kantonspolizist war, informiert Fehr, dass der Verschollene wohlauf sei. Der wiederum gibt die frohe Nachricht an den Polizeikommandanten weiter: «Ich holte ihn aus dem Bett. Er war auch sehr erleichtert.»
Thomas Marthaler sagt rückblickend: «Als ich in der Nacht dort oben lag, habe ich natürlich auch über das Sterben nachgedacht.» Er habe sich gesagt, wenn es denn sein soll, … es sei eben seine Art, bei der eigenen Sicherheit manchmal etwas nachlässig zu sein. In den Träumen geht ihm das Abenteuer aber nicht nach. «Ich geniesse es einfach noch mehr als früher, wenn ich zu Hause gemütlich im Bett liege.»
Wenn Thomas Marthaler die Bilder von seiner Rückkehr anschaut, wird er schon etwas nachdenklich. Im Spital kontrollierte man den Sauerstoffgehalt des Blutes und hängte ihn an den Tropf, da er total dehydriert war. Die Kratzwunden desinfizierte er bei einem Bad im Meer. Ein paar Narben werden wohl bleiben. Nicht nur an den Beinen. (Helene Arnet)