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Gesellschaft

Sie hat ihr Leben einem Tabuthema gewidmet

Sexologin Esther Elisabeth Schütz gestaltete ihr eigenes Fachgebiet: Dank ihrem Schaffen ist Sexologie heute eine anerkannte Studienrichtung.

Esther Elisabeth Schütz findet es sinnerfüllend, Menschen auf ihrem Weg zu erfüllender Sexualität, Liebe, Lebensfreude und Gesundheit ein Stück zu begleiten. (Archiv)

Foto: PD

Sie hat ihr Leben einem Tabuthema gewidmet

Sexologie-Wegbereiterin

Esther Elisabeth Schütz übt einen Beruf aus, den es ohne sie in dieser Form gar nicht erst gäbe: Im Alter von 74 Jahren praktiziert sie als klinische Sexologin – und will nicht aufhören.

«Nein, wieso machen Sie das?» Mit Fragen wie dieser wurde die klinische Sexologin Esther Elisabeth Schütz konfrontiert, nachdem sie 1998 das Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie (ISP) in Uster gegründet hatte. Ihre Antwort lautete immer gleich: «Weil ich im Bereich der Gesundheitsförderung etwas in die Welt setzen will, das aus meiner Sicht aktuell Sinn ergibt.» Heute gilt sie als Pionierin. Die Ehrenmitgliedschaft im Fachverband Sexologie Schweiz (FSS) kommt nicht von ungefähr.

In ihrer ursprünglichen Tätigkeit als Oberstufenlehrerin an einer Volksschule in Bern bekam Schütz in den 1970er Jahren jugendliche Schwangerschaften und später den Ausbruch der Aids-Epidemie hautnah mit. In den herausfordernden Schicksalen sah sie früh ein tiefes Bedürfnis der Gesellschaft, mehr über Sexualität zu wissen. Denn: «Das Fördern der Aufklärung über Sexualität ist letztlich Prävention», so die 74-Jährige. Sexualpädagogik war dazumal ein fester Bestandteil ihres Unterrichts. Der Bedarf zeigte sich auch, als sie den Unterricht in der Unterstufe aufnahm. Kinder brauchen Wissen, damit sie sich auch vor sexueller Ausbeutung schützen können.

In den 1980er Jahren stieg der Bedarf weiter an. Zwar wurden Geschlechtskrankheiten – insbesondere das HIV-Virus –  ein monströses Thema in der öffentlichen Diskussion, der sexuelle Akt und all die damit verbundenen Fragen Jugendlicher und Erwachsener allerdings nicht. Was Schütz sehr bedauerte. Und was unter anderem zur Gründung des ISP führte.

Zu jener Zeit ist Sexualität für viele immer noch ein Tabuthema. Woran sich laut Schütz bis heute noch vieles nicht geändert hat: «Oft besteht schon sehr lange ein Problem, bis sich Frauen, Männer, Paare für eine Sexualtherapie anmelden.» Sie muss es wissen: Seit 2000 ist sie fester Bestandteil der Ustermer Gemeinschaftspraxis «Die Sexualtherapeutin».

Sexualität ist für die Stabilität einer Beziehung eine genauso wichtige Säule wie die Liebe.

Esther Elisabeth Schütz

Klinische Sexologin ISI und Gründerin des ISP

Für die Sexualtherapie und den ursprünglichen präventiven Gedanken seien die gesellschaftlichen Hemmungen heute wie damals eine hohe Hürde. «Bei einer Depression raten viele, man solle sich Hilfe suchen. Da auch heute noch viele Menschen nicht über ihre Sexualität reden, erfahren sie selten, was eine Beratung bewirken kann.» 

Die meisten männlichen Patienten melden sich heute in die Beratung an aufgrund körperlicher Beschwerden wie Erektionsstörungen oder frühzeitigem Samenerguss. Anders die weibliche Seite: Lustlosigkeit thront auf dem ersten Platz, gefolgt von Orgasmusproblemen und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. 

Er will mehr, sie weniger

Bei Paaren seien die Themen weniger eindeutig. Weswegen Schütz nebst der Arbeit mit dem Paar oft auch mit beiden Parteien einer Beziehung einzeln ein Gespräch führt. «Es gibt immer individuelle Hintergründe eines Problems», so die Sexologin, «und es ist wichtig, dass ich diese kenne, um das Paar in seinem Anliegen gut begleiten zu können.»

Was sich allgemein sagen lasse: Eine unterschiedliche Vorstellung von der Frequenz von Sex sei bei vielen Paaren ein Thema. «Sexualität ist für die Stabilität einer Beziehung eine genauso wichtige Säule wie die Liebe», sagt sie. Die 74-Jährige beobachtet, dass sich heute zunehmend mehr Paare aufgrund ihres Sexlebens trennen, was sie bedauert. Denn wenn die Liebe, wie die Sexologin sagt, wirklich auf einem guten Fundament steht, sei die Sexualität lernbar. Erfahrungsgemäss pendle sich die Frequenz in langjährigen Beziehungen bei manchen bei einem Mal pro zwei Wochen ein.

Genussvolle Sexualität ist laut Schütz nicht so individuell, wie viele denken würden: Sie hängt unter anderem von erlernbaren Faktoren wie der Wahrnehmung des Geschlechts, dem Spiel von muskulärer Spannung und Entspannung sowie der Frage ab: «Wie kann ein Mensch die sexuelle Erregung steigern, sodass sie sich im Körper lustvoll ausbreiten kann, und was hat er bezüglich des erotischen Spiels gelernt?» 

Sexualität sei ähnlich wie der Spracherwerb. «Ist man verliebt, lernt man mit einem Menschen, der in einer andern Sprache kommuniziert, sich schnell zu verständigen, doch erlernen muss man die Sprache selber.» Wer den sexuellen Austausch wirklich geniessen wolle, sei gefordert, in der Selbstbefriedigung selbst Lernschritte bezüglich Sinnlichkeit, Erotik und Sexualität zu machen. «Denn die eigenen erworbenen Fähigkeiten spielen eine zentrale Rolle für die Qualität des sexuellen Austauschs mit einem Gegenüber», sagt die 74-Jährige, die selber in einer langfristigen Beziehung lebt.

Auf Buchpublikation folgt eigener Studiengang

Schütz publizierte im Jahr 2000 einen akademischen Wälzer, getitelt «Praxis der Sexualpädagogik» und geschrieben für Sexualkundeunterricht-Lehrpersonen aller Stufen. Das Buch erhielt Anerkennung: 2001 wurde es einerseits vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) ausgezeichnet, andererseits erhielt es den Schweizer Kinder- und Jugendmedienpreis «Die rote Zora». Fortan publizierte Schütz vermehrt Zeitungsartikel, zwischen 2011 und 2017 des Öfteren auch im «Regio».

Bis heute ist Sexologie nicht als Wissenschaft anerkannt. Sie steht unter der Obhut der Departemente Medizin und Psychologie. Esther Elisabeth Schütz wollte das ändern. Zwischen 2005 und 2008 setzte sie sich hartnäckig für die Formalisierung und Anerkennung der Lehrgänge in Sexualtherapie und klinischer Sexologie ein. «Das war viel herausfordernde Arbeit», sagt sie.

Arbeit, die im Jetzt Früchte trägt. «Investiert man viel und trägt dies Früchte, ist das ein wunderbares Geschenk», sagt die 74-Jährige. Tatsächlich konnte am ISP zuerst ein Diplomlehrgang in Sexualpädagogik durchgeführt werden, in Kooperation mit der Hochschule für angewandte Wissenschaften St. Gallen.

Und seit 2014 wird der Weiterbildende «Master of Arts in Sexologie» unterrichtet, der in Kooperation mit der Hochschule Merseburg in Deutschland angeboten wird. Schütz agiert an beiden Standorten als Dozentin. Die Institutsleitung hat sie mittlerweile an Ben Kneubühler, Psychotherapeut und klinischer Sexologe, abgegeben, der das ISP neben dem Grossmünster in Zürich weiterführt. Über die Nachfolge und das weitere Wachstum der Schule freut sich die Sexologin sehr.

In den 1980er Jahren stellten manche die Arbeit von Schütz infrage. Heute wird sie ab und zu gefragt, weshalb sie die Arbeit als Sexologin, Sexualtherapeutin und Paartherapeutin immer noch ausführt.  Und wieder ist ihre Antwort dieselbe wie am Anfang: «Weil es sinnerfüllend ist, Menschen auf ihrem Weg zu erfüllender Sexualität, Liebe, Lebensfreude und Gesundheit ein Stück zu begleiten.»

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