Sie fühlt sich wieder wie eine Anfängerin
Die ersten Schritte sind gemacht. Fabienne Schlumpf ist auf dem Weg zurück. Das Ziel ist klar: Irgendwann wieder am Start eines Rennens stehen. Wann das sein wird, das ist völlig offen. Am 11. Dezember 2021 lief sie letztmals ein Rennen. Wenig später wurde eine Herzmuskelentzündung diagnostiziert, die eine dreimonatige Sportpause nach sich zog.
Vor knapp drei Wochen hat Schlumpf von ihrer Kardiologin (lesen Sie hier das Interview mit ihr) grünes Licht bekommen und darf wieder trainieren. Respektive: Sich wieder stärker anstrengen. Denn normales Training, davon kann eigentlich keine Rede sein. «Ich bin weit weg von irgendetwas, was man Form nennen könnte», sagt Schlumpf. Im Marathontraining läuft sie in der Spitze über 200 Wochenkilometer, 180 sind der Normalfall. Nun musste sie mit einem Maximum von zehn Kilometern pro Woche beginnen.
«Manchmal schäme ich mich fast, wenn mich die Leute so sehen.»
Fabienne Schlumpf
Logisch also, dass sich die Marathon-12. der Olympischen Spiele von Tokio derzeit wie eine Anfängerin fühlt. Sie ist es eigentlich auch. Nach der langen Pause muss sich ihr Körper wieder an den Laufsport gewöhnen. Gelenke und Bewegungsapparat müssen lernen, die Schläge zu absorbieren. Die Wetzikerin hält sich deshalb an das, was jedem Laien geraten wird, und legt Laufpausen ein. Anfänglich hiess das: Eine Minute laufen, eine Minute spazieren, wieder eine Minute laufen, und so fort.
Unterdessen sind die Laufphasen länger geworden, und Schlumpf freut sich über jeden einzelnen Schritt. Sie kommt sich komisch vor, wenn sie in ihrem Laufoutfit nicht einfach losrennen darf, sondern zum Aufwärmen erst «einspazieren» muss, wie sie es nennt. «Manchmal schäme ich mich fast, wenn mich die Leute so sehen.» Sie sagt das ohne Wehmut, sondern lacht dabei – wie es eben ihrem Gemüt entspricht. Und weil sie schlicht Freude hat, überhaupt wieder rennen zu dürfen, nachdem wochenlang Spaziergänge die grösste Anstrengung sein durften.
Anja Weber kennt dieses Gefühl. Die 20-Jährige Hinwilerin hat quasi acht Monate Vorsprung auf Fabienne Schlumpf. Im Mai 2021 war bei ihr ebenfalls eine Herzmuskelentzündung diagnostiziert worden, knapp vier Monate lang musste sie danach pausieren. Und als sie im August wieder ins Training einstieg, verspürte sie «einfach Freude darüber, dass ich wieder etwas machen konnte».
Zwischen Schlumpf und Weber gibt es Parallelen. Michi Rüegg, der Trainer und Lebenspartner von Schlumpf, ist auch Webers Coach. Er findet die Geschichten der beiden nicht vergleichbar. Weil jeder Mensch anders ist, und in diesem Fall auch, weil Weber zehn Jahre jünger ist als Schlumpf. «Doch es ist für Fabienne mental gut zu wissen, dass es bei Anja gut herausgekommen ist.»
Die Hinwilerin debütierte im Langlauf-Weltcup, nahm an den Olympischen Winterspielen in Peking teil und gewann den U23-Weltmeistertitel über 10 Kilometer im klassischen Stil.
Schlumpf sagt: «Mich motiviert das extrem.» Und Rüegg glaubt, dass ihm die Erfahrung mit Weber nun nützt wenn es darum geht, die Intensität zu steigern oder zu beurteilen, welche Trainings funktionieren und welche weniger. Er sagt aber auch: «Es geht darum auszuprobieren und zu schauen, wie die Athletin reagiert.»
Schlumpf selber dürfte sich selber nicht als sonderlich geduldige Person bezeichnen. Und doch sagt sie in einer Selbstverständlichkeit: «Ich habe keine Erwartungen und keinen Vergleich.» Sie denkt nicht daran, was irgendwann sein könnte, sondern konzentriert sich darauf, was sie jetzt tun muss – und das steht in ihrem Trainingsplan.
«Es geht nicht darum, das Optimum über 42 Kilometer herauszuholen, sondern um die Grundgesundheit.»
Trainer Michi Rüegg
Rüegg schreibt diesen Woche für Woche – wie sonst auch. Aber mit einem anderen Ziel: «Es geht nicht darum, das Optimum über 42 Kilometer herauszuholen, sondern um die Grundgesundheit», sagt der Trainer.
«Er ist der Bremsklotz», sagt Schlumpf – und meint damit Rüegg und den Trainingsplan gleichermassen. Wobei sie sagt: «Ich weiss selber, dass ich mir schade, wenn ich mich nicht an die Vorgaben halte.» Wichtig ist vor allem die ständige Überwachung. Der Pulsgurt ist ein treuer Begleiter – das war er zwar vorher auch schon, «aber nun erhält er mehr Aufmerksamkeit». Taktgeber ist der Puls, nicht die Zeit. Sie ist irrelevant.
 
«Der Blick auf die Pulsuhr gehörte in viel engeren Abständen als üblich dazu», sagt auch Weber. Wobei sie merkte, dass sie sich eigentlich auf ihr Gefühl verlassen kann. «Wenn ich zu spüren glaubte, der Puls sei zu hoch und ich müsse mich zurücknehmen, dann war das auch so», sagt sie.
Die Krux mit dem Gefühl
Selbstverständlich ist das nicht. «Man kann sich nicht aufs Gefühl verlassen», sagt Rüegg, «weil der Körper sich dieses Level nicht gewohnt ist.» Das erlebt auch Fabienne Schlumpf so, die sonst so gerne nach Gefühl läuft und auch Erfolg damit hat.
Sie beschreibt ihr Empfinden derzeit aber auch als mulmig. «Ich muss das Vertrauen wieder finden», sagt sie. Sie hat Respekt davor, dass sie nicht merken könnte, wann es zuviel ist. Und wenn man hört, wie Schlumpf ihren Fitnessstand beschreibt wird klar, wie sehr das Gefühl täuschen kann: «Derzeit habe ich bei einem Tempo von sechs Minuten pro Kilometer denselben Puls wie normalerweise bei vier Minuten pro Kilometer.»
Sie kann Vertrauen daraus schöpfen, dass ihr Blut wöchentlich analysiert wird. Ist dabei alles normal, weiss sie, dass es richtig ist, was sie macht. Das war bei Weber nicht anders. «Ich musste mich auf die Ärzte verlassen – und als ich von ihnen das okay erhielt, konnte ich sicher sein, dass alles gut ist.»
Vernarbungen, welche die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen und ein gesundheitliches Risiko darstellen könnten, wurden an ihrem Herzen keine festgestellt. Alle Indikatoren waren stabil. Und als sie über zwei Monate nach dem Wiedereinstieg ins Training auf der zweithöchsten Intensitätsstufe angelangt war, wurde auch das Wettkampf-Comeback konkret.
«Der Rang war mir dermassen egal. Meine Freude war riesig.»
Anja Weber
Am 4. Dezember war es soweit, am Continental Cup im Goms. «Viele wollten mich danach aufmuntern und sagten, dass es dann schon wieder bessere Ränge würden. Doch der Rang war mir dermassen egal. Meine Freude war riesig», erinnert sie sich. Wettkampfhärte und hochintensive Trainings fehlten ihr da. Umso erstaunlicher, was sie danach für eine Steigerung hinlegte. «Ende Dezember war ich wieder auf einem Top-Level.»
Nicht als Touristin laufen
Auch Schlumpfs Herz weist keine Vernarbungen auf. Und doch ist das Wettkampf-Comeback noch in weiter Ferne. «Solange ich nicht normal trainieren kann, spielt das auch keine Rolle», sagt sie. Langsam darf sie Intensität und Umfänge steigern. Dass sie Geduld benötigt, weiss sie. Auch wenn sie natürlich Lust auf Läufe verspürt.
Sie vermisst die Emotionen, ihr fehlt die Atmosphäre. «Es fühlt sich einfach schön an, mit anderen zusammenzukommen und gemeinsam am Start zu stehen.» Doch wenn sie wieder einsteigen will, dann nicht «halbbatzig als Touristin». Sondern richtig. «Vielleicht liegt ja ein cooler Herbstmarathon drin. Es ist ja das ganze Jahr lang Marathonsaison.»
