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Der Herr des Berges

Tobias Bührer hat vor zwei Jahren sein Schlagzeug gegen Heugabel und Käserschürze eingetauscht. Seither meistert der ehemalige Musikpädagoge aus Effretikon als Bergbauer den Alltag auf einer Alp im Tessin.

Tobias Bührer mit Leitgeiss «Paola». , In Odro dreht sich vieles um die Ziegen, deren Milch und Fleisch einen grossen Teil der Speisekarte ausmachen. , Auch junge Zicklein sind in Odro zu Hause..., ... genauso wie Hahn Caruso und seine Damen., Sogar beim Duschen hat man einen wundervollen Blick ins Tal. , Bührers Agrotourismusbetrieb bietet insgesamt 23 Schlafplätze., Neben einem Massenlager gibt es in Odro auch zwei «Rustici», die man mieten kann.

PD

Der Herr des Berges

Seit das kleine tessiner Dörfchen Lavertezzo vor zwei Jahren durch einen Medienhype als  «mediterrane Seele der Schweiz» oder als «Malediven von Mailand» bekannt wurde, strömen an schönen Tagen hunderte von Selfie-Knipsern und Möchtegern-Influencern ins Verzascatal, um sich vor der «Ponte dei salti» und dem kristallklaren Wasser abzulichten. 700 Höhenmeter weiter oben am Berg liegt Odro. Nur durch eine zweistündige Wanderung erreichbar, ist man hier vor Hashtags und Gucci-Täschli sicher.

Odro ist das Reich von Tobias Bührer. Vor zwei Jahren hat der Effretiker seine Zelte im Unterland abgebrochen und seinen Beruf als Musikpädagoge an den Nagel gehängt, um als Bergbauer einen Neustart zu wagen. «Seit der Übernahme kamen schon ein paar Mal Zweifel auf, ob es doch die richtige Entscheidung war», sagt er. «Die Komplexität des Ganzen hatte ich unterschätzt.»

«Ich habe mehr Berufe, als man an zehn Fingern abzählen kann.»

Tobias Bührer, Bergbauer und vieles mehr

Das Ganze – das sind neben einem Biobauernhof, einer kleinen Gastwirtschaft, einem Agrotourismusbetrieb mit 23 Schlafplätzen und einem grossen Gemüsegarten auch Hahn Caruso mit seinen fünf Damen, zwei Esel sowie 17 Ziegen. «Ich habe mehr Berufe, als man an zehn Fingern abzählen kann», meint der  47-Jährige. «Einer Besucherin habe ich sogar schon die Schuhe geflickt.» Alles unter einen Hut zu bringen, sei schwierig. «Da kommt man manchmal schon ins Rudern.»

Im Herbst 2016 war er zum ersten Mal in Odro. «Wie ich überhaupt auf diesen Ort aufmerksam geworden bin, weiss ich gar nicht mehr – eigentlich wollten wir ja im Engadin wandern gehen, aber dort lag zu viel Schnee.» In Odro angekommen, fand er im Gespräch mit dem damaligen Eigentümer der Häusergruppe heraus, dass dieser seinen Betrieb einem Nachfolger übergeben wollte. «Ich war auf der Suche nach etwas Neuem.» Die Entscheidung, im Tessin ein neues Abenteuer zu wagen, fiel danach schnell.

«Ich wollte nicht aus meinem alten Leben raus, sondern in erster Linie in ein neues Leben rein.»

Tobias Bührer, Bergbauer

Wer ihn als Aussteiger bezeichnet, wird jedoch zurechtgewiesen. «Ich stolpere ja nicht im Lendenschurz durch den Wald und esse Beeren», sagt er gespielt entrüstet. «Ich wollte nicht aus meinem alten Leben raus, sondern in erster Linie in ein neues Leben rein.» Und seine Partnerin zog mit. Die 46-Jährige arbeitet Teilzeit in einem Zürcher Spital und an ihren freien Tagen in Odro. «Wir haben zwar immer wieder Helfer, die uns für einige Zeit unter die Arme greifen, doch wenn sie nicht da ist, dann merkt man das», sagt Bührer.

Am 1. August 2017 haben die beiden den Betrieb offiziell übernommen. «Wir mussten von einem Tag auf den anderen die Ziegen versorgen, die Gäste bewirten, käsen, putzen – alles gleichzeitig. Wir sind von null auf 10’000 gestartet.» Mittlerweile sind sie ein eingespieltes Team, haben innert zwei Jahren 24 Zicklein auf die Welt geholfen und schon Kiloweise Ziegenkäse hergestellt.

«Nur Bücher über das Käsen zu lesen, bringt wenig – man muss spüren lernen.»

Tobias Bührer, Bergbauer

Um das Käserhandwerk zu erlernen, nahm Tobias Bührer in Monika und Koni Schupplis «Geisse-Chäsi» in Girenbad Unterricht. «Nur Bücher über das Käsen zu lesen, bringt wenig – man muss spüren lernen.» Fast alles was in Odro produziert wird, bleibt auch in Odro: der Geissenkäse, die Gonfi, das Gemüse aus dem Garten und nicht zuletzt das Odrobier, das er selber braut.

Seine Gäste kommen aus ganz Europa auf der Suche nach Ruhe. Viele Besucher aus dem Oberland reisen aber auch gezielt wegen Tobias Bührer nach Odro. So haben unter anderem schon seine ehemalige Lehrer und der Illnau-Effretiker Stadtpräsident Ueli Müller der Alp Besuche abgestattet.

Unterstützung erhält er aber nicht nur aus dem Unterland. Auch im Verzascatal ist man den Zugezogenen wohl gesinnt. «Als ich mich im Gemeindehaus anmelden wollte, hat der Gemeindeschreiber gleich Duzis mit mir gemacht», erzählt Bührer. «Alle haben Freude, dass es mit Odro weitergeht.»

So rosig ist das Leben auf der Alp aber nicht immer. «Wenn es drei Wochen regnet, haben wir drei Wochen keine Gäste.» Im letzten Frühling löste sich gar eine Lawine unweit der Häusergruppe. «Wir lagen im Bett und konnten nur noch beten, dass wir nicht getroffen werden.» In der ersten Saison blieb er noch  den ganzen Winter auf dem Berg.

«Da ging es mir gar nicht gut. Ausser Geissen melken und Schnee schaufeln hatte ich nichts zu tun. Das war mein Tiefpunkt.» Darum gab er im letzten Winter seine Tiere einem Bauern im Tal in die Obhut – doch nicht nur der finanzielle Preis dafür war hoch.

«Wenn ein Tier krank ist, dann leide ich mit. »

Tobias Bührer, Bergbauer

Die Ziegen der einheimischen Rasse Nera Verzasca kehrten im Frühling teilweise krank zu ihm zurück, das Lieblingsgeissli «Theresli» starb kurz darauf sogar. «Und fast die Hälfte aller schwangeren Ziegen hatten Aborte», sagt Bührer traurig. Darum sucht er nun nach einem Plätzchen, wo er gemeinsam mit seinen Tieren überwintern kann. «Wenn ein Tier krank ist, dann leide ich mit. Da ich nicht einfach einen Tierarzt aufbieten kann, muss ich selber früh erkennen, ob mit einem Tier etwas nicht stimmt.» Diese Verantwortung sei eine grosse Herausforderung. «Es ist anstrengend, aber die Tiere geben mir so viel zurück.»

Und trotzdem: Auch die Ziegen landen früher oder später beim Metzger. Den Weg ins Tal legen die Tiere sogar zu Fuss zurück. «Der Abschied von den Tieren fällt dann schon schwer», gibt Bührer zu. Aber so sei das nun mal. «Und etwas später trage ich die Salametti dann wieder im Rucksack hoch nach Odro.»

Ein Leben inmitten der Natur: Umgeben von Eidechsen am Tag und Glühwürmchen in der Nacht, sogar ein Steinadler-Paar zieht manchmal seine Kreise über dem Gebiet. Jeden Tag nimmt sich Tobias Bührer Zeit, um seine Umgebung bewusst wahrzunehmen. «Wenn ich jeweils am Morgen meinen Mate-Tee trinke und auf den Verzasca-Stausee und den Lago Maggiore ins Tal blicke, dann denke ich schon: huere geil.» Ob er nichts vermisse? «Wenn es so heiss ist, würde ich gerne einmal ein Glacé essen», gibt er zu. «Aber sonst? Nein.»

Odro liegt in der Gemeinde Vogorno, unweit von Lavertezzo. Weitere Informationen auf der Website www.odro.ch.

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