«Männer nehmen sich aus Rücksicht oft zu sehr zurück»
Grande Dame der Sexualtherapie
Esther Elisabeth Schütz erzählt, was in Schweizer Betten los ist. Und weshalb Männer auch in der heutigen Zeit aktiv versuchen sollten, Frauen zu verführen.
Sie gilt als die Grande Dame der Schweizer Sexualtherapie. Esther Elisabeth Schütz wird dieses Jahr 75 Jahre alt – und denkt noch längst nicht ans Aufhören. In ihrer Praxis in Uster verhilft sie noch immer Paaren und Einzelpersonen jeden Alters zu einem erfüllten Sexualleben. Sorgen bereiten ihr junge Männer, die zunehmend wegen Lustlosigkeit und Potenzproblemen zu ihr kommen. «Da ist in unserer Gesellschaft etwas aus dem Lot geraten», sagt sie. Auch ältere Paare suchten oft ihre Hilfe.
Frau Schütz, es heisst, die Menschen heute, vor allem die Jungen, hätten weniger Sex als früher. Ist da etwas dran?
Es gibt einige Studien, die das besagen. Aber ein Vergleich ist schwierig. Was klar ist: Heute besteht ein riesiges Angebot, um seine Sexualität auszuleben. Dies führt erstaunlicherweise nicht zu mehr sexuellem Austausch.
Was für ein Angebot meinen Sie?
Die Vielfalt der Spielarten, um die Sexualität auszuleben. Und man kann heute offen polyamor sein, eine Dreiecksbeziehung haben oder vieles mehr. Hinzu kommt die gesellschaftliche Akzeptanz für Geschlechtsidentitäten wie trans oder nonbinär. Wir haben diesbezüglich in den letzten Jahren einen Schub erlebt, ähnlich der 68er-Bewegung.
Diese Vielfalt an Möglichkeiten hemmt eher?
Sie macht das Leben nicht einfacher, vor allem für Jugendliche, die ihre Identität suchen und Fragen stellen wie «Wer bin ich?» oder «Was will ich?». Weil heute fast alles erlaubt oder gar gewünscht ist, fehlt zudem die Spannung des Verbotenen, die bei der Identitätsfindung, der Ablösung vom Elternhaus und der Sexualität oft eine wichtige Rolle einnimmt.
Grundsätzlich ist es doch nicht schlecht, wenn die Sexualität in ihren unterschiedlichen Spielformen enttabuisiert wird?
Stimmt. In der Praxis zeigt sich aber, dass dies viele überfordert. Interessanterweise träumt noch immer die grosse Mehrheit der Menschen, auch der Jugendlichen, von der ewigen Liebe, von einer Familie – trotz all der neuen Möglichkeiten. Der Mensch möchte langfristig aufgehoben sein, lieben und geliebt werden. Dieser tief liegende Wunsch steht in einem Spannungsfeld zu all den Angeboten, bei denen die langfristige Bindung oft keine grosse Rolle spielt. Durch die Vielfalt an Optionen haben viele Jugendliche auch Mühe, sich festzulegen, und gehen vermehrt unverbindliche Beziehungen ein wie unter anderem «Freundschaft plus».
Geändert hat sich auch, wie man eine Partnerin oder einen Partner findet: Heute geht fast alles über das Internet.
Dadurch wird der erste Teil des Kennenlernens übersprungen, also das physische Werben um eine Person. Ich finde das schade. Die Verführungskompetenz hat dadurch klar abgenommen. Interessanterweise gibt es einen Gegentrend: In Städten werden vermehrt Datinganlässe organisiert, bei denen man sich wieder real kennenlernt.
Doch auch die sind organisiert. Dass man sich am Arbeitsplatz oder im Verein näherkommt, dürfte auch durch die #MeToo-Debatte schwieriger geworden sein: Niemand möchte, dass eine Annäherung als Belästigung oder Übergriff wahrgenommen werden könnte.
Bei Kampagnen gegen sexuelle Belästigung geht es immer darum, Grenzen aufzuzeigen. Frauen können Nein sagen, Belästigung wird heute als solche benannt und geahndet. Das ist grundsätzlich positiv. Die Kehrseite dieser Errungenschaft aber ist, dass die Erotik im Alltag, auch im Arbeitsalltag, verloren geht.
Sie plädieren für mehr Büroflirts?
Erotik ist eine wichtige Antriebsfeder, auch am Arbeitsplatz. Das Spiel zwischen Menschen und den Geschlechtern macht Freude und kann Kräfte entfalten, selbst wenn dann nichts daraus entsteht. Dieser inspirierende Teil ist im Arbeitsalltag leider fast verschwunden.

In den 25 Jahren als Sexualtherapeutin haben Sie immer mal wieder mit provokanten Aussagen für Schlagzeilen gesorgt. Ich habe drei herausgesucht. Stehen Sie heute noch dazu? Erste Aussage: «Männer sollten stehen beim Pinkeln, das stärkt ihre Männlichkeit.»
Ich rede aus der Sicht der Sexualtherapeutin. Die Beziehung zum Penis ist für die Männlichkeit zentral. Beim Pinkeln im Stehen nehmen die Männer ihren Penis in die Hand, sie sehen ihn. Im Sitzen ist dies nicht der Fall. Da heute viele Männer auch beim Onanieren den Penis und den Samenerguss nicht sehen, weil sie zudem auf das Handy schauen, wo ein Porno läuft, verlieren sie den Bezug. Dies hat Auswirkungen auf die Sexualität in der Paarbeziehung und auf die Potenz. Das würde ich also heute noch genau gleich sagen.
Zweite Aussage: «Man muss sich Sorgen machen, wenn ein Mann sich nicht mehr getraut, einer Frau nachzuschauen und einen verstohlenen Blick aufs Dekolletee zu werfen.»
Männer reagieren stärker auf visuelle Reize als Frauen. Früher galt es auch als Kompliment, wenn ein Mann nicht nur in die Augen geschaut hat, sondern auch auf die Brüste, die Taille oder den Hintern, natürlich mit dem nötigen Respekt. Davon sind wir weggekommen. Es ist dasselbe Thema wie das Flirten am Arbeitsplatz: Die Geschlechter müssen wieder neue Wege finden, das Spielerische und Unbeschwerte im Umgang miteinander zurückzugewinnen. Denn das macht das Leben spannend.
Wie soll das gehen?
Es beginnt damit, dass man wieder anerkennt, dass es eine Differenz gibt zwischen den Geschlechtern. Männer und Frauen sind unterschiedlich. In der Medizin gibt es immer neue Erkenntnisse, dass Frauen und Männer anders auf Medikamente reagieren, das ist sehr wichtig und breit anerkannt. Im Sozialen aber negiert man die Unterschiede zunehmend. Dabei ist die Differenz oft gerade das, was eine Beziehung ausmacht: Die Neugier an der Andersartigkeit ist in der Erotik ein wichtiger Aspekt. Es ist spannend, dass Männer und Frauen zum Teil sehr unterschiedlich sind.
Dritte Aussage: «Ich frage mich eher: Welcher Mann geht nicht ins Bordell?»
In welchem Zusammenhang habe ich das gesagt?
Sie gaben 2010 ein Interview zu einer Studie, die besagte, dass 70 Prozent der Männer schon einmal im Bordell waren. Sie zeigten erstaunlich viel Verständnis für die Männer.
Ich glaube nicht, dass es um Verständnis geht, sondern wie man damit umgeht. Dass so viele Männer schon einmal eine Prostituierte besucht haben, ist nun mal eine Tatsache – diese Zahl dürfte sich auch kaum verändert haben. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir alle Männer verurteilen. Interessanter wäre, sich die Frage zu stellen, wieso so viele Männer Prostituierte aufsuchen.
Wie lautet Ihre Antwort?
Die Gründe sind sehr individuell. Manche haben ihre Potenzfähigkeit gekoppelt an die emotional hohe Spannung, das vermeintlich Verbotene, das Unbekannte. Andere haben im Jugendalter damit begonnen und kommen ohne Beratung auch nicht mehr davon los. Für manche ist es einfacher, sich den Kick auf diese Weise zu holen, als zu Hause die Frau zu verführen, die so oft nicht will. Folgendes verbindet die meisten Männer: Die Sexualität, die Potenzfähigkeit spielt für sie eine wichtige Rolle, sie ist an ihre Identität gekoppelt.
Was raten Sie diesbezüglich?
Das Mindeste, was Paare vereinbaren sollten, lautet: «Wenn jemand externen Sex hat, schützt man sich.» Dies wird aber kaum gemacht, weil die meisten Leute denken, dass dadurch das Fremdgehen legitimiert wird. Deshalb vereinbaren sie lieber, dass sie überhaupt nicht fremdgehen oder dass sie es einander offenlegen. Bloss funktioniert beides selten.
Es tönt aber schon nach einer Legitimierung, wenn man vereinbart, dass man sich beim Fremdgehen schützt.
Nein, es geht darum, dass ich in der Sexualtherapie immer wieder Männer höre, die fremdgehen, ohne sich zu schützen. Deshalb bin ich der Meinung, dass Paare sich darauf verständigen sollen: «Wir wollen nicht, dass wir je fremdgehen, sollte es trotzdem passieren, vereinbaren wir, dass wir je die Verantwortung dafür übernehmen und uns schützen.»
Was auffällt: Ihre Aussagen sorgten meistens dann für Schlagzeilen, wenn Sie männliches Verhalten verteidigten. Unsere Gesellschaft scheint ein Problem zu haben mit der Männlichkeit.
In den letzten Jahrzehnten hat sich das Männerbild in unserem Kulturkreis stark verändert, oft zum Guten: Es gibt zum Beispiel immer mehr Väter, die auch Verantwortung bei der Kinderbetreuung und im Haushalt übernehmen. Gleichzeitig hat der Druck, Karriere zu machen, Sport zu treiben und so weiter, zugenommen. Man spricht oft von der Überforderung der Mütter, bei den Vätern ist das Problem aber genauso ausgeprägt. Ich merke das in meiner Praxis: Früher war vor allem die Lustlosigkeit bei Frauen ein Thema, nun kommen immer mehr Männer deswegen zu uns.
Was kann man dagegen tun?
Wenn die Frau keine Lust hat, nimmt sich der Mann heute aus Rücksicht oft zurück. Er hat gelernt, die eigenen Bedürfnisse zurückzustecken. Dies ist langfristig eine falsche Rücksicht. Wenn der Mann bei der ersten Hürde gleich aufgibt, so fühlt sich die Frau am Ende nicht mehr begehrt. Frauen ist es aber wichtig, das Gefühl zu haben, sexuell begehrt zu werden. Ich habe oft Paare in Therapie, bei denen er sagt, er habe sich jahrelang aus Rücksicht zurückgenommen, sie aber findet, sie hätte sich immer wieder gewünscht, dass er die Initiative ergreift. Das ist dann bitter.
Das hat aber noch nichts mit männlicher Lustlosigkeit zu tun.
Doch. Wenn der Mann sich zurückzieht, schwindet auch bei ihm oft die Lust. Er ist frustriert, fokussiert auf das, was er schon kennt: Er tummelt sich im Feld der Pornografie, wo er alle möglichen sexuellen Spielarten ohne jeglichen Aufwand serviert bekommt. Damit kann und will die Frau zu Hause nicht mithalten.
Nicht bei der ersten Hürde gleich aufzugeben, widerspricht der «Nein heisst Nein»- oder «Nur Ja heisst Ja»-Regel, die heute propagiert wird.
Es geht nicht darum, dass er sie drängt, sondern darum, dass in diesem Fall der Mann aktiv verführt. Das ist eine Kompetenz, die in unserem Kulturkreis zunehmend verloren geht. Selbstverständlich braucht es am Ende die Zustimmung des Gegenübers.

Wenn Paare zu Ihnen kommen, die schon 20 oder 30 Jahre zusammen sind, was sind deren häufigste Probleme?
Auffallend ist, dass immer mehr Paare, die sich lieben, eine Trennung wegen unterschiedlicher Vorstellungen über Sexualität in Betracht ziehen. Oft liegt dies daran, dass sie nicht gewillt sind, an sich zu arbeiten. Viele Leute glauben, dass man sich in der Sexualität nur dahin gehend weiterentwickeln kann, dass man neue Stellungen ausprobiert oder Hilfsmittel beizieht, also technisch dazulernt. Dass der sexuelle Austausch lernbar ist – dazu gehört unter anderem, Emotionen und sexuelle Erregung zu verbinden –, wissen viele nicht. Langjährige Beziehungen, bei denen sonst eigentlich viel stimmt, gehen deswegen zu Bruch. Das ist bedauerlich.
Wie wichtig ist die Sexualität in langfristigen Beziehungen überhaupt? Ist es nicht in Ordnung, wenn man im Alter irgendwann findet, dass man das nicht mehr braucht?
Man könnte auch fragen: Weshalb soll man sich im Alter noch bewegen, wandern gehen, etwas Krafttraining machen? Weil es einem guttut, das Wohlbefinden stärkt. Das gilt auch für die Sexualität. Und wie bei der sportlichen Betätigung gilt auch hier: Wenn Sie mal aufhören damit, ist es nicht einfach, damit wieder anzufangen. Fast alle Fähigkeiten nehmen ab, wenn wir sie nicht trainieren. Das gilt auch für die sexuelle Erregung und den Orgasmus. Grossartig finde ich, wenn sich Menschen auch in der Sexualität weiterentwickeln wollen. Ich hatte kürzlich ein Paar, beide 70 Jahre alt, das seine Sexualität wieder beleben wollte.
Kann eine Beziehung ohne Sexualität funktionieren?
Ich würde als Sexologin sagen: eigentlich nicht. Wenn ein Paar sagt, es habe sich entschieden, die Sexualität nicht mehr zu leben, stelle ich zwei Fragen: «Wie alt sind Sie?» und «Haben wirklich beide so entschieden?». Aus Erfahrung mit Hunderten von Paaren kann ich sagen: Ganz darauf zu verzichten, klappt selten, weil in der Regel zumindest bei einer Person der Motor, der Wunsch nach sexuellem Austausch, weiterläuft. Eine Paarbeziehung gänzlich ohne Sex kann in der Regel nur dann funktionieren, wenn die körperliche Nähe im Alltag gelebt wird.
Reagieren Frauen und Männer unterschiedlich, wenn ihr Partner oder ihre Partnerin fremdgeht?
Es ist aktuell nicht mehr populär, die Unterschiede von Mann und Frau hervorzuheben. Ich tue es hier trotzdem. Männer können Sex und Liebe tendenziell besser trennen als Frauen. Dadurch nehmen sie auch das Fremdgehen unterschiedlich wahr. Der Mann reagiert gekränkt, wenn die Frau fremdgeht. Er befürchtet, dass der andere der bessere Liebhaber war als er. Je mehr Details er erfährt, was der andere geboten hat, desto schlimmer wird es. Die Kränkung kann heftig sein, doch in der Regel fokussieren Männer bald wieder nach vorne. Bei Frauen ist das häufig anders, sie fühlen sich durch das Fremdgehen des Mannes viel mehr auf der Liebesebene getroffen. Sie brauchen länger, bis die Enttäuschung verheilt.
Heute ist viel von Polyamorie die Rede, dass man mehrere Personen liebt, oder von offenen Beziehungen. Kann das langfristig funktionieren?
Zuerst möchte ich etwas klarstellen. Heute sagen Leute oft: «Ich bin polyamor», als sei dies eine angeborene Eigenschaft. Dies ist aber per se falsch, niemand ist polyamor geboren. Polyamorie ist eine Beziehungsform, die Menschen bewusst gestalten. Das heisst, man kann sich immer wieder neu entscheiden, wie man sie gestalten will. Zu Ihrer Frage: Mehrfachbeziehungen funktionieren langfristig nur selten. Manche Paare haben ein gemeinsames Haus oder eine gemeinsame Wohnung, Kinder, ein Haustier, Schwiegereltern, einen Job und so weiter. Wie soll man da die zeitlichen, finanziellen und emotionalen Ressourcen finden für mehrere Partnerschaften? Bei offenen Beziehungen zeigt sich meistens: Nach einer gewissen Zeit will das eine Person von beiden nicht mehr, aus meiner therapeutischen Erfahrung häufiger die Frau.
Was sind die wichtigsten Voraussetzungen, damit eine Beziehung ein Leben lang hält?
Zentral ist, dass sich ein Mensch geliebt und aufgehoben fühlt und lieben kann. Dies bedeutet körperlicher Austausch der Nähe im Alltag, sich dem Gegenüber mit den ganz persönlichen, tiefen Gefühlen anzuvertrauen. Vorbehaltlose gegenseitige Wertschätzung des Andersseins, Anerkennung der Fähigkeiten, endlose Neugier füreinander, gemeinsame Projekte. Und, ganz wichtig: sich selbst und das Gegenüber lebenslang attraktiv finden, einander erotisch begehren und den sexuellen Austausch spielerisch gestalten.