Gesellschaft

Heroingestützte Behandlung – eine Schweizer Pionierleistung

Seit 30 Jahren gibt es in der Schweiz die heroingestützte Behandlung für Suchtkranke. Diese Therapieform ist eine revolutionäre Leistung.

Offene Drogenszene auf dem Platzspitz-Areal in Zürich, aufgenommen im Juni 1990. (Archiv)

Foto: Keystone/Martin Ruetschi

Heroingestützte Behandlung – eine Schweizer Pionierleistung

Revolutionäre Therapieform

Seit 30 Jahren wird in der Schweiz die heroingestützte Behandlung praktiziert. Ein Fachmann erklärt, weshalb dieses «Jubiläum» gleichzeitig ein Weckruf ist.

Die meisten Menschen haben vermutlich nur noch verschwommene Erinnerungen an die offene Drogenszene in Zürich. Mit der Räumung des Letten-Areals 1995 verschwand die Drogenszene aus der Öffentlichkeit.

«Damit sind die Menschen mit einer Opioidabhängigkeit leider auch aus dem Bewusstsein der Bevölkerung verschwunden», sagt Philip Bruggmann. Er ist Co-Chefarzt Innere Medizin beim Arud Zentrum für Suchtmedizin in Zürich.

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Die Menschen mit Suchterkrankungen hingegen verschwanden nicht einfach von selbst: Sie wurden und werden von der Stadt, auf Kantons- und schliesslich auch auf Bundesebene begleitet. Und seit 30 Jahren gibt es eine heroingestützte Behandlung in der Schweiz.

Früher konzentrierte man sich darauf, Suchterkrankte von ihrer Abhängigkeit wegzubekommen, wenn Prävention und Früherkennung nicht fruchteten. «Durch Forschung und Erfahrungswerte zeigte sich, dass ein grosser Teil es gar nicht schafft, vollständig von Heroin oder anderen Substanzen wegzukommen», erklärt Philip Bruggmann. Nur etwa einem Viertel würde ein definitiver Absprung gelingen.

«Findet ein Entzug gegen den Willen der betroffenen Person statt, kann dies häufig zu Todesfällen führen.» Durch die Abstinenz geht die Gewöhnung des Körpers an die Substanz verloren. «Wird der Patient rückfällig, führt bereits eine geringe Ration zur lebensbedrohlichen Überdosis.»

Die Erfahrung hat also gezeigt, dass ein totaler Entzug nicht immer der richtige Weg ist. Nach der Räumung der öffentlichen Drogenszene fand schliesslich ein Umdenken statt. Zuerst mit der 3-Säulen-, seit Ende der 1980er Jahre mit der 4-Säulen-Politik. Mit der dritten Säule soll eine sogenannte Schadensminderung erreicht werden. «Hier geht es ums Überleben der abhängigen Person.»

Die 4-Säulen-Politik

1. Säule: Gesundheitsförderung, Prävention und Früherkennung

2. Säule: Therapie und Beratung

3. Säule: Schadensminderung und Risikominimierung (kam erst Ende der 1980er Jahre hinzu)

4. Säule: Regulierung und Vollzug

Zu diesem Zweck wurden in der Nähe von Hotspots Kontakt- und Anlaufstellen eingerichtet. Das sind Konsumräume, in denen Substanzen in einer sicheren Umgebung mit sterilem Material konsumiert werden können und auch eine basale Betreuung stattfindet. Mit der basalen Betreuung sollen Menschen so gefördert werden, dass sie sich selbst und ihre Umgebung besser wahrnehmen können.

In medizinischen Einrichtungen, wie zum Beispiel dem Arud Zentrum, werden neben der psychiatrischen und der hausärztlichen Versorgung auch Opioide wie Heroin, Methadon und Morphin verschrieben und abgegeben.

Solche Einrichtungen sind gemäss Bruggmann von immenser Bedeutung. «Es braucht einen ganzen Strauss an Angeboten, damit die Drogenabhängigkeit nicht wieder zu einem Problem im öffentlichen Raum wird.»

Der Ursprung der heroingestützten Behandlung

Die kontrollierte Abgabe von Heroin oder anderen Opioiden sollte sich nicht nur als Schadensminderung, sondern auch als erfolgreiche Therapieform erweisen. 1994 ursprünglich als wissenschaftlicher Versuch lanciert, etablierte sich die heroingestützte Behandlung bald als «Goldstandard».

Diese Bezeichnung hat die Behandlung bekommen, weil sie sich als langfristig erfolgreich erwies: «Die Todesfälle und die schweren körperlichen Schäden gingen massiv zurück.»

Gemäss Philip Bruggmann handelt es sich im Prinzip um nichts anderes als eine medikamentöse Behandlung einer dauerhaften Erkrankung. Das «Medikament» ist in diesem Fall oft Morphin oder Methadon. Schlagen diese Substanzen nicht an, bringt der Einsatz von Heroin vielfach den gewünschten Erfolg.

Man sieht die offene Drogenszene am Letten in Zürich.
Die Drogenszene auf den Schienen am Lettensteg in Zürich, aufgenommen im Juli 1993. (Archiv)

Mit dieser Therapieform soll erreicht werden, dass der Patient sowohl gesundheitlich als auch psychisch, sozial und gesellschaftlich möglichst wenig Schaden nimmt.

Sprich: Der Abhängige kann nach sorgfältiger Dosierung der Substanzen wieder sozialen und gesellschaftlichen Pflichten nachkommen. «Viele Patienten können mittels einer dauerhaften Therapie wieder stark Fuss fassen», erzählt der Arzt, «manche können einem Job nachkommen, eine Familie haben.»

Trotz Langzeitrisiken würden mit der richtigen Dosierung relativ wenige körperliche Schäden entstehen. «Medizinisch begleitet, sind diese Suchtmittel sogar weniger gefährlich als Rauchen oder Alkohol», weiss Philip Bruggmann. «Es gibt Suchterkrankte, die jahrelang bis an ihr Lebensende Methadon, Morphin oder Heroin verabreicht bekommen.»

Die Schweiz leistete Pionierarbeit mit dieser bis dahin umstrittenen Therapieform. «Durch Studien und Forschungsprojekte konnte die Wirksamkeit dieser Behandlung wissenschaftlich hinterlegt werden», so Bruggmann. Deshalb wurde sie 2009 im Rahmen der Betäubungsmittelrevision verankert. Unter strengen Auflagen, versteht sich.

Hürden erschweren lebenswichtige Therapie

Der Patient muss nachweislich zwei erfolglose Behandlungsversuche mit anderen Opioiden gehabt haben, ehe ihn sein Arzt für eine heroingestützte Behandlung anmelden kann.

Etwa zwei Wochen dauere es dann, bis der behandelnde Arzt die Bewilligung vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) erhalte. «Eine lange Wartezeit, wenn es oftmals um Leben und Tod geht.»

Während sechs Monaten muss die suchtabhängige Person täglich in ein entsprechendes Zentrum kommen, um die entsprechende Dosis einzunehmen. Bleibt der Patient nach diesem halben Jahr stabil und kann auf sich und seine Medikamente aufpassen, liegt es im Ermessen des Arztes, eine Medikamentendosis für bis zu einer Woche mitzugeben.

Diese Entscheidungsfreiheit hätten Ärzte seit der Pandemie. Doch viele Abgabezentren würden weiterhin auf eine tägliche Konsultation beharren.

«Aus medizinischer Sicht ist dies nicht gerechtfertigt.» Bruggmann spricht damit die Gesundheitskosten, aber auch die Stolpersteine bei der sozialen Integration an: «Die Abgabezentren befinden sich nur in grösseren Städten. Patienten von ausserhalb ist es kaum möglich, neben der täglichen Visite einem Vollzeitjob nachzugehen.»

Der Experte ist sich der grossen Verantwortung bewusst, die ein behandelnder Arzt trägt: «Man muss klar differenzieren und Regeln festsetzen, wem man die Substanz mitgeben kann, wer verantwortungsvoll damit umgehen kann.»

Man sieht Philip Bruggmann, den Co-Chefarzt des Arud Zentrums für Suchtmedizin.
Philip Bruggmann, Co-Chefarzt beim Arud Zentrum für Suchtmedizin.

Philip Bruggmann ist überzeugt, dass eine Befreiung der heroingestützten Behandlung von den einschränkenden gesetzlichen Auflagen dringend notwendig ist. Dieses Ziel werde auch aus Fachkreisen vom BAG unterstützt.

Er macht sich allerdings keine grossen Hoffnungen darauf, in der aktuellen politischen Lage etwas zu erreichen. Vor allem rechtspolitische Seiten würden diese Behandlungsform noch immer anzweifeln.

«Es besteht nach wie vor der Irrglaube, alle Menschen mit einer Abhängigkeit müssten eine Abstinenz erreichen.» Skeptiker befürchteten, dass die Substanzen missbraucht würden oder auf dem Schwarzmarkt landen könnten.

68 Prozent der Schweizer Bevölkerung stimmten im Jahr 2008 dafür, die Heroinabgabe in der Verfassung zu verankern. Weil es aktuell kaum mehr eine offene Drogenszene gebe, sei diese Thematik allerdings vom Sorgenbarometer verschwunden. «Aus den Augen, aus dem Sinn.»

«Wer allerdings die Zeit auf dem Platzspitz oder auf dem stillgelegten Bahnhof Letten miterlebte, ist sich der Problematik bewusst – dieses Elend möchte niemand nochmals zurück.»

Das macht das Arud Zentrum

Im Arud Zentrum für Suchtmedizin versorgen über 50 Ärzte, Psychotherapeuten und Sozialarbeiter rund 4000 Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen. Gemäss Philip Bruggmann haben davon etwa 2000 eine Opioidabhängigkeit. Auch Alkohol und Kokain seien ein grosses Thema. «Wir betreuen die Betroffenen von der Grippe über HIV, Depressionen bis zu sozialen Themen wie Wohnen und Finanzen», sagt der Internist, der neben seinen Forschungs- und Projektarbeiten auch täglich Patienten in der Sprechstunde betreut.

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