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Gesellschaft

Wegen des eigenen Schicksals

Florian Klisanin aus Uster will Dyskalkulie eine Stimme geben

Er war fleissig, beteiligte sich am Unterricht – trotzdem reichte es nicht für gute Mathe-Noten. Denn Florian Klisanin hat eine Rechenschwäche.

Seine Dyskalkulie beeinflusst Florian Klisanins Leben auf ganz verschiedenen Ebenen. Er ist überzeugt, dass es mehr Aufklärungsarbeit braucht.

Foto: Simon Grässle

Florian Klisanin aus Uster will Dyskalkulie eine Stimme geben

Wegen des eigenen Schicksals

In der zehnten Klasse erfuhr Florian Klisanin von seiner Rechenschwäche. Warum es bis zur Diagnose so lange dauerte, wie es sich damit lebt – und warum der 20-Jährige anderen mit seiner Geschichte Hoffnung machen will.

«Weisst du, wie spät es ist?» – so trivial die Frage klingt, so schwierig ist sie für jemanden wie Florian Klisanin zu beantworten. Der junge Oberländer hat Dyskalkulie – landläufig bekannt als Rechenschwäche. Obwohl er damit alles andere als allein ist – Schätzungen zufolge ist pro Klasse ein Kind betroffen –, ist diese Art Lernstörung kaum bekannt.

Während andere nach einem kurzen Blick auf die Uhr in Sekundenschnelle antworten, hat er Mühe, diese zu lesen. Zeit ist für den 20-Jährigen etwas Abstraktes. Er musste lange üben, um sich verschiedene Zeigerkonstellationen wie Viertel nach, halb oder Punkt so zu verinnerlichen, dass sie ihm heute als bildliche Eselsbrücken dienen. «Wichtig war, dass ich die Uhrzeiger in den Griff bekomme», erzählt er.

Trotzdem kommt es immer noch vor, dass er sich vertut und das Zeitmanagement nicht ganz funktioniert. «Wenn ich von halb zwölf bis halb acht arbeite, realisiere ich nicht automatisch, dass das acht Stunden sind», erklärt er. Doch das ist nicht der einzige Lebensbereich, in dem ihm die Rechenschwäche reinfunkt: Die Finanzen haben es ebenfalls in sich. Weil «einfach schnell ausrechnen» nicht funktioniert, hat er sich auch hier Tricks angeeignet.

Als konkretes Beispiel nennt er das Einkaufen: Kosten ein Brot Fr. 2.10 und eine Zitrone Fr. 1.20, rundet er die Beträge auf die jeweils nächstgrössere ganze Zahl auf. 3 Franken und 2 Franken ergeben zusammen 5 Franken, darunter kann sich Klisanin etwas vorstellen. «So weiss ich ungefähr, wie teuer der Einkauf ist – und kann am Schluss sogar ein bisschen Geld sparen.»

Treuer Begleiter bei der ganzen Rechnerei ist der Taschenrechner – sei es auf dem Handy oder gar mittels ChatGPT. «Wenn es schon so moderne Hilfsmittel gibt, soll man diese auch nutzen», so seine Devise. Manchmal nimmt er aber trotzdem ein Blatt Papier zur Hand und rechnet alles klassisch von Hand aus.

Matheunterricht sorgte für Verzweiflung

Dass Florian Klisanin gelernt hat, mit solchen Hilfsmitteln durch den Tag zu gehen, ist in seinem Fall keine Selbstverständlichkeit. Denn lange hat er gar nichts von seiner Dyskalkulie gewusst. Und das, obwohl ihm in der Schule der Matheunterricht immer schwerer fiel.

So richtig begannen die Probleme in der vierten Klasse. Während ihm Plus- und Malrechnen noch gut von der Hand gingen, haderte er beim schriftlichen Rechnen mit Brüchen, Geometrie war eine schiere Unmöglichkeit. «Auch das räumliche Denken war einfach nicht vorhanden», erinnert sich der Ustermer. «Ich sass jeweils vor der Aufgabe und wusste nicht, was machen, wie lösen oder überhaupt anfangen.»

Er holte sich Hilfe bei seiner Mutter und den Lehrern, die jeweils versuchten, seinen Knopf zu lösen – aber ohne Erfolg. «Ich habe ihn nie begriffen.» Entsprechend liessen Klisanins Leistungen nach, die Noten wurden schlechter. Von einigen Lehrern gab es Kommentare, er sei faul und würde zu wenig lernen. Nachhilfeunterricht und Hausaufgabenstunden sollten es regeln.

Viel geholfen haben diese jedoch nicht, vielmehr brachten sie den Schüler zunehmend zur Verzweiflung: «Es hat mich runtergezogen. Ich hatte keine Lust mehr, Hausaufgaben zu machen oder zu lernen, weil ich wusste, dass es eh nicht klappt.»

Florian Klisanin aus Uster leidet an Dyskalkulie. Er erzählt, wie er damit umgeht, und möchte, dass es in der Gesellschaft ein besseres Bewusstsein zu dieser Störung gibt.
Obwohl er ein fleissiger Schüler war, zahlte sich Florian Klisanins Einsatz im Matheunterricht nicht aus.

Und dann kam das zehnte Schuljahr, der Wendepunkt. Um zu sehen, wo seine Schülerinnen und Schüler mit ihren Leistungen standen, machte der Mathelehrer mit ihnen eine Prüfung. Zu lösen waren verhältnismässig einfache Rechenaufgaben auf Primar- und Sekundarschulstufe. Alle aus der Klasse bestanden gut – ausser Florian Klisanin. «Ich hatte einen knappen Vierer.»

Für den Lehrer war klar, dass vieles nicht zusammenpasste. Sein Schüler war fleissig, beteiligte sich im Unterricht, und trotzdem wollte es überhaupt nicht klappen. Er war es denn auch, der den Verdacht auf Rechen- und Lernschwäche hegte und zum ersten Mal das Wort Dyskalkulie ins Spiel brachte.

Diagnose war keine Erleichterung

Um andere Defizite auszuschliessen, entschied sich Klisanin für eine erste Abklärung bei der Schulsozialarbeiterin. Weil sich danach die Anzeichen verhärteten, wurde er ans Zürcher Kinderspital (Kispi) vermittelt.

Dort kam er in Kontakt mit der Neurobiologin Karin Kucian, die im Bereich Dyskalkulie forscht und auf deren Erkennung spezialisiert ist. «Sie nahm mich so herzlich auf, dass ich ganz vergass, dass ich eine Prüfung schreiben muss», erzählt Klisanin. Knapp drei Stunden dauerte der Test und sollte Aufschluss darüber geben, worin die Defizite genau bestehen.


> > Lesen Sie hier, was Karin Kucian als Neurowissenschaftlerin über Dyskalkulie sagt.


Kurz nach dem Besuch am Kispi kam der Anruf, der für Florian Klisanin und seine Familie alles veränderte. Die Dyskalkulie war bestätigt. Endlich hatte das Phänomen einen Namen. Während die Diagnose bei der Mutter Erleichterung auslöste, stürzte sie den Sohn in eine Krise: «Ich war geschockt und habe angefangen, mich zu hinterfragen.»

Über ein Jahr brauchte er, um zu verarbeiten, dass er an einer Rechenschwäche leidet – die zwar therapierbar, aber unheilbar ist. Wie damit umgehen? Das musste er zuerst herausfinden. In der Schule erhielt er einen Nachteilsausgleich, was bedeutete, dass er etwa Prüfungen in einem separaten Raum schreiben durfte.

«Warum darfst du das?» – das war nur eine der Fragen, die ihm seine Mitschülerinnen und Mitschüler stellten. Klisanin musste ihnen erklären, dass er nicht bevorteilt wird, und gleichzeitig lernen, seine Andersartigkeit zu akzeptieren. «Mit der Zeit wurde mir klar, dass es auch etwas Gutes ist, dass es schön ist, nicht wie alle anderen zu sein, und dass es nun weitergehen kann», erinnert er sich. «Dieses Denken hat mich weitergebracht.»

Ihm sass aber weiter das Teufelchen auf der Schulter, das ihm zuflüsterte: «Das machst du nicht gut.» Der Druck blieb. Vor allem, wenn es mal wieder eine schlechte Note gab. Unterstützung bot die Lerntherapie, die Klisanin über zwei Jahre lang besuchte. Sie half ihm, Strategien für Rechenaufgaben oder Alltagssituationen zu entwickeln und sich besser auf schwierige Prüfungen vorzubereiten.

Ein Botschafter der eigenen Schwäche

Trotzdem hatte die Dyskalkulie Auswirkungen auf seinen Werdegang: Er wollte keinen Beruf erlernen, der Mathematik enthält. Die Wahl fiel schliesslich auf die Ausbildung zum Dentalassistenten, die er im vergangenen Sommer erfolgreich abschloss. Auf die Lehrzeit blickt er gerne zurück: Arbeitskollegen und Vorgesetzte zeigten viel Verständnis und ermöglichten ihm den regelmässigen Besuch der Lerntherapie.

Und das, obwohl im ganzen Team vorher noch nie jemand etwas von Dyskalkulie gehört hatte. Was die Rechenschwäche bedeutet, erfuhren sie erst durch ihren Lernenden. So kam es, dass Florian Klisanin zum Botschafter seiner eigenen Lernstörung wurde. Überall, wo er mit Leuten zu tun hat, gibt er seine Erfahrungen weiter. «Das war am Anfang gar nicht meine Intention», sagt er.

Der Ustermer ist überzeugt, dass es mehr Aufklärung braucht, um die Lernstörung frühzeitig zu erkennen und so Fälle wie seinen zu verhindern. Er hat einen mental aufreibenden Weg hinter sich, der geprägt war von Selbstzweifeln und vielen offenen Fragen. Deswegen wünscht er sich, dass kein Kind und kein Jugendlicher Gleiches durchmachen müssen.

Um selbst einen Beitrag zu leisten, hat er unter dem Namen Dysgalaxie eine eigene Website und einen Instagram-Kanal lanciert: In Blogbeiträgen schreibt er über Dyskalkulie und agiert als Vermittler für die offiziellen Anlaufstellen wie das Kinderspital oder die Plattform für Lernen und Lernstörungen der Uni Zürich.

Er stellt sich auch für den persönlichen Austausch per Webkonferenz zur Verfügung oder beantwortet E-Mails von besorgten Eltern – und das alles kostenlos. «Ich habe keine Ausbildung als Therapeut oder Sozialarbeiter, aber ich habe jahrelange Erfahrung», erklärt er. «Wenn jemand Fragen hat, dann bin ich für ihn da.»

Gerne würde er die Schulen als weitere Anlaufstelle nutzen, um seine Unterstützung anzubieten und von seinen Erfahrungen zu berichten. Gut 80 Anfragen hat er schon geschrieben – bisher ohne Erfolg. Entweder erhielt er keine Rückmeldung oder eine Absage mit der Begründung, es gebe bereits Verantwortliche, die sich darum kümmern würden.

Antworten, die für Klisanin wenig befriedigend sind. Die Geschichten hilfloser Betroffener würden ihm immer wieder zeigen, dass noch nicht genug getan werde, meint er. «Es ist ein Problem, das jetzt besteht und um das wir uns kümmern müssen.»

Aufgeben ist für ihn keine Option

Ihm geht es nicht darum, aufzuzeigen, welche Fehler während seiner Schulzeit gemacht wurden, sondern darum, «wie man besser mit dem Thema umgehen könnte». Denn aus seiner Sicht reicht es nicht, wenn Betroffene wie er einfach einen Nachteilsausgleich erhalten.

Vielmehr denkt er an bessere Hilfsmittel für die Lehrpersonen, um Fälle von Dyskalkulie zu erkennen und besser auf die betroffenen Schülerinnen und Schüler einzugehen. An diesem Punkt sieht er viel Potenzial im Bildungssystem: «Ich gebe auch niemandem einen Möbelbausatz ohne dazugehörige Anleitung.»

Deswegen geht Florian Klisanin weiter auf Schulen zu, um irgendwann eine Zusage zu erhalten und seine Geschichte erzählen zu können. Denn: «Aufgeben ist für mich keine Option – vor allem nicht beim Thema Dyskalkulie.»

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