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Rechenstörung im Fokus

«Viele Dyskalkulie-Patienten erzählen mir von ihren Selbstzweifeln»

Dyskalkulie kommt so häufig vor wie ADHS, wird jedoch oft spät erkannt – und belastend für Betroffene. Eine Neurowissenschaftlerin erzählt.

Neurowissenschaftlerin Karin Kucian forscht schon über 20 Jahre im Bereich Dyskalkulie.

Foto: privat

«Viele Dyskalkulie-Patienten erzählen mir von ihren Selbstzweifeln»

Rechenstörung im Fokus

Dyskalkulie wird oft spät erkannt. Neurowissenschaftlerin Karin Kucian erzählt im Interview, warum frühe Diagnosen wichtig sind und wie fehlendes Wissen Betroffene belastet.

Frau Kucian, bei Florian Klisanin wurde die Dyskalkulie erst im zehnten Schuljahr diagnostiziert. Ist es normal, dass sie so lange unerkannt bleibt?

Karin Kucian: Das ist nicht normal, und das dürfte es auch nicht sein. Die häufigsten Diagnosen erfolgen ab der dritten Primarklasse. Vorher ist eher selten, obwohl es oft schon im Kindergarten Anzeichen gibt. Jugendliche wie Florian, die erst später auffallen, haben zum Teil sehr hohe kognitive Funktionen. Sie können viel kompensieren mit Auswendiglernen oder Ableiten und haben genügende Mathenoten. Irgendwann stossen aber auch sie an ihre Grenzen, und es geht nicht mehr.

Karin Kucian ist Neurowissenschaftlerin am Universitäts-Kinderspital Zürich und forscht dort im Bereich Dyskalkulie. Zudem ist sie klinisch tätig und für Dyskalkulie-Abklärungen im Nachschulbereich für Jugendliche im Alter von 16 bis 20 Jahren zuständig. (aki)

Der Zeitpunkt der Diagnose spielt also eine grosse Rolle?

Es ist aus zwei Gesichtspunkten wichtig, die Dyskalkulie früh zu erkennen. Einerseits, damit die Kinder nicht mit Selbstzweifeln und Misserfolgen leben müssen. Andererseits kann man sie besser unterstützen und ihre Entwicklungsperspektiven beeinflussen, je früher man ihre mathematischen Schwierigkeiten entdeckt.

Wie erleben Sie das in Ihrer Arbeit?

Viele Patientinnen und Patienten erzählen mir von ihren Selbstzweifeln, die in ihrer Schullaufbahn entstanden sind. Sie haben das Gefühl, sie seien zu dumm oder zu faul, sie können ihre eigenen Leistungen nicht einschätzen und haben kein Selbstvertrauen mehr. Die wiederholten Misserfolge sorgen für eine Abwärtsspirale. Einige entwickeln depressive Symptome, sind extrem traurig, und es fliessen Tränen. Andere reagieren eher mit aggressivem Verhalten, es kommt zu Konflikten in der Schule, mit den Eltern.

Florian Klisanin erzählte mir von Lehrern, die meinten, er müsse einfach mehr lernen. Will man Dyskalkulie-Fälle im Schulalltag gar nicht erkennen?

Ich denke, alle Lehrpersonen und Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, die mit den Kindern zusammenarbeiten, wollen das Beste für das Kind. Sie wollen erkennen, wenn eines vielleicht eine Lernstörung hat – es fehlt aber am notwendigen Wissen. In ihrer Ausbildung findet das Thema Dyskalkulie viel zu wenig statt. Das höre ich immer wieder, wenn ich selbst Weiterbildungen für Fachkräfte gebe. Das sorgt natürlich für Unsicherheiten, wenn man nicht genau weiss, wie man ein Kind mit Dyskalkulie erkennen und unterstützen kann.

Bei anderen Lernstörungen scheint das Bewusstsein eher vorhanden zu sein. Ist Rechenschwäche ein gesellschaftliches Tabuthema?

Dieses Gefühl habe ich nicht. Dyskalkulie ist sehr weit verbreitet, sie tritt gleich häufig auf wie etwa Legasthenie oder ADHS. Im Schnitt gibt es in jeder Klasse ein betroffenes Kind. Ich glaube, es fehlt vielmehr an Bewusstsein und Fachwissen in der Gesellschaft. Dass heutzutage viele Leute noch nie davon gehört haben, zeigt, dass man im Vergleich zu anderen Lernstörungen hinterherhinkt. Betroffene oder Eltern kommen gar nicht auf die Idee, dass eine Dyskalkulie bestehen könnte.

Wie kann man diesem Unwissen entgegenwirken?

Die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft müsste verbessert und die Ausbildung der Lehrkräfte verstärkt werden. Ein Problem sind leider die knappen Ressourcen in den Schulen, um solche Kinder richtig zu unterstützen. Das integrative Modell in der Schule führt dazu, dass sich eine Heilpädagogin oder ein Heilpädagoge ein- oder zweimal in der Woche um die Kinder mit einer Lernstörung kümmert. Dabei kommen aber Dyskalkulie, Legasthenie und ADHS zusammen. Das ist zu viel, um dem einzelnen Kind gerecht zu werden und ihm eine Chance bieten zu können, um etwa dem Matheunterricht zu folgen. Da muss sich etwas ändern.

Existieren andere Therapiemöglichkeiten abseits des Unterrichts?

Wer ausserschulisch eine Therapie für Dyskalkulie machen möchte, muss das nach wie vor privat finanzieren. Das ist wiederum ein Problem. Nicht alle können sich das leisten, wenn eine Stunde 80, 100 Franken kostet. Und eine Dyskalkulie ist nicht in acht Sitzungen therapiert. Ein Kind braucht über Jahre Begleitung im Bereich Rechnen und Mathe. Zudem gibt es viel zu wenige Fachpersonen mit einer fundierten Ausbildung und Erfahrung als Dyskalkulie-Therapeutin oder -Therapeut.

Gab es im Lauf der Zeit auch positive Entwicklungen?

Ich forsche schon über 20 Jahre im Bereich Dyskalkulie. Am Anfang waren das Bewusstsein und die Informationen dazu sehr beschränkt. So wurde an einem Fachkongress für Lernstörungen zu 99,9 Prozent über Themen wie Legasthenie oder ADHS berichtet – und dann gab es noch meinen Beitrag. Heutzutage gibt es den Verband Dyslexie Schweiz, der jährlich eine Konferenz durchführt und der Dyskalkulie Platz bietet. Man bemüht sich, mehr darüber zu reden – auch in internationalem Rahmen.

Und die Forschung selbst? Braucht es da noch grosse Schritte, um Dyskalkulie besser zu verstehen?

Es ergeben sich immer wieder neue Fragestellungen. Wir beginnen jetzt, das Thema besser zu verstehen. Zum Beispiel, wie das Hirn von betroffenen Kindern und Jugendlichen rechnet und funktioniert. Wir sehen, dass auch neurobiologische Unterschiede vorhanden sind. Nicht alle zeigen das gleiche Verhalten und haben dieselben Schwierigkeiten. Dann gilt es, den Transfer in die Praxis zu optimieren und zu erforschen. Ein Beispiel: Für junge Erwachsene wie Florian gibt es kein einziges Therapie- oder Förderprogramm, welches wissenschaftlich evaluiert wurde, ob der gewählte Ansatz überhaupt etwas hilft. Im Moment läuft eine Studie, wo wir genau das untersuchen wollen.

Was würden Sie Betroffenen gerne mit auf den Weg geben?

Betroffene von Dyskalkulie sind normal intelligent, begabt und in den meisten Fällen fleissig. Sie haben eine Lernstörung, die teils genetische Ursachen, teils neurobiologische haben kann, die aber auch von der Umwelt beeinflusst wird. Ich wünsche mir, dass sie am Schluss besser damit umgehen können und nicht das Gefühl haben, sie seien deswegen weniger wert.

Weiterführende Informationen

Plattform für Lernen und Lernstörungen: Wertvolle Informationen zu Lernstörungen finden Betroffene, aber auch Eltern und Fachpersonen auf der Plattform für Lernen und Lernstörungen des Adaptive Brain Circuits in Development and Learning (AdaBD) der Universität Zürich.

Smile-Projekt: Das Forschungsprojekt des Lehrstuhls «Sonderpädagogik: Bildung und Integration» hat zum Ziel, abzuklären, ob und wie fehlende mathematische Grundlagen im Jugend- und Erwachsenenalter erfolgreich aufgearbeitet werden können und ob dadurch Prozesse im Gehirn verändert werden.

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