Früher war sie wohl zu nett – jetzt hat sie ihren Weg gefunden
Mountainbikerin Nicole Koller ist im Hoch
Die ersten Weltcup-Podestplätze haben gezeigt: Die Laupnerin Nicole Koller hat die richtigen Schlüsse aus ihren Erfahrungen gezogen.
Zuerst ist Nicole Koller verdutzt. Da fährt sie beim Weltcup-Auftakt in Brasilien im April in vier Rennen zweimal auf Platz 2. Und was sagt ihr Teamchef hinterher? Sie solle nicht erwarten, dass es im selben Stil weitergehe.
Koller lächelt, als sie die Episode erzählt. Denn sie hat mit etwas Abstand realisiert: «Er hat recht.» Nicht Podestplätze sollen die Messlatte sein oder gar der erste Weltcup-Sieg, Konstanz heisst das Zauberwort.
«Ich möchte mich mehrheitlich in den Top Ten aufhalten», hat sich die Laupnerin für den weiteren Saisonverlauf vorgenommen. Allein diese Aufgabe ist Herausforderung genug. Auf keinen Fall will sich Koller nach den ersten zwei Weltcup-Podestplätzen – je einem im Cross-Country und auf der Kurzdistanz – stressen lassen.
Wie schafft die Weltnummer 10 es, die nächsten Rennen ohne zu hohe Erwartungen anzugehen? Ihre Reife ist sicher ein Faktor. Ein weiterer dürfte sein, dass sich Koller nach einem mentalen Tief vor rund zwei Jahren von Rangzielen verabschiedet hat.
Koller hat gute Erfahrungen damit gemacht. Sie fokussiert auf sich, nimmt sich Kleinigkeiten vor. Eine bestimmte Linie in einer Abfahrt beispielsweise. «So erreiche ich Ziele schon während des Rennens», erklärt sie ihre Taktik, «und zwar unabhängig vom Resultat.»
Sie nimmt das Risiko in Kauf
Mit 28 gehört Nicole Koller zu den erfahrenen Fahrerinnen. Erfolge feierte die in St. Gallenkappel in der Gemeinde Eschenbach aufgewachsene Athletin früh. 2014 wurde sie Junioren-Weltmeisterin, im Jahr darauf holte sie WM-Bronze. 2023 kam Koller auf höchster Stufe in den Top Ten an, letzte Saison klassierte sie sich in diesen sechsmal.
Dazu fuhr sie zusammen mit Anne Terpstra überlegen zum Gesamtsieg am Cape Epic, dem prestigeträchtigsten Bike-Etappenrennen der Welt. Das verschaffte ihr viel Aufmerksamkeit. Sonst steht Koller oftmals im Schatten von anderen starken Schweizer Fahrerinnen wie Alessandra Keller, Sina Frei oder Jolanda Neff.
Gradlinig verlief Kollers Weg in die Weltspitze nicht. Die Leistungen in den Saisons 2022 und 2023 beurteilt sie etwa kritisch. Und die geplatzten Olympia-Träume 2024 waren schmerzhaft. «Ich habe vieles hinterfragt», sagt Koller, «und habe mich wohl auch zu häufig zu früh untergeordnet.»
Mit der Aussage zielt sie auch auf Rennsituationen, in denen sie zu nett agierte. «Jetzt habe ich langsam meinen Weg gefunden», ist Koller sicher. Wie sich das äussert?
Die Mountainbikerin sagt, in Rennwochen blicke sie weder nach links noch nach rechts. Koller macht stattdessen, was sie für richtig hält. Auf dem Bike ist sie zudem unnachgiebiger und selbstbewusster geworden. Hat sie das Gefühl, nicht am Limit zu fahren, lässt sie nicht locker.
Wie bei den Rennen in Brasilien, die sie nach einer Topvorbereitung mit dem Vorhaben anpackte, mit den Besten mitfahren zu wollen. Auf die Gefahr hin, dafür zu büssen. Oder wie sie sagt: «Dass es mich halt nimmt.»
Koller lacht. Das tut sie in diesem Gespräch in einem Café in Wald häufig. Die Profisportlerin ist zugänglich. Und redet nicht viel, um trotzdem nichts zu sagen, sondern erzählt offen und ungeschönt. Ungewöhnlich findet sie das alles nicht. «Ich muss ja nichts verstecken.»
Schiffbruch mit den Zahlen
Im bereits fünften Jahr fährt Koller für das deutsche Ghost-Factory-Racing-Team. Ihre Ein- oder Zweijahresverträge handelt die Laupnerin jeweils selber aus. Kein Manager soll dies übernehmen.
Das wolle nicht nur sie als Sportlerin so, das wünschten sich auch die Verantwortlichen von Ghost, sagt Koller. «Es ist ihnen wichtig, dass die Athletinnen für sich selber einstehen.»
Die Fahrerinnen sind keine Rennmaschinen, an deren Stellschrauben man mithilfe der unzähligen Daten dreht. Es sind Persönlichkeiten, die über den Sport hinaus wahrgenommen werden wollen. «Man versteht hier, dass mich als Nicole manchmal andere Themen beschäftigen als das Biken.»
Koller hat einst stark zahlenbasiert gearbeitet, gar ihr eigenes Gefühl den Daten untergeordnet. Damit hat sie Schiffbruch erlitten. «Ich verlor die Lockerheit», erinnert sie sich und weiss seither: Fehlen ihr die Freude und die Unbeschwertheit, kommts überhaupt nicht gut.
Sie hat gelernt, nicht pausenlos zu pushen. Der eine oder andere lockere Tag wirkt sich nicht negativ auf die Form aus, das Geniessen von Erfolgen ist wichtig. Als ausschlaggebend für diese Entwicklung sieht sie nicht nur das Alter. «Die eigene Erfahrung braucht es auch, wenn man merkt, etwas nicht verarbeitet zu haben.»
So wie den Cape-Epic-Triumph, den Koller nicht sacken liess – und später zwischenzeitlich zu kämpfen hatte.
Nicht dünn, dafür kraftvoll
Davon ist sie derzeit weit entfernt. Die Resultate stimmen. Und solche sind grundsätzlich nur möglich, da Koller die Atmosphäre bei ihrem langjährigen Arbeitgeber geniesst. «Ich fühle mich den Leuten verbunden», sagt sie und bezeichnet das Team als ihre Familie für unterwegs.
Auch daheim hat sich Koller ein Umfeld geschaffen, von dem sie sich getragen fühlt. Dazu zählt neben der Familie ihr Freund Kevin Kuhn, der ebenfalls Radprofi ist. Und weitere Personen wie ihr Mentaltrainer, der Trainingscoach und der Ernährungscoach.
Mehr als ein Jahrzehnt ist es her, dass die damals aufstrebende Fahrerin unter Essstörungen litt. Seit Langem redet sie offen über jene schwierige Zeit. Auch um ihrer Vorbildfunktion gegenüber dem Nachwuchs nachzukommen. «Vielleicht kann ich so jemanden davor bewahren, in dasselbe Problem zu rasseln wie ich.»
Heute hält es Koller wie Evie Richards. Die Weltmeisterin von 2021 sagte einmal, ihr Ziel sei nicht, dünn zu sein, sondern powerful – also kraftvoll. «Richtig ‹wow› war das für mich, als ich das hörte», sagt Koller. «Genau so will ich sein – powerful.»
Es ist nicht nur in diesem Moment zu spüren: Koller ist mit sich im Reinen. Es ist eine gute Ausgangslage für weitere Erfolge. In einer Saison, in der sie sich auf die grossen Wettkämpfe konzentriert: den Weltcup, die EM und die WM im September.
Letztere ist der Höhepunkt schlechthin, da die Titelkämpfe im Wallis sind. «Hoffentlich reicht es da für einen kleinen Exploit», sagt sie. Und verspürt schon jetzt eine grosse Vorfreude auf den Anlass.
Übers Jahr 2025 hinaus blicken, allenfalls gar bis Olympia 2028 – das ist für Koller kein Thema. Auch von einer möglichst langen Profikarriere träumt sie nicht. «Es gibt neben dem Biken noch viele andere interessante Sachen», sagt die Laupnerin. Und hält fest: «Sobald ich merken würde, es geht nicht mehr weiter aufwärts, käme für mich der Zeitpunkt zu sagen: Das war es.»