«Eine besoffene Frau gilt nach wie vor als abstossend»
Eva Biringer, wer ist diese gut ausgebildete Frau ab dreissig, die zwischen Pilateskurs, Fünfzigstundenwoche und veganem Essen ein solides Alkoholproblem hat? 
 Eine Frau, der vermutlich jeder schon mal begegnet ist. Eine Freundin, Kollegin, Mutter, Nachbarin, allesamt Frauen, die ihr Leben scheinbar im Griff haben. Während der allgemeine Alkoholkonsum seit Jahren zurückgeht, steigt jener der gut situierten Frauen. Es fängt damit an, dass Frauen in der Kindheit zu Perfektionistinnen erzogen werden. Sie müssen immer 200 Prozent geben, sonst sind sie vermeintlich nichts wert. Und das machen sie auch und stehen drum heute dort, wo sie stehen. Sie sind leistungsstark und ehrgeizig, brauchen aber auch ein Ventil. Man kann nicht nur funktionieren, und Alkohol ist eine dankbare Art, sich mal was zu gönnen und sich zu belohnen, loszulassen.
Den Stress wegmeditieren würde doch besser zu Selfcare, Selleriesaft und Mindfullness passen. 
 Absolut, und einige dieser Frauen meditieren wirklich, bevor sie sich eine Flasche Wein aufmachen. Tatsache ist, dass all diese Coping-Strategien nicht ausreichen, um dem Wahnsinn zu begegnen, der es heutzutage bedeutet, eine Frau zu sein.
«Die Gesellschaft hat ein kollektives Alkoholproblem.»
Sie sagen, Alkohol werde Frauen als emanzipatorisch verkauft. 
 Ja, Frauen wird suggeriert, sie könnten alles machen, auch trinken wie die Männer. Ich bin mit «Sex and the City» aufgewachsen, dort wurden Martinis und Cosmopolitans auf eine sehr glamouröse Art getrunken. Ähnlich funktionierte die im «Zeit-Magazin» erschienene Kolumne «Die trinkende Frau». Oder schauen Sie mal, wie viele Influencerinnen mit Champagner oder Rosésekt posieren. Solange man es nicht übertreibt, gehört Alkohol heute zum Frausein dazu. Wobei dieser Grat ein schmaler ist. Wodka aus der Flasche trinken geht natürlich nicht.
Journalistin & Autorin Eva Biringer 
 Eva Biringer (1989) studierte Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft. Sie schrieb für Nachtkritik.de über Theater, war Redaktorin bei «Zeit online» und arbeitet heute als freie Autorin für die «Welt am Sonntag», den «Tagesspiegel» und die «Berliner Zeitung». Neben Stil- und Kulturthemen ist Biringer als Foodjournalistin tätig und interessiert sich dabei besonders für die «sober scene», der sie eine grosse Zukunft prognostiziert. Nach Jahren in Berlin lebt sie heute mehrheitlich in Wien. (zuk) 
Aber eine Frau, die einen Whiskey on the rocks bestellt, gilt als verwegen. 
 Ja, solange sie anschliessend nicht vom Barhocker kippt. Gar nicht trinken geht nicht – ausser man ist sichtbar schwanger –, zu viel trinken allerdings auch nicht. Eine besoffene Frau ist gesellschaftlich nach wie vor richtig abstossend, weil der Subtext lautet: Die hat sich nicht im Griff.
«Ich fand es früher doof, wenn jemand nicht getrunken hat.»
Nun, ein betrunkener Mann ist ja auch nicht die Ausgeburt von Attraktivität. 
 Selbstverständlich nicht, aber das ist was anderes. Bei Frauen hat es schnell etwas Anrüchiges. Bei Männern heisst es eher: «Komm, lassen wir den, der hat zu viel getrunken.» Wobei männliche Besoffenheit schnell mal in Aggression umschlägt und nicht selten in sexuelle Gewalt. Auch wenn der Zustand einer Frau niemals als Ausrede herhalten darf, ist es leider eine Tatsache, dass sie sich betrunken schlechter wehren kann.
Und es zu Vergewaltigungen kommen kann? 
 Ja, kein Wunder, dass jeder vierte Vergewaltiger unter Alkoholeinfluss steht. Dazu passt jene Studie, bei der Frauen und Männer gefragt wurden, ob für einen betrunkenen Vergewaltiger mildernde Umstände gelten sollen. Beide Gruppen stimmten zu. Ebenfalls waren beide Gruppen für eine Minderung des Strafmasses, wenn die Frau betrunken war.
Nicht selten versuchen sich Menschen gegenseitig zum Trinken zu überreden, weil man denkt, wer nicht trinkt, ist ein Spielverderber. Warum passiert uns das? 
 Weil die Gesellschaft ein kollektives Alkoholproblem hat. Jemand, der selbst kein Problem hat, wird den Konsum von jemand anderem nicht kommentieren. Ich fand es früher auch eher doof, wenn jemand nicht getrunken hat, weil das ein indirekter Kommentar zu meinem eigenen Konsum war.
Sie haben mit 11 Jahren zum allerersten Mal getrunken. Rum, der Ihnen gar nicht geschmeckt hat. Aufhören konnten Sie trotzdem nicht. 
 Ja, das ist traurig. Ich habe Mitgefühl mit dem Mädchen, das ich damals war. Das war viel zu früh. Offensichtlich ging es mir schlecht zu dieser Zeit, und ich habe irgendetwas gesucht. Alkohol hat damals schon sofort etwas in mir zum Klingen gebracht, eine Leere gefüllt und zugleich mein Bedürfnis nach Aufregung gestillt. Dorf war Horror, ich dachte, ich werde nie 18 und kann weg von da. Alkohol hat die Dinge zum Leuchten gebracht.
«Im Mittelalter haben alle getrunken, weil das Bier keimfreier war als Wasser.»
Wie viele Menschen können wirklich nur ein Glas trinken? 
 Es gibt schon Leute, die das können. Der Suchtforschung zufolge ist ein Teil genetisch bedingt, ein anderer hängt mit der Sozialisierung zusammen – und der Rest ist noch immer ein Rätsel. Warum die eine abhängig wird und die andere nicht, bleibt diffus. Tatsache ist: Viele Menschen befinden sich zumindest in einer Grauzone, irgendwo zwischen Missbrauch und psychischer Abhängigkeit. Bei mir waren diese «Heute nur ein Glas»-Abende immer die schlimmsten, weil ich viel, viel mehr getrunken habe, als wenn ich von vornherein ankündigte beziehungsweise so ehrlich zu mir war, zu sagen, heute betrinke ich mich.
Dann haben Sie ganz mit dem Trinken aufgehört. Wie schmerzhaft war dieser Abschied für Sie? 
 Was mir heute am ehesten fehlt, sind die Abende, bei denen man nicht weiss, was sie bringen. Das Versprechen am Anfang einer Nacht. Auch wenn diese Nächte für mich oft nichts Gutes brachten, hatte ich zwischendrin auch gute Momente mit Alkohol. Klar, eine besondere Form von Party und Ausgehen funktioniert nur mit Alkohol oder Rausch, also allen möglichen Drogen. Das fehlt mir ab und zu, aber ich weiss, dass es das für mich nicht ohne die Kehrseite gibt. Ich will bald mal wieder im Club tanzen gehen und schauen, ob ich das aufregende Gefühl nicht auch anders bekomme. Nüchternheit kann cool sein. Es entwickelt sich gerade eine weltweite «sober scene», ein hipper und achtsamer Lifestyle, dem ich eine grosse Zukunft prognostiziere.
Und es gibt alkoholfreie Drinks, die genau gleich aussehen wie ihr Original. Warum ist das so wichtig? 
 Sie meinen, warum man statt Negronis dann eben No-gronis trinkt statt einen Orangensaft? Zum einen lebt Alkohol nun mal vom Ritual, das zu imitieren finde ich völlig okay. Es gibt Leute, die sich blöd vorkommen, wenn alle Wein trinken und sie selbst ein Wasser in der Hand halten. Oder solche, die nicht auf ihren After-Work-Drink verzichten wollen. Zum anderen schmecken diese Getränke aber auch interessanter als Säfte oder Mocktails wie Virgin Colada. Manche Suchtexpertinnen warnen aber davor, alkoholfreie Spirituosen seien zu nahe dran am Original, wodurch sich die Sucht sozusagen durchs Hintertürchen wieder einschleichen könne. Ich respektiere diese Sichtweise. Mir allerdings helfen die zahlreichen alkoholfreien Alternativen, nüchtern zu bleiben, und als Foodjournalistin verfolge ich diese Entwicklung mit grossem Interesse.
Gehen wir zurück in der Geschichte des weiblichen Trinkens. In 50er-Jahren wurde für Frauengold geworben. War der Wäscheberg zu hoch, schnell ein Schlückchen und weiter. 
 Frauengold war ein sogenanntes Tonikum, in Wahrheit ein Schnaps, das überforderten Frauen als Medizin verkauft wurde. Ein bezeichnendes Beispiel für weibliches Trinken und die Vorwegnahme der Message meines Buchs: «Wenn du hauptsächlich mit Trinken und Auskatern beschäftigt bist, wirst du wohl kaum etwas an den Verhältnissen ändern.»
Und wie war es vor den 50er-Jahren mit den Frauen und dem Alkohol? 
 Da wäre zum Beispiel jene französische Fabel über drei Frauen, die ins Wirtshaus gehen und dann so betrunken sind, dass sie auf dem Friedhof landen und dort eingegraben und wieder ausgegraben werden. Die Moral: Frauen haben im Wirtshaus nichts verloren, und wer säuft, wird verscharrt. Im Mittelalter haben aber alle getrunken, weil das Bier keimfreier war als Wasser. Bierbrauen gehörte zu den normalen Tätigkeiten einer Hausfrau. In anderen Zeiten wiederum war Rausch den Männern vorbehalten. Die Geschichte des weiblichen Trinkens ist ein ständiges Auf und Ab.
Die Marke Jim Beam lancierte einen «feministischen Whiskey», was kann man sich darunter vorstellen? 
 Jim Beam hat seine feministische Whiskey-Edition den «zukünftigen Pionierinnen» gewidmet und den «furchtlosen Frauen in Vergangenheit und Gegenwart». Beworben wurde das Ganze unter anderem in der «New York Times» und von Stars wie Halle Berry. Weibliche Zukunft, Empowerment und so weiter. Aber schlussendlich ist es ein Whiskey. Es gibt noch mehr zeitgenössische Beispiele wie Fergie von den Black Eyed Peas mit ihrer zuckerreduzierten Wodkamarke, die angeblich gut vereinbar ist mit einem Fitnesslifestyle. Oder Gwyneth Paltrow, Mrs. Detox in Person, die in der Badewanne liegend Whiskey trinkt und auf ihrer Goop-Seite Naturweintipps gibt.
Das ist für Sie unkritisches Abfeiern einer sozialisierten Droge? 
 Mehr als das, es ist die Vereinbarkeitslüge zweier absoluter Gegensätze: eines auf Achtsamkeit und Selbstfürsorge ausgerichteten Lebens und eines Nervengifts, das über 200 Krankheiten begünstigt und das alle zehn Sekunden irgendwo auf der Welt jemanden das Leben kostet. Für Frauen ist ein erhöhter Alkoholkonsum sogar wesentlich schädlicher als für Männer.
Sie fordern in Ihrem Buch, dass wir über ein nächtliches Verkaufsverbot nachdenken oder sogar ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen. Ist das die Lösung? 
 Man sieht in anderen Ländern, dass es einen erheblichen Einfluss hat, wenn man beispielsweise ab 20 Uhr keinen Alkohol mehr kaufen kann oder nur in «Liquid Stores», wie das in Skandinavien üblich ist. In Baden-Württemberg hat man das Angebot an Tankstellen versuchsweise eingeschränkt und sah sofort den Effekt. Auch der Einfluss von Werbung ist gravierend. Man könnte sehr wohl was an unserem Umgang mit Alkohol ändern. Dass die Politik so träge ist, hat viel mit wirtschaftlichen Interessen und Lobbyismus zu tun.
Alkohol kommt oft dann ins Spiel, wenn sich Menschen neu kennen lernen. Wie erleben Sie diese Momente nüchtern? 
 Nüchtern gedatet habe ich noch nie, bevor ich mit dem Trinken aufgehört habe. Kein Wunder, schliesslich baut Alkohol Hemmungen ab und lockert die Verkrampftheit auf. Nüchtern ist alles roher und direkter. Aber, ganz ehrlich: Wenns passt, dann passt es. Nüchtern kann man viel besser aussortieren. Und zwar schon vorm ersten Date: Wenn jemand es komisch findet, dass in meinem Datingprofil steht, dass ich nicht trinke, soll er mich ruhig wegwischen. Auf solche Männer habe ich eh keine Lust mehr.
Jetzt haben Sie ein Buch über Ihre Emanzipation vom Alkohol geschrieben. Wird es dabeibleiben, dass Sie nie wieder trinken? 
 Ja. Ich bin zwar immer wieder ein wankelmütiger Mensch, aber in dieser Sache bin ich mir sehr sicher. Ich habe auch seit vielen Jahren nicht mehr geraucht und finde es unterdessen absurd, dass ich jemals geraucht habe. Das wird mit dem Alkohol genauso werden. (Nora Zukker)