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Die Zeit ist reif fürs Haifischbecken

Lange hat Kerstin Kündig die Schweizer Liga geprägt. Im Sommer beginnt für sie ein neues Kapitel.

Rückraumspielerin Kerstin Kündig spielt ab nächster Saison in der deutschen Bundesliga.

Foto: Keystone

Die Zeit ist reif fürs Haifischbecken

Krafttraining in der Stube. Unzählige einsame Joggingrunden. Irgendwann hat man als Teamsportlerin einfach genug davon.

Auf das erste Wurftraining seit dem Saisonabbruch im März hat sich Kerstin Kündig deswegen «extrem» gefreut. Letzten Mittwoch durfte sie zusammen mit einigen Spielerinnen des LC Brühl loslegen.

In Kürze startet beim Rekordmeister das Teamtraining ebenfalls wieder – wie selbstverständlich mit Kündig. 

Vorerst alle Köder ignoriert

Die Gegenwart der Wetzikerin liegt also in St. Gallen. Ihre Zukunft allerdings erheblich weiter nordöstlich – in Erfurt. Nach sieben Jahren beim LC Brühl wechselt die beste Schweizer Rückraumspielerin in die deutsche Bundesliga. Am 6. Juli erfolgt bei ihrem zukünftigen Klub Thü­ringer HC der Trainingsauftakt.

Bis dahin darf sie weiter bei den St. Gallerinnen mittun, mit denen sie sechs Titel gewann. Es zeigt, wie gross die Wertschätzung für die Oberländerin ist, die während ihrer Zeit beim Ostschweizer Traditionsverein massgeblich zu den Erfolgen beitrug. 

Für den LC Brühl ist der Abgang der Leaderin schmerzhaft. Er ist allerdings einer mit Ankündigung. Das Ziel der Spielmacherin war immer, einmal den Schritt aus der im internationalen Vergleich schwachen Schweizer Liga zu machen.

Die Mög­lichkeit dazu hätte die Oberländerin, die einst mit 15 bei Yellow Winterthur in der obersten Spiel­klasse debütierte, schon erheblich früher gehabt. Die Fähigkeiten der 59-fachen Nationalspielerin blieben auch ennet der Grenze nicht verborgen.

«Mit 35 nochmals zurückkehren zu müssen, um abzuschliessen, wäre saumühsam geworden.»
Kerstin Kündig

Immer wieder köderten sie Vereine aus dem Ausland – vor der letzten Saison lagen mehr als ein halbes Dutzend Angebote auf ihrem Tisch. Und einige in all den Jahren waren so reizvoll, dass Kündig gedanklich mächtig ins Rotieren kam.

Letztlich aber hielt sie dennoch an ihrer ur­sprünglichen Planung fest, zuerst das Studium zu absolvieren. «Mit 35 nochmals zurückkehren zu müssen, um abzuschliessen, wäre saumühsam geworden.» 

Im Nachhinein ist die 26-Jährige glücklich über ihre Standfestigkeit. Nach sechs Jahren hat Kündig das Masterstudium Medizintechnik an der ETH in Zürich beendet. Darum kann sie jetzt den nächsten Schritt in ­ihrer Karriere machen. Sie sagt: «Schön, kam zur richtigen Zeit das richtige Angebot.»

«Erfurt ist wunderschön. Ich habe mich in die Stadt verliebt.»
Kerstin Kündig

Bevor die vergangene Saison ligaweit beste Torschützin dem Thüringer HC zusagte, fuhr sie nach Erfurt, um einen Augenschein zu nehmen. «Ohne mir vorher grosse Vorstellungen zu machen.» 

Kündig ist überzeugt, die richtige Wahl getroffen zu haben. Die professionellen Trainingsmöglichkeiten, die vom Klub zur Verfügung gestellte Wohnung, der erste positive Kontakt mit dem Team – alles bestens. «Und Erfurt ist wunderschön. Ich habe mich in die Stadt verliebt.»

Unter 100 Prozent geht nicht 

Beim deutschen Serienmeister von 2011 bis 2016 ist man von den Qualitäten Kündigs überzeugt, die einen Zweijahresvertrag unterschrieb.

Trainer Herbert Müller sagte nach ihrer ­Verpflichtung: «Sie ist eine intelligente und wurfstarke Mittespielerin. Ich bin davon überzeugt, dass ihr Engagement unserer Mannschaft guttun wird. Wir haben den Eindruck, dass sie charakterlich und kämpferisch als Topspielerin zum Thüringer HC passen wird.»

Für Kündig bricht fern der Heimat im Sommer eine neue Zeitrechnung an. Erstmals muss sie nicht mehr Spitzensport und Studium unter einen Hut bringen, beim Bundesliga-Spitzenklub ist sie Handball-Profi – wie alle anderen Spielerinnen.

Obwohl neu pro Woche neun statt wie bisher fünf oder sechs Trainingseinheiten anstünden, komme die Regeneration nicht mehr zu kurz, freut sich Kündig. «Ich erwarte, sehr viel mehr aus meinem Körper herausholen zu können.»

«Man merkt, dass Spielerinnen von deutschen Klubs eine ganz andere Härte und ein ganz anderes Tempo gewohnt sind.»
Kerstin Kündig

Mit dem LC Brühl trat Kündig immer wieder gegen Bundesliga-Teams an. Sie weiss darum: Der Niveauunterschied ist gross. «Man merkt, dass Spielerinnen von deutschen Klubs eine ganz andere Härte und ein ganz anderes Tempo gewohnt sind.»

Kommt hinzu: In der Schweiz klafft zwischen den Top 4 und dem Rest der Liga eine grosse Lücke. Spitzenteams sind darum nicht in jeder Begegnung gefordert. In der Frauenbundesliga – sie wird nun von 14 auf 16 Teams aufgestockt – ist das anders. «Man muss in jedem Spiel 100 Prozent geben, um eine Chance auf den Sieg zu haben.»

Nicht nur die Gegnerinnen sind stärker, auch das Niveau ­ihrer Mitspielerinnen ist höher. Das eröffnet ihr als Regisseurin neue Optionen, sie muss sich aber anders als zuletzt bei Brühl nun auch intern behaupten. Die Herausforderung spornt sie an.

«Ich freue mich extrem, in jedem Training gefordert zu werden. Würde ich das als negativ ansehen, könnte ich in diesem Haifischbecken nicht überleben.»

Abgang mit Ausrufezeichen 

Ihre direkte Konkurrentin im Rückraum Mitte, der wichtigsten Position im Handball, heisst Iveta Koresova. Die seit sieben Jahren im Team stehende, über 100-fache tschechische Nationalspielerin ist die unumstrittene Führungsfigur. Und laut Trainer Müller einer der wenigen Topstars der Bundesliga.

Koresova sei früher für sie eine Art Idol gewesen, sagt Kündig. Sie ist überzeugt, von der Rekordtorschützin des Klubs profitieren zu können. «Sie hat die Klasse und das Können, jemanden weiterzubringen.»

Wann der Zuzug aus der Schweiz erstmals mit der langjährigen Teamleaderin in der Halle steht, ist indes unklar. Koresova erwartet im August ein Kind.

Es ist nicht die einzige offene Frage. So ist etwa ungewiss, wann die Meisterschaft beginnt und ob der Thüringer HC nach der abgebrochenen letzten Saison einen Platz in einem internationalen Wettbewerb erhält.

Die Schweizer Bühne hat Kündig derweil mit einem doppelten Ausrufezeichen verlassen: Sie wurde soeben zur besten Schweizer Handballerin der letzten Saison und zum MVP der höchsten Schweizer Frauenliga gewählt.

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