Der Ustertag-Blick aus dem Weltall: Warum die Schweiz Mut braucht
Statt nur über lokale Geschichten zu sprechen, nahm Astrophysiker und Ex-Nasa-Direktor Thomas Zurbuchen die Zuhörer mit auf eine Reise ins Weltall – und verriet, welche drei Kräfte die Schweiz für ihre Zukunft benötigt.
Am sonnigen, aber eisig kalten Sonntagnachmittag feierte die Stadt Uster den traditionellen Ustertag. Der Anlass lockt jeweils Hunderte von Interessierten in die reformierte Kirche. Punkt 14 Uhr startete die erste Rede – doch Spannung herrschte schon viel früher …
… 13.15 Uhr: Die historisch uniformierten Männer und auch einige Frauen des Unteroffiziersvereins Uster stehen schon auf den Treppen vor der reformierten Kirche bereit. Zu ihrer Ausrüstung gehört unter anderem ein Kuhfell-Tornister – oder «Aff», wie er laut Sergeant Tobias Streiff, dem Zugführer, umgangssprachlich auch genannt wird. Auf diesem ist eine Mantelrolle geschnallt, auf der das Abzeichen eines Jagdhorns prangt.




Streiff und die anderen Vereinsmitglieder sind heute vor der Kirche, um die Ehrenwache zur Begrüssung zu halten. Zwischen seinen Erklärungen muss der Sergeant immer wieder «stramm stehen», wenn wichtige Gäste passieren. «Indem wir unser Gewehr präsentieren, erweisen wir den Gästen die Ehre», erklärt er.
13.45 Uhr: Es herrscht ein grosser Ansturm auf die Kirche. Alle wollen einen guten Sitzplatz ergattern, um möglichst freie Sicht zu haben. Die roten Nasen verraten, dass viele einfach reinwollen, weil es ihnen draussen zu kalt wird.
Eine Minute später läuten die Kirchenglocken. Draussen kommt indes Hektik auf. «Ufpasse, sie sind underwägs», ruft Sergeant Streiff den anderen zu. Damit meint er die Hauptgäste, zu denen auch die Redner gehören. Sie werden auf dem Weg von der Burg hinunter zur Kirche von Tambouren begleitet. «Sobald sie unten ankommen, übernehmen die Pfeifer den ‹Berner Marsch› von den Tambouren», sagt Streiff. Den «Berner Marsch» zu Ehren des Hauptredners, da dieser aus dem Kanton Bern stammt.



13.50 Uhr: Einzug der Hauptakteure, begleitet durch Trommel- und Pfeifenklänge. Alle nehmen in der Kirche Platz. Herr und Frau Uster haben sich herausgeputzt. «Hat der Redner nicht mal eine Krawatte an?», fragt ein älterer Mann aufgeregt. Das laute Stimmengewirr wird langsam leiser und verebbt zu einem Murmeln. Man wartet gespannt, nur da und dort ist ein Hüsteln aus dem Publikum auszumachen. Es scheint bald loszugehen.
14.02 Uhr spielt die Stadtmusik Uster auf. Die epischen Klänge der «Fanfare for a New Horizon» könnte auch die Filmmusik für einen Science-Fiction-Blockbuster aus Hollywood sein.
14.08 Uhr: Nationalrat Martin Hübscher (SVP) betritt die Kanzel. Er baut in seiner Vorrede eine Brücke zum Eidgenössischen Turnverein (ETV): «In der genau gleichen Zeit wie der Ustertag schlossen sich die in der Schweiz bestehenden Turnvereine anlässlich des ersten Eidgenössischen Turnfests von 1832 zusammen.»

Diesen Bezug mache er nicht nur, weil er Turner sei, betont er. Sondern auch, weil im Logo des Turnverbands die vier F dargestellt seien. Vier F für Frisch, Fromm, Fröhlich, Frei. «Und genau diese stehen für mich auch als Sinnbild für den Geist des Ustertags.»
14.26 Uhr: Der Hauptredner kommt auf die Kanzel – notabene mit Krawatte. «Ein Ziel habe ich heute schon erreicht, ich bin oben», witzelt der Astrophysiker und ehemalige Nasa-Wissenschaftsdirektor Thomas Zurbuchen, der mittlerweile das ETH Zürich Space leitet. Und gleich darauf fordert er von den Zuschauern einen Applaus für die «unglaubliche Musik».
Dann taucht er ins eigentliche Thema ein und nimmt die Anwesenden mit in die Welt der Weltraumforschung. Anhand von Beispielen seiner Arbeit bei der Nasa erzählt er, warum die Schweiz – genau wie 1830 am Ustertag – drei Kräfte braucht, um ihre Zukunft zu gestalten.

Neugier – oder den Mut, Fragen zu stellen: So wäre die Hubble Mission wegen einer nicht gestellten Frage beinahe gescheitert. Im Gegenzug sei die Pioneer-Venus-Mission dank der mutigen Frage eines Technikers gerettet worden. «Fragen ist ein Zeichen der Wahrhaftigkeit, keine Schwäche.» Damit spricht Zurbuchen auch seine eigene Kindheit an, in der er Mut brauchte, um neugierig zu sein. «Ich stellte Fragen, die in unserer religiösen Familie keinen Raum hatten.»
Ehrfurcht – oder den Mut, das Grössere anzunehmen: Der Astrophysiker erzählt von seiner Kindheit in Heiligenschwendi im Kanton Bern und seinen ersten Naturbegegnungen. Und er erinnert sich an bewegende Momente in der Weltraumforschung, etwa als er und seine Crew mit Tränen in den Augen die ersten Bilder des James-Webb-Teleskops bestaunten. «Wer staunen kann, möchte bewahren.»
Freiheit – oder den Mut, Verantwortung zu übernehmen: Sie sei kein Zustand, sondern eine tägliche Entscheidung. «Sie muss immer wieder verteidigt und gestaltet werden», betont Zurbuchen. Dabei knüpft er nicht nur an den Ustertag 1830 an, sondern auch an die Schlacht am Morgarten von 1315. Dabei nennt er die Schweizer Eigenständigkeit, Beweglichkeit und Klugheit als Erfolgsrezeptoren. «Die Herausforderungen unserer Zeit verlangen Neugier, Staunen und Verantwortung — und den Mut, sie zu leben.» So bleibe die Schweiz ein Land, in dem Neugier gefördert, Staunen möglich und Freiheit verteidigt werde.
14.54 Uhr: Unter tosendem Applaus steigt Thomas Zurbuchen von seiner Kanzel herunter. Nach einer weiteren filmreifen Musikeinlage werden die Ehrengäste und schliesslich alle anderen Gäste verabschiedet, bevor um
15.12 Uhr Salutschüsse unter der Kirchentreppe abgefeuert werden. Nun macht sich die ganze Menschenmenge mit Begleitung der Tambouren und Pfeifer in die Landihalle auf, wo sie der öffentliche Apéro erwartet.



