Der neue Ferag-Chef redet Tacheles
Auf einen Sonntagsspaziergang durfte Manfred Zurkirch nicht hoffen. Als der promovierte Physiker am 1. Juni 2019 die Leitung der Ferag AG übernahm, musste er zügig harte Einschnitte vornehmen: Bis zu 150 Mitarbeiter werden ihren Job in Hinwil demnächst verlieren – fast ein Drittel der dortigen Belegschaft (wir berichteten).
Schon länger zeichnete sich ab, dass die Weltmarktführerin von Förder- und Verarbeitungssystemen für die Printmedien mit dem Niedergang der grafischen Industrie zu kämpfen hat. Seit einigen Jahren versucht sie daher, die «Intralogistik» als neues Geschäftsfeld aufzubauen. Darunter versteht man die logistischen Material- und Warenflüsse innerhalb eines Betriebsgeländes. Bisher kostete der neue Geschäftsbereich allerdings mehr als er einbrachte. So rutschte die Ferag in die roten Zahlen.
Schwierige Startbedingungen also für Zurkirch, der zuvor den Verpackungsspezialisten Packsys Global in Rüti erfolgreich managte.
Herr Zurkirch, Sie sind noch keine vier Monate Ferag-Chef und mussten bereits einen Abbau von bis zu 150 Stellen verkünden. Sehnen Sie sich schon nach Ihrem alten Arbeitgeber zurück?
Manfred Zurkirch: Ich hatte in der Tat tolle Jahre mit der Packsys Global. Die aktuelle Lage mag schwierig sein, aber ich schaue immer vorwärts im Leben. Mein Wechsel zur Ferag war eine ganz bewusste Entscheidung. Natürlich kommt es manchmal vor, dass ich schlecht schlafe, weil es so viel zu tun gibt.
Wussten Sie, worauf Sie sich da einlassen?
Ich würde sagen: 70 zu 30. Dass wir einen erheblichen Stellenabbau prüfen müssen, war mir von vornherein klar. Andere Dinge sind mir erst durch die Detailanalyse bewusst geworden. Wir arbeiten mit externen Beratern zusammen, um meine Lernkurve zu beschleunigen. Heute weiss ich bedeutend mehr, etwa was unsere Wettbewerbsfähigkeit betrifft und wo wir investieren müssen.
Vor Ihnen liegt eine Herkulesaufgabe.
Im Laufe meiner Karriere wurden die Firmen immer ein bisschen grösser und die Themen komplexer. Bei der Packsys gab es auch eine Zeit, wo wir Stellen abbauen mussten, wenn auch nicht um 30 Prozent. Die letzten drei Geschäftsjahre waren dafür Rekordjahre in der Firmengeschichte. Wenn wir in fünf Jahren etwas Ähnliches für die Ferag vorweisen können, haben wir alles richtig gemacht. Jetzt geht es erst einmal darum, die Firma überhaupt wieder profitabel zu machen.
Zur Person
Manfred Zurkirch (49) ist seit 1. Juni 2019 CEO der Ferag AG mit Sitz in Hinwil. Er hat langjährige Erfahrung im Industriebereich und war in verschiedenen Unternehmen in leitenden Positionen tätig. Zuletzt stand er während sechs Jahren der Packsys Global AG in Rüti vor. Zurkirch, der aus der Innerschweiz stammt, hat an der ETH Zürich Physik studiert und mit einer Dissertation in Experimentalphysik abgeschlossen. jöm
Steckt die Ferag in einer Krise?
Das würde ich schon sagen. Der Abbau von so vielen Stellen tut ja auch operativ weh. Das Grafik-Business ist schneller geschrumpft, als man erwartet hatte. Gleichzeitig sind wir in der Intralogistik noch nicht profitabel. Dazu müssen wir uns erst eine starke Position am Markt erkämpfen.
Sehen Sie sich vor allem als Krisenmanager?
Es ist ein Spagat: Einerseits bin ich Krisenmanager und muss dafür sorgen, dass der Mittelabfluss kleiner wird – nicht nur durch Stellenabbau, sondern auch durch generelle Kostensenkungen. Anderseits muss ich den Markt analysieren und schauen, wie wir uns positionieren, um wieder zu wachsen.
In den letzten Jahren hat man sich auf technische Abenteuer eingelassen.»
Manfred Zurkirch, CEO Ferag AG
Und was beansprucht Sie am meisten?
Schon das Krisenmanagement. In den letzten zwei, drei Jahren hat man sich auf technische Abenteuer in der Intralogistik eingelassen, die wir jetzt beenden werden. Vermutlich wollte man damals schnell wachsen und war ungeduldig. Es sind Produkte verkauft worden, die wir so gar nicht liefern konnten. Dadurch haben wir viel Zeit und Geld verloren.
Beschränkt sich der Stellenabbau auf Hinwil oder müssen Mitarbeiter an anderen Standorten auch um ihren Job bangen?
Das kann ich jetzt noch nicht abschätzen. Wir müssen zuerst unsere Markt- und Produktstrategie fertig entwickeln: Wo wollen wir hin? Welche Märkte wollen wir künftig mit welchen Produkten bedienen? Einige Verkaufsniederlassungen werden wir vielleicht weiter ausbauen, andere eher abbauen.
Ist die grafische Industrie ein sterbendes Geschäft?
Nein, sie bleibt ein wichtiges Standbein, wenn auch auf kleinerer Flamme. Jetzt müssen wir den Kundendienst weiter ausbauen. Es gibt viele Piraten, von denen wir uns das Business zurückholen können.
«Die heutige Situation ist das Ergebnis eines längeren Prozesses und keine schlagartige Entwicklung.»
Manfred Zurkirch, Ferag
Nach dem Rücktritt Ihres Vorgängers Jürg Möckli im Oktober 2018 hatte die Interimsgeschäftsführung mitgeteilt, die Ferag sei «fit für die Zukunft» und stehe wirtschaftlich «auf soliden Pfeilern». War das Wunschdenken?
Darüber kann ich nur mutmassen. Sicher war vor zwölf Monaten nicht alles bestens. Die heutige Situation ist das Ergebnis eines längeren Prozesses und keine schlagartige Entwicklung.
Wie wollen Sie die in Sie gesetzten Erwartungen erfüllen?
Der Druck ist gross, aber ich bin ein analytischer Mensch und nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Zudem habe ich mich als CEO immer stark nach aussen orientiert, an den Kunden. Ich will die neusten Trends aus erster Hand erfahren und verstehen – nicht durch den Filter meiner Mitarbeiter. Wir haben jetzt einen Businessplan aufgestellt, um den Turnaround hinzubekommen. Das birgt Risiken. Ob uns bei der Umsetzung immer alles gelingt, wissen wir heute nicht.
Zehrt die Ferag bis heute von den Errungenschaften aus den goldenen Zeiten?
Das stimmt ungefähr. Unser Kundendienstgeschäft bedient zu 99 Prozent die grafische Industrie. Dort ist die installierte Basis weiterhin riesig. Wir verkaufen zwar viel weniger Maschinen als früher, aber wenn, dann lohnt es sich nach wie vor. Klar: Vor zehn, 15 Jahren hatten wir höhere Margen, der Markt war grösser und die Kunden gaben mehr Geld aus. Heute schauen die Zeitungshäuser auf jeden Franken. Bei der Intralogistik ist die installierte Basis dagegen noch gering. Wir haben aber im letzten halben Jahr vielversprechende Projekte akquiriert.
Was für Projekte?
Es handelt sich um Förder- und Sortierlösungen für die Marktführer im E-Commerce. Das sind bedeutende Kunden, die uns ausprobieren wollen. Wenn wir unsere Sache gut machen, winken Anschlussaufträge.
«Am Schluss blieben Rechnungen offen, weil Kunden unzufrieden waren.»
Manfred Zurkirch, Ferag
Bisher war die Intralogistik ein Verlustgeschäft. Was lief schief?
Es fehlte der Fokus. Die Intralogistik ist ein weites Feld mit verschiedensten Segmenten: E-Commerce, Automotive, Retail. Man wollte überall hinein. Dabei hat jedes Segment eigene Standards und Besonderheiten. Dessen war man sich nicht genug bewusst. Am Schluss blieben Rechnungen offen, weil Kunden unzufrieden waren. Künftig beschränken wir uns auf zwei, drei Segmente, darunter den E-Commerce, und gehen dort in die Tiefe.
Hätte man die Neuausrichtung auf die Intralogistik früher anpacken müssen?
Schwer zu sagen. Die Bestrebungen dazu laufen ja nicht erst seit Kurzem. Wäre ich schon vor sechs, sieben Jahren CEO gewesen, hätte ich wohl darauf gedrängt, viel mehr Marktinformationen zu beschaffen: Wo gibt es Wachstumsnischen, in denen wir wettbewerbsfähig sein können? Das müssen wir jetzt alles nachholen.
Was macht die Intralogistik so attraktiv und gleichzeitig so anspruchsvoll?
Attraktiv ist das Wachstum. Beim E-Commerce reden wir von 13 bis 14 Prozent pro Jahr. Das ist extrem. Parallel dazu steigen die Investitionen der Anbieter in die Intralogistik. Dadurch gibt es Platz für zusätzliche Player am Markt. Andererseits treffen wir auf etablierte Konkurrenten, vor allem aus Deutschland, die viel grösser sind als die Ferag.
Und die technischen Hürden?
Anders als in der Grafik, wo wir klassische Maschinenbauer sind, funktioniert die Intralogistik häufig ohne grosse Maschinen. Es gibt vielleicht noch einen Sortierer, aber 90 Prozent der Anlagen bestehen aus Förderbändern und -bügeln. Der Fokus verschiebt sich damit auf die Software. Wir müssen hier umdenken, modularer werden, weil zentrale Steuerelemente fehlen.
«Der Entwicklungsaufwand ist deutlich geringer, das Risiko überschaubar.»
Manfred Zurkirch, Ferag
Entwickeln Sie die Software inhouse?
Ja, wir haben eine eigene Softwareabteilung. Mit 60 Mitarbeitern ist sie für eine Ferag relativ gross. Aber man darf nicht vergessen: Die grössten deutschen Konkurrenten verfügen über Abteilungen mit bis zu 1000 Entwicklern.
Wie wollen Sie da mithalten?
Dadurch, dass wir unseren Lieferumfang und die Schnittstellen zu den Materialfluss- und Warenhaussystemen klarer definieren. Der Entwicklungsaufwand ist deutlich geringer, das Risiko überschaubar.
«Man hat Deals für 10 oder 15 Millionen Franken abgeschlossen.»
Manfred Zurkirch, Ferag
Das heisst?
Wir verkaufen unsere Lösungen vermehrt an Integratoren. Das sind Firmen, die die Verantwortung für ein gesamtes Intralogistiksystem, eine Halle, übernehmen – also auch die Anbindung der einzelnen Elemente an die Software-Architektur. Früher wollte die Ferag das auch. Man hat Deals für 10 oder 15 Millionen Franken abgeschlossen. Das tönt zwar toll, aber wenn es am Schluss 20 Millionen Franken kostet, weil man Tausende Softwarestunden investieren muss, ist das ein Verlustgeschäft.
Wie wollen Sie Kostenexplosionen künftig vermeiden?
Wir haben einen Kontrollmechanismus eingeführt. Jeden Freitag kommen alle Abteilungsleiter zu einer Sitzung zusammen. Dort prüfen wir die Kosten, das technische Risiko und die Abnahmekriterien eines Projekts, bevor es verbindlich angeboten wird. In der Vergangenheit hat der Sales-Bereich viele Entscheide gefällt, ohne die technische Realisierbarkeit im Blick zu behalten. Das war tödlich.
«Es ging auch darum, die Firmenstruktur zu vereinfachen.»
Manfred Zurkirch
Wenn Sie künftig auf Schnittstellen setzen, bleibt das Risiko überschaubar, der Umsatz aber auch. Wie wollen Sie so die Lücke schliessen, die durch den Strukturwandel in der grafischen Industrie entstanden ist?
Indem wir versuchen, unsere Systeme zu standardisieren. Dadurch können wir den Entwicklungsaufwand verringern und gleichzeitig mehr Kunden bedienen. Es kommt darauf an, den Zuschnitt unserer Produkte so zu wählen, dass möglichst wenig individueller Zusatzaufwand entsteht.
Neben der Integration der Tochterfirma Denipro kam es in den letzten Monaten zu mehreren Umbaumassnahmen (siehe Box unten). Was steckt dahinter?
Wir wollen uns fokussieren. Aus diesem Grund haben wir unter anderem die Denipro integriert. Zudem ging es auch darum, die Firmenstruktur zu vereinfachen. Bis vor Kurzem war der Vertrieb von der Ferag getrennt. Aber wie soll man das Krisenmanagement leisten, wenn man den Vertrieb nicht unter sich hat?
«Aus heutiger Sicht würden wir nicht mehr bauen.»
Manfred Zurkirch, Ferag
Die Unterordnung des Vertriebs unter die Ferag ging auf Ihren Wunsch zurück?
Ja, sonst hätte ich den Vertrag nicht unterschrieben.
Gleichzeitig ist ein aufwendiger Neubau in Hinwil fertiggestellt worden. Warum leistet man sich ein solches Projekt in schwierigen Zeiten?
Das Projekt stammt aus einer Zeit, als die Ferag noch auf dem Wachstumspfad war. Ursprünglich wollte man in diesem Gebäude die ganze Forschung und Entwicklung unterbringen. Der Bau liess sich dann nicht mehr stoppen, weil die Verträge längst unterzeichnet waren. Aus heutiger Sicht würden wir nicht mehr bauen. Ziel ist, das Gebäude zu vermieten. Eine finanzielle Belastung, wie manche vermuten, ist es aber nicht.
Ein Konzern im Umbruch
Die Ferag AG mit Sitz in Hinwil ist Weltmarktführerin von Förder- und Verarbeitungssystemen für die Printmedien, die seit einigen Jahren auch Lösungen für die Intralogistik (d.h. logistische Material- und Warenflüsse innerhalb eines Betriebsgeländes) entwickelt und produziert.
Die Ferag gehört zur Walter Reist Holding, deren andere Tochterfirma WRH Global bis vor Kurzem für den Vertrieb zuständig war. Neu ist der Vertrieb direkt der Ferag unterstellt. Zudem trennte sich die Ferag im August von ihrer Hinwiler Tochterfirma Valecom, einem Anbieter von Werbedienstleistungen, sowie im Januar von der PMC Print Media Corporation in Oetwil am See.
Ende Januar hatte die Ferag die Schliessung ihrer Tochtergesellschaft Denipro, eines Lagerlogistiklieferanten, in Weinfelden (TG) bekanntgegeben. Im Zuge dessen verloren 37 Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz, 13 weitere bekamen ein Stellenangebot in Hinwil.
Ende August kündigte die Ferag den Abbau von bis zu 150 Arbeitsplätzen in Hinwil an. Verantwortlich dafür macht die Geschäftsleitung hohe finanzielle Einbussen infolge des Strukturwandels in der grafischen Industrie sowie aufwendige Investitionen im Bereich Intralogistik. Das Konsultationsverfahren wird in Kürze abgeschlossen.
Derzeit beschäftigt die Ferag in Hinwil 512 Mitarbeiter. jöm