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Gesellschaft

Seit 1830 in Familienbesitz

Das Wirtepaar Baumann-Seinet sagt dem «Adler» in Grüningen Adieu

Tradition mag etwas Wunderschönes sein, bis sie zur Last wird. Über drei Jahrzehnte gaben die Baumann’s alles und verabschieden sich erleichtert von ihrem Gasthof.

Für Harry Baumann gehen drei Jahrzehnte in seinem «Adler» in Grüningen zu Ende.

Foto: Simon Grässle

Das Wirtepaar Baumann-Seinet sagt dem «Adler» in Grüningen Adieu

Tradition mag etwas Wunderschönes sein, bis sie zur Last wird. Über drei Jahrzehnte gaben die Baumanns in Grüningen alles und verabschieden sich mit gemischten Gefühlen bald von ihrem Gasthof.

Die vernachlässigten Träume, das Missachten der eigenen Gesundheit nach unzähligen 75-Stunden-Wochen, das ständige Kalkulieren, eine gewisse Entfremdung vom eigenen Ich – nach viel Schweiss und investiertem Herzblut zieht Harry Baumann einen Schlussstrich. Über den anstehenden Verkauf des seit 1830 in Familienbesitz befindenden Gasthaus Adler sagt er nur: «Ich freue mich darauf, nach über 30 Jahren loslassen zu können.» Es gäbe im Gastgewerbe unzählige Beispiele von Wirten, denen der rechtzeitige Absprung nicht gelinge.

Mit dem «Loslassen» war es für den gelernten Koch und seine Frau Nicole aber gar nicht so einfach. Nach intensiven Diskussionen mit ihren Kindern hatte sich gezeigt, dass diese für eine Übernahme nicht motiviert sind. «Eine familieninterne Nachfolge zu erzwingen, wäre erfahrungsgemäss auch kaum von Erfolg gekrönt gewesen», betont Baumann.

Sie beschlossen, einen Makler mit dem Verkauf der 195 Jahre alten und damit ältesten Gaststätte in Grüningen zu beauftragen. Das war schon im Frühjahr 2024.

Letztlich dauerte es doch mehr als eineinhalb Jahre, um einen Käufer für den «Adler» zu finden. Pächter waren für die beiden nie infrage gekommen. «Meine Mutter hat einst zweimal verpachtet, das ging nie gut», erklärt der Wirt. Ausserdem trage man als Besitzer weiterhin ein gewisses Mass an Verantwortung – und von ebendieser wollten sie sich entbinden.

Der Landgasthof Adler ist seit 1830 im Besitz der Familie Baumann. Der erste Wirt, Hans Jacob Baumann, war Friedensrichter und Hauptmann. Spätere Nachfolger waren unter anderem Kirchenpfleger oder Gemeinderäte. Hermann Baumann-Wäspi (1901–1929) war gar Gemeindepräsident in Grüningen. Die «letzte» Generation der Baumanns mit Harry Baumann und Nicole Seinet wirtete von 1992 an und übergibt per Ende Januar 2026 das Zepter definitiv in neue Hände. Zum «Adler» gehören neben dem Restaurationsbetrieb auch acht Hotelzimmer, eine grosse Scheune und Parkplätze.

Wenig Kindheit, viel Verzicht

Was das riesige Erbe betrifft, verspürt Harry Baumann inzwischen kein Pflichtgefühl mehr. Von einem Verrat an der Familientradition will er auch nichts wissen. Er ist froh, das Grundstück mit Gaststätte samt Inventar veräussern zu können. Er, der den «Adler» in siebter Generation leitete und bis zu seiner Lehrzeit vorwiegend im Gasthaus wohnte, sagt: «Wenn ich an meine Kindheit denke, kommt mir ein eher negatives Vater-Sohn-Verhältnis in den Sinn.»

Generell seien seine Erinnerungen an damalige Zeiten nicht die besten, weshalb er gut ohne das Gasthaus zurechtkommen werde. «Wir mussten vor den Gästen meist strammstehen und wurden eher zu repräsentativen Zwecken gebraucht.» Er erinnert sich auch daran, wie er und seine Schwester Eltern hatten, die zwar immer im Hause waren, ihren Kindern aber kaum je die notwendige Aufmerksamkeit schenken konnten.

Für viele Stammgäste und überhaupt manche Einwohner von Grüningen ist der «Adler» ohne die Baumanns nur schwer vorstellbar. «Wir hörten oft, wie schade es sei und werden gefragt, warum wir aufhören», sagt Baumann. In Grüningen hätte sich eine Gruppe gar zur «IG Adler» zusammengeschlossen. «Sobald von höheren Summen geredet wird, verflüchtigt sich das Interesse jedoch ziemlich schnell.»

Ein Herr lächelt in die Kamera.
Harry Baumann ist die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Der Abschied vom «Adler» löst bei ihm kaum Wehmut aus.

Auch aus dem direkten Umfeld der Baumanns gab es ein paar Interessenten, konkret wurde es allerdings nicht. «Auch für einen Immobilienentwickler wären nur der Parkplatz und das Bauland attraktiv, nicht aber der Betrieb», weiss Baumann.

Zeitweilige Geheimhaltung

Inzwischen ist klar, dass die Gaststätte in einer ähnlichen Form weiterlebt. Bei den Stammgästen herrscht offenbar grosse Erleichterung. In Grüningen gehe bereits die Neugierde um, wie Baumann sagt. Um wen es sich konkret handelt, darf er noch nicht verraten.

Sicher ist, dass ein gestandenes Wirtepaar auf die Baumanns folgt. Zudem bleiben den künftigen Wirten der Küchenchef und überhaupt das ganze Team zumindest in der Übergangsphase erhalten. «Was für einen guten Start entscheidend sein könnte.»

Auch Baumann selbst wird nicht von einem auf den anderen Tag verschwinden, sondern will für einen guten Anfang im nächsten Kapitel des «Adlers» sorgen. Mit seiner Stammkundschaft und seinem Team feiert er Ende Januar ein Abschlussfest. Im März soll die «Antrinkete» mit den neuen Wirten folgen.

Was Baumann dann macht, weiss er schon ganz genau: «Ich will mit dem Fahrrad für ein paar Jahre unterwegs sein.» Seine Frau Nicole befindet sich derzeit in der Endphase ihrer Ausbildung zur Pflegefachfrau und wird künftig für die Spitex arbeiten. «Für uns wie für den ‹Adler› beginnt bald ein neues Kapitel.»

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