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«Ab sofort bin ich Michelle Halbheer»

So viele Personen wie noch nie haben dieses Jahr ihren Geschlechtseintrag geändert. Eine von ihnen ist die 22-jährige Volketswiler Schulpflegerin und Mitte-Politikerin Michelle Halbheer. Das ist ihre Geschichte.

Die 22-jährige Michelle Halbheer studiert Geomatik an der ETH Zürich

Fotos: Silas Zindel

«Ab sofort bin ich Michelle Halbheer»

Schon in der Primarschule wollte ich lieber ein Mädchen sein. Meiner Mutter habe ich das einmal als Kind gesagt. Auf dem Pausenplatz konnte ich mit der Hackordnung der Jungs nichts anfangen, und ich wurde gemobbt.

Eigentlich hätte ich gerne getanzt und wäre geritten, aber ich wollte nicht noch stärker ausgegrenzt werden. Ich hatte oft psychische Tiefs und war zwischenzeitlich nahe am Suizid. Mit meinem Wunsch, eine Frau zu werden, habe ich dies aber nie in Verbindung gebracht. 

Auch im Gymi wollte ich immer als Frau leben. Ich habe es einfach stets verdrängt. Das klingt jetzt brutal, aber ich sagte zu mir: Du willst eine Frau sein, aber jetzt bist du halt ein Mann. Pech gehabt. Lern damit umzugehen. Du bist ein Fehler. So etwas soll es nicht geben. 

Erst als ich mich in der Jungen BDP und später im Co-Präsidium der Jungen Mitte mit queeren Themen politisch auseinandersetzte, habe ich realisiert: Wenn ich eine Frau sein will, kann ich auch eine Frau werden.

Vor gut einem Jahr habe ich das dann meiner Partnerin gesagt, was für mich extrem schwierig war. Ich hatte Angst, dass ich Ablehnung erfahre, obwohl wir schon sieben Jahre zusammen sind. Aber sie hat mich stark unterstützt.

Zur Person: Michelle Halbheer

Mit 15 Jahren trat Michelle Halbheer aus Volketswil der Jungen BDP bei und engagierte sich im Jugendparlament. Heute ist sie Co-Präsidentin der Jungen Mitte und seit März Schulpflegerin in Volketswil. Die 22-Jährige kandidiert nächstes Jahr für den Kantonsrat und studiert an der ETH Geomatik im Master. (tiw)

Mit ihr im Zimmer und in den Ferien habe ich mich dann wie eine Frau bewegt. Ich habe Frauenkleider getragen: einen BH und einen Rock. Und meine Partnerin hat mich Michelle genannt. Das hat sich für mich unheimlich stimmig angefühlt. Ich hatte das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, dass ich hübsch aussehe.

Ich habe mich richtig und wohl in meinem Körper gefühlt. Und ich habe mehr gespürt, mehr geschmeckt – alle Sinne plötzlich stärker wahrgenommen. 

Als nächster Schritt sagte ich es meiner Familie. Dass mein engster Kreis nun von meinem intimen Wunsch wusste und mich unterstützte, gab mir grosse Sicherheit.

Am Morgen war ich zu Hause in Volketswil Michelle und löste Übungen für die ETH. Wenn ich aus dem Haus ging, schminkte ich mich ab, musste schauen, dass ich wieder halbwegs männlich daherkomme und dass ich mich ja nicht als Michelle vorstelle. Ich hatte Angst, dass ich mich aus Versehen oute.

« Ausser meiner Familie und meiner Partnerin und meinen engsten Freunden wusste niemand von Michelle. »

Für meine Familie war diese Phase schwierig. Mein Bruder nannte mich weiterhin Mike, weil er Panik hatte, dass er sich sonst einmal verplappert. Und was sollte meine Partnerin ihren Eltern sagen, wenn sie fragten, wie es Mike geht?

Einmal war ich zu Hause als Michelle auf der Toilette, und der Nachbar klingelte und kam ins Haus. Ich war dann wie gefangen und verliess die Toilette erst wieder, als er weg war.

Ausser meiner Familie und meiner Partnerin und meinen engsten Freunden wusste niemand von Michelle. Über Internetforen suchte ich anonym Kontakt mit anderen trans Personen und las viel darüber. Ich habe mir aber nie von jemandem persönlich Hilfe geholt, aus Angst vor einem Outing. 

Dieses Jahr war ich im Sommer an der Pride in Zürich, die das Motto «Transvielfalt leben» hatte. Ich war als Mike dort und hatte mir fest vorgenommen, beim Stand des  Transgender Networks Switzerland  vorbeizugehen. Doch ich traute mich nicht.

Das fühlte sich für mich wie eine Niederlage an. Denn ich hatte darauf hingefiebert und gedacht, dass ich endlich Antworten auf die Fragen bekomme, die sich mir schon lange stellten.

Pride Zürich. Viele Menschen stehen in der Sonne und tanzen.

Das Hin und Her zwischen Mike und Michelle war für mich schwierig und anstrengend, weil ich mein wahres Ich immer wieder verstecken musste. Am liebsten hätte ich ein Transparent hochgehalten, auf dem steht: Ich bin Michelle. Ich hatte Selbstzweifel und fragte mich: Schaffst du das überhaupt? Ist es das Richtige?

Irgendwann begann ich, mein Outing zu planen. Ich wusste, dass ich es öffentlich machen muss, weil ich Co-Präsidentin der Jungen Mitte und Schulpflegerin in Volketswil bin. Ich wusste nicht, wie es die Stimmbevölkerung aufnimmt. Ob es Hasskommentare und Forderungen nach einem Rücktritt gibt. Und auch nicht, wie meine Partei darauf reagiert. 

Über den Zeitpunkt und die Art des Outings habe ich lange nachgedacht – doch dann kam alles von selbst. Mein Laptop hat mich geoutet. An der ETH habe ich Mitstudentinnen eine Codesprache erklärt. Einer Kollegin ist dann aufgefallen, dass an einem Ort bereits Michelle stand. Für mich war das ein Riesenschock und für sie sehr unangenehm.

Aber dann war es auch ein unglaublich befreiender Moment, denn ich wusste: Jetzt muss ich den Schritt wagen. Ich wurde sozusagen über den Schatten gesprungen. Meine ganzen Planereien lösten sich auf. Es war ein Moment der Freiheit. Ich bin Michelle. 

Im vergangenen März kandidierte Michelle Halbheer für die Schulpflege in Volketswil. Damals noch mit dem Namen Mike Halbheer. 

Ich erstellte dann eine Liste, mit allen Personen, die ich persönlich über meine Transition informieren wollte: Freunde, Familie, Parteimitglieder, Schulpflegerinnen. Ich habe alle angerufen und gesagt, dass ich ab nächster Woche Michelle sein werde und dass sie dies bitte noch für sie behalten sollen.

Ablehnung habe ich fast keine erfahren. Einige Menschen waren überfordert, weil sie nicht wussten, wie man mit trans Personen umgeht. Klar gibt es jetzt SRF-Doks über trans Frauen und trans Männer. Aber es ist halt immer noch ein neues Thema für viele. Auch mir haben Vorbilder gefehlt.

Am vergangenen Freitag bin ich in Volketswil auf das Zivilstandsamt gegangen und habe meinen Geschlechtseintrag geändert. Der Prozess ist seit diesem Jahr wirklich sehr einfach, und das ist superschön. Ich musste keine mühsamen Fragen beantworten, habe unterschrieben – und dann war es so weit. Das war ein riesiger Moment.

Vorher hatte ich nicht den Mut, zu sagen, dass ich Michelle bin. Und plötzlich war es offiziell. Es steht auf allen meinen Dokumenten. Das gab mir die Sicherheit, rauszugehen und zu sagen: So, jetzt bin ich eine Frau. Ich trage Frauenkleider, schminke mich und gehe auf die Damentoilette. Ich bin Michelle.

Auf Twitter postete Michelle Halbheer, dass sie ihren Geschlechtseintrag geändert hat.

Am Abend habe ich meine Transition mit Freunden aus dem Gymi gefeiert. Wir waren in Dübendorf in der Bar My Senses und haben dann in Zürich Vegi-Burger gegessen und Billard gespielt. 

Am Samstag habe ich mit meiner Familie angestossen und auf den sozialen Medien gepostet: «Ab sofort bin ich Michelle Halbheer. Das ändert nichts an der Person, die ich bin, und ich hoffe, dass meine Freundschaften bestehen bleiben.»

Am Sonntag hat mich  Tele Zürich  angerufen und in Volketswil eine Strassenumfrage gemacht. Es hat mich sehr gefreut, dass auch ältere Menschen viel Verständnis für meine Transition zeigten. «Es ist ‹verdammi› ehrlich und braucht Mut», sagte ein Pensionär. Eine Seniorin: «Das stört mich gar nicht. Jeder soll sein Leben leben, wie er oder sie will.»

Mike Halbheer heisst ab sofort Michelle Halbheer. Eine Frau, die draussen an einem Tisch sitzt.

Ich glaube, wir sind als Gesellschaft schon viel weiter, als man meinen könnte, und die Abneigung gegen trans Personen kommt vor allem noch von einer lauten Minderheit, die auf Twitter und Instagram anonyme Kommentare hinterlässt. Was mich besonders gefreut hat, war ein Anruf einer trans Person, die noch nicht geoutet ist und sich bei mir für meinen Mut bedankt hat.

Fakten zur Geschlechtsänderung im Kanton Zürich

Dieses Jahr haben im Kanton bislang insgesamt 208 Personen ihren Geschlechtseintrag geändert. Das sind deutlich mehr als in den vergangenen Jahren. Seit Januar ist der Prozess aufgrund einer Gesetzesänderung viel einfacher und dauert nur noch 15 Minuten. Früher waren psychologische Gutachten und gerichtliche Schritte nötig, um den Geschlechtseintrag ändern zu lassen. Jetzt müssen die Personen lediglich beim Zivilstandsamt ein Formular unterschreiben und 75 Franken bezahlen.

Am meisten Geschlechtsänderungen wurden dieses Jahr in der Stadt Zürich durchgeführt, nämlich 89. Das Verhältnis der Geschlechter war in etwa ausgeglichen. Es kamen Kinder aufs Zivilstandsamt, die erst 12 Jahre alt sind, aber auch 75-Jährige. (tiw)

Am Montag bin ich zum ersten Mal als Michelle an die ETH gefahren, was sich sehr gut anfühlte. Ich lief aufrecht aus dem Haus und nicht mehr geduckt – zum ersten Mal seit langer Zeit. 

Den Namen Michelle habe ich gewählt, weil er nahe bei Mike ist. Denn ich war auch vorher zufrieden mit mir abgesehen von der Verpackung. Ausser dem Namen und dem Geschlecht wird sich für mich nicht viel ändern. Meine Freundinnen und Freunde bleiben die gleichen.

Ich studiere immer noch Geomatik und begeistere mich vor allem für GPS-Systeme und für den Weltraum. Ich kämpfe weiterhin, dass es in Volketswil bald einen Pumptrack für Mountainbikerinnen als Treffpunkt für Kinder und Jugendliche gibt. Und ich politisiere am linken Rand der Mitte.

Diese Woche will ich meinen Kleiderschrank ausmisten. Ich muss schauen, was mein Bruder erben will und was meine Freunde wollen. Auch muss ich gewisse Dokumente neu bestellen und die Bank und die Versicherung über meinen neuen Namen informieren.

Was mich sonst noch beschäftigt, ist, wie es körperlich weitergeht. Ich will meine Stimme trainieren und mehr mit der Kopfstimme sprechen lernen. Das ist mir wichtig. Ich kann schon versuchen, femininer zu sprechen, aber ich brummle, und das merkt man. Viele würden meine Stimme wohl nicht mit einer Frau assoziieren, und ich selbst auch nicht.

Und dann gibt es noch die Möglichkeit von Hormonen, Brustoperationen, Gesichtsoperationen und geschlechtsangleichenden Operationen bei den Genitalien. Nicht alle trans Personen machen oder brauchen alles. Ich weiss für mich ziemlich sicher, wo es hingeht, möchte aber nicht öffentlich darüber sprechen.

Aufgezeichnet: Tim Wirth

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