«Wir haben die Chance nicht genutzt»
Auf das Highlight mit den ersten WM-Punkten der Saison in Barcelona folgte für das Hinwiler Sauber Team vor zwei Wochen in Monaco der Rückschlag. Beide Fahrer fielen aus – und es waren spezielle Ausfälle: Marcus Ericsson fuhr während einer Safety-Car-Phase in die Streckenbegrenzung, er sprach hernach von Bremsproblemen. Und Pascal Wehrlein wurde von Jenson Button im McLaren so angeschubst, dass sein Auto auf der Seite liegen blieb, der Unterboden prominent auf den TV-Bildschirmen erschien und man sich fragte, wie seine lädierten Wirbel den Zusammenprall mit der Leitplanke wohl überstanden hatten.
Unterdessen weiss man: Sie haben keinen Schaden genommen, Wehrlein kann ab heute den GP von Kanada in Angriff nehmen, bereits kurz nach Monaco gab der Deutsche nach medizinischen Tests Entwarnung. Monisha Kaltenborn hatte damit gerechnet. «Der Unfall sah spektakulär aus, aber die Geschwindigkeit war nicht so gross. Ich bin erleichtert, dass nichts passiert ist, aber es waren keine grossen Ängste da», sagt sie beim Gespräch einige Tage später in ihrem Büro an der Hinwiler Wildbachstrasse. Ihr Zorn gegen Unfallverursacher Button hatte sich da gelegt, auch wenn sie weiterhin sagt: «Ich kann es nicht nachvollziehen, wie man in dieser Kurve einen solchen Optimismus entwickeln kann.»
Die Ernüchterung nach der Überraschung
Mit grossem Optimismus war nach dem Punktgewinn in Barcelona auch das Sauber-Team in Monaco angetreten. Auch für die Chefin kam der achte Rang von Pascal Wehrlein in Spanien unerwartet. «Ich war sehr überrascht. Dort hat das Auto innerhalb seiner Möglichkeiten funktioniert, der Fahrer hat seinen Job sehr gut gemacht – und die Strategie war ausschlaggebend für das Ergebnis.» Und das, obschon ein eigentlich für Barcelona geplantes Aerodynamikpaket erst in Monaco ans Auto kam. Im Fürstentum allerdings folgte die Ernüchterung. Laut Kaltenborn hatte das aber nichts mit den Updates am C36 zu tun. «Bezüglich Aerodynamik haben wir das gesehen, was wir erwartet hatten. Das Problem waren die Reifen – wie für die anderen Teams auch. Aber für uns war es noch etwas schlechter.»
Die Fehleinschätzungen um den C36
Schlecht sind auch die Perspektiven für die nächsten beiden Rennen. Der Circuit Gilles Villeneuve, wo am Sonntag der GP von Kanada gefahren wird, wie auch der neue Stadtkurs in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, auf dem der Formel-1-Zirkus in zwei Wochen gastiert, sind motorenlastige Strecken mit hohem Vollgasanteil. Genau auf solchen Kursen wirkt sich der Entscheid, mit dem letztjährigen Ferrari-Motor zu fahren, für Sauber sehr nachteilig aus. Und dieser Nachteil ist grösser, als Kaltenborn erwartet hatte. Man hatte sich beim Hinwiler Rennstall ursprünglich auf den Standpunkt gestellt, die Motorenhersteller würden ihre Aggregate eher auf Zuverlässigkeit als auf Leistung trimmen. Eine klare Fehleinschätzung, das muss auch Kaltenborn eingestehen: «Wir wussten, dass wir beim Motor ein Defizit haben, aber wir erwarteten nicht einen so grossen Schritt bei Ferrari.»
Dass man dieses Defizit kompensieren kann, weil sich die Ingenieure bei der Entwicklung des C36 dank des bereits bestens bekannten Motors vollumfänglich auf die Aerodynamik konzentrieren konnten, war eine weitere Fehleinschätzung. «Diese Chance haben wir nicht ganz genutzt», sagt Kaltenborn, «da ist noch mehr Luft». Bereits an den Vorsaisontests in Barcelona habe man feststellen müssen, dass sich auf der Strecke an den Reifen Verformungen zeigten, die man im Windkanal nicht gesehen habe. «Wir mussten erst verstehen, warum es diese Diskrepanz gab.» In die falsche Richtung habe man aber nicht entwickelt. «Das neue Paket ist eine Weiterentwicklung. Wir sehen nun, was wir erwartet haben – in Monaco nicht in der Rundenzeit, weil die Strecke nicht die richtige war dafür. Aber die Richtung stimmt.»
Das Ziel bleibt ambitioniert
Doch nicht nur deshalb hält Kaltenborn an ihrem noch immer ambitionierten Ziel fest: «Wir sehen uns am Ende des Jahres im Mittelfeld. Die finanziellen Möglichkeiten dazu haben wir allemal», sagt sie. Das «Mittelfeld» ist allerdings immer eine Definitionsfrage. «Je weiter vorne, desto besser», sagt Kaltenborn, «wobei ich nicht erwarte, dass wir im oberen Mittelfeld sind – das wäre illusorisch.» Nach sechs von 21 Rennen liegt Sauber mit seinen vier Punkten auf dem 9. und zweitletzten Rang. Der Abstand zu Haas und Renault beträgt zehn Zähler; Williams hat 16 Punkte mehr auf dem Konto. Je besser man in der WM abschliesst, umso mehr Geld erhält man aus dem Vermarktungstopf. «Wir geben uns nicht damit zufrieden, dass wir als Zehnter auch noch etwas bekommen, sondern wir haben einen höheren Anspruch», sagt Kaltenborn.
Mit «wir» meint sie auch die neuen Besitzer Longbow Finance und den Sauber-Verwaltungsratspräsidenten Pascal Picci, der sich kürzlich in Westschweizer Medien auch zu diesem Thema geäussert hatte (siehe Box unten). «Wir sind ein Unternehmen, das gewisse Ziele erreichen muss», sagt Kaltenborn. «Dazu gehört mit der Zeit – niemand erwartet Wunder – auch eine gesicherte Einnahmequelle». Ein Pfeiler davon sind die Gelder aus dem Vermarkungstopf, «dort müssen wir das Maximum herausholen».
Ein anderer wären die Sponsoren, doch die fehlen bei Sauber schon lange. Und Kaltenborn beantwortet entsprechende Fragen seit Jahren mit demselben Satz: «Da sind wir dran, aber das braucht alles seine Zeit. Ich gehe davon aus, dass das eine oder andere noch kommen wird».
Dennoch spricht sie von finanzieller Stabilität und sagt – wie üblich ohne Zahlen zu nennen –, das Budget sei im vergleich zur letzten Saison gesteigert worden. Das heisst, Longbow schiesst derzeit Geld ein, um das Budget auszugleichen. Wie lange möchten die neuen Investoren dies tun? Hat Kaltenborn eine Deadline, um Sponsoren zu akquirieren? «Nein», sagt sie, «es macht keinen Sinn, Deadlines zu geben, weil wir nicht bestimmen, was passiert.» Die Sponsorensuche sei schwierig, beteuert Kaltenborn. «Das sieht man ja auch bei McLaren, einem Team, das vom Markenwert und von der Geschichte her ganz andere Voraussetzungen hat als wir.»
McLaren als Verbündeter?
A propos McLaren-Honda: Derzeit ist der Traditionsrennstall der einzige Gegner, den Sauber hinter sich hat. Nächste Saison ändert sich das, wenn Sauber als Motorenkunde ebenfalls zu Honda wechselt. Von einem neuen Verbündeten möchte Kaltenborn aber nicht sprechen. «Es wird eher eine Lieferbeziehung sein – mehr ist nicht vorgesehen.» Dass Sauber das Getriebe von McLaren beziehen wird, will Kaltenborn weder bestätigen, noch dementieren, sie sagt lediglich: «Dazu werden wir zu gegebener Zeit etwas sagen». Dass McLaren Interesse daran hat, den Windkanal in Hinwil zu nutzen, stellt sie nicht in Abrede. Die Briten – sie belegen derzeit den Windkanal von Toyota in Köln – hätten wie andere Teams auch in der Vergangenheit immer wieder Interesse signalisiert – «wir sind offen für Kunden, wenn es zeitlich passt, Berührungsängste haben wir keine», sagt Kaltenborn. «Es gibt auch durchaus noch einige freie Kapazitäten im Windkanal». Frei geworden sein dürften sie vor allem auch nach dem Ausstieg von Audi aus der Langstrecken-WM. Der deutsche Hersteller war in Hinwil einer der wichtigsten Drittkunden.
Keine Angst vor Honda-Out
In welchem Ausmass diese gegenseitige «Lieferbeziehung» zustande kommt, bleibt abzuwarten – denn die Möglichkeit, dass Sauber in der nächsten Saison einziger Honda-Kunde sein wird, ist grösser geworden. Gerüchte über eine baldige Trennung von McLaren und Honda gibt es schon länger, nun scheint die McLaren-Chefetage die Geduld mit den Japanern zu verlieren. Geschäftsführer Zak Brown sagte gegenüber der Agentur «Reuters»: «Wir sind bald am Limit. Wir können nicht ewig so weitermachen».
Kaltenborn gibt an, dass solche Dinge «irrelevant» seien für Sauber. «McLaren und wir sind für Honda zwei völlig unterschiedliche Projekte», sagt sie. Angst vor einem Honda-Ausstieg hat sie offenbar nicht – und sie glaubt, dass die Japaner ihre Probleme lösen können. «Honda hat sich verpflichtet, mit uns weiterzumachen. Sie sind erst im dritten Jahr, waren ein Nachzügler und hatten einen komplett neuen Motor bauen müssen. Schauen Sie sich doch an, wie lange unser jetziger Motorenlieferant gebraucht hat.» Der heisst Ferrari und kämpft jetzt – im vierten Jahr der Hybrid-Ära – um den Weltmeistertitel.
Das Bekenntnis der neuen Besitzer
Öffentliche Auftritte hat der Sauber-Verwaltungsratspräsident Pascal Picci keine, Medientermine sind ebenfalls rar: Der CEO des neuen Sauber-Besitzers Longbow mag Diskretion – er ist Bankier. «Wir verwalten Sauber im Auftrag unserer Kunden. Kennen Sie einen Bankier, der Ihnen eine Liste seiner Klienten gibt?» So beantwortete er die Frage eines Journalisten von «Le Matin Dimanche», als es darum ging, ob tatsächlich die schwedische Rausing-Familie hinter dem neuen Sauber-Eigner stehe. Longbow habe einst tatsächlich zum Tetra-Pak-Konzern der Rausing-Familie gehört, sei aber unterdessen unabhängig und habe auch andere Kunden.Finanzielle Unabhängigkeit hat Longbow Finance – respektive deren Kunden – auch für die Sauber-Gruppe im Sinn. Sie soll dereinst rentabel werden. Man habe keinen Rennstall gekauft, sondern eine Infrastruktur mit enormem Potenzial. Mit der Formel 1 soll Sauber letztlich im Schaufenster stehen. «Das Problem ist, dass der Sport teuer ist», sagt Picci. «Insbesondere brauchen wir Sponsoren. Aber dafür muss das Team glaubwürdig sein und Resultate einfahren. Um dies zu erreichen, werden wir die nötigen Mittel investieren.»