Uster will Beeinträchtigte weniger behindern
Die Beispiele sprudeln nur so: Abstimmen oder wählen etwa – Sehbehinderte scheitern am Ausfüllen der Zettel. Sie erkennen weder das Feld, wo sie Ja oder Nein hineinschreiben müssen, geschweige denn können sie panaschieren und kumulieren. Oder auf dem Einwohneramt: Wer an den Schalter will, muss eine Nummer ziehen. Irgendwann leuchtet diese auf. Wie soll ein Blinder das sehen? Und im Kino sind die meisten Filme heute auf Deutsch synchronisiert und kommen ohne Untertitel aus. Für Nicht-Sprachkundige eine Erleichterung, für Menschen mit Gehörproblemen hingegen ein Nachteil.
«Es sind hundert kleine und grössere Einschränkungen, die das Leben für Menschen mit Beeinträchtigungen erschweren», sagt Urs Lüscher. Er selbst ist stark sehbehindert, arbeitet als Sekretär des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands und ist Mitglied der Arbeitsgruppe für Behindertenfragen der Stadt Uster.
5000 Betroffene in Uster
Diese alltäglichen Einschränkungen für Menschen mit Behinderung will die Stadt Uster in Zukunft zumindest vermindern. «Inklusions-Stadt» nennt Stadtpräsident Werner Egli (SVP) das Projekt, das der Stadtrat auf einen Vorstoss des Gemeinderats hin lanciert hat. «Es geht darum, dass wir die Stadt so anpassen, dass auch Beeinträchtigte möglichst ohne Einschränkungen am Stadtleben teilnehmen können; sei es im Verkehr, beim Einkauf oder bei der Arbeit, aber auch an gesellschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen oder in der Politik», sagt Egli.
In einem ersten Schritt führt die Stadt deshalb eine sogenannte Sozialraumanalyse durch. Dabei will sie herausfinden, welche Bedürfnisse Menschen mit Beeinträchtigung haben – und wie die Stadt ihnen entsprechen kann.
Urs Lüscher und seine Arbeitsgruppe befassen sich schon lange mit dem Thema. Die Sozialraumanalyse begrüssen alle sehr. «Es gibt viel mehr Menschen, die in irgendeiner Form behindert werden, als man denkt», sagt Marianne Rybi-Berweger, Geschäftsleiterin der Behindertenkonferenz Kanton Zürich. Für die Stadt Uster fehlen bisher genaue Zahlen. Schweizweit geht man davon aus, dass etwa 15 Prozent der Menschen sogenannt beeinträchtigt sind. Heruntergerechnet auf die Einwohnerzahl von 34’000 wären das in Uster rund 5000 Menschen.
Paradigmen-Wechsel
Beeinträchtigt im Alltag sind aber wohl noch deutlich mehr Personen. So bezeichneten sich etwa alte Menschen selber oft nicht als beeinträchtigt oder gar behindert, sagt Monika Breul vom Senioren-Netz Uster, die ebenfalls bei der Arbeitsgruppe für Behindertenfragen mitwirkt. «Dabei sind sie oft auf die gleiche Weise eingeschränkt. Etwa, wenn sie über eine Schwelle in den Zug einsteigen müssen, oder im Kino nichts hören.»
Die Definition von «beeinträchtigt» oder «behindert» sei eine wichtige Frage, betonen alle in der Gruppe. Beim Inklusions-Ansatz wird die Behinderung nicht beim Individuum gesucht, sondern bei der Gesellschaft, die behindert. Das heisst: Das Problem ist nicht, dass Urs Lüscher nicht sieht, wann auf dem Amt seine Nummer aufblinkt; sondern dass das Amt nicht so eingerichtet ist, dass es Lüscher signalisieren kann, wann er drankommt. «Die Gesellschaft und der öffentliche Raum muss sich uns anpassen, nicht wir ihr», sagt der Ustermer mit Überzeugung.
Nutzen für Alle
Wo und wie die Stadt Beeinträchtigungen abbauen kann, das soll das Ergebnis der Sozialraumanalyse sein. Im Bereich Bauten etwa sei man bereits seit längerem daran, die Situation zu verbessern, sagt Marcel Kauer, der Leistungsgruppenleiter Infrastrukturmanagement der Stadt. Ein Grossteil der 120 Bushaltestellen auf Stadtgebiet etwa sei bereits rollstuhlgängig. Auch alle öffentlichen Gebäude, besonders aber das Stadthaus, sollen künftig sogenannt barrierefrei sein – ohne Hindernisse für Beeinträchtigte. So schreibt es das Behinderten-Gleichstellungsgesetz des Bundes vor.
Die Stadt wolle aber mehr als nur den Vorschriften nachkommen, sagt Kauer. «Wir versuchen aktiv gegen Behinderungen in der Stadt vorzugehen.» So habe man etwa zusammen mit den Betreibern des Restaurants Porter-House nach Lösungen gesucht, wie auch Rollstuhlfahrer auf der Terrasse ein Feierabendbier trinken können.
Dass die komplett «barrierefreie Stadt» auch in Uster nie erreicht werden wird, ist Lüscher, Rybi-Berweger, Kauer und Breul klar. Zugleich sind sie überzeugt, dass man sie anstreben soll, durch hundert kleine und grosse Verbesserungen. Das dürfe auch etwas kosten. Baue man Behinderungen ab, gewinne die Stadt als Ganzes, sagt Marianne Breul. Bisher Beeinträchtigte etwa könnten vermehrt in Vereinen aktiv sein. «Und wenn ein Haus rollstuhlgängig ist, begrüssen das auch Eltern mit einem Kinderwagen.»