So entsteht die Oberländer Traditionswurst
Markus Lüschers Ärmel sind hochgekrempelt. Heute hat er alle Hände voll zu tun. Vorsichtig schüttet er Fleischstücke in eine hohe Stahlmaschine. Zur Schweinsschulter und Rindsbrust kommen Eis, ein paar Zwiebeln, Gewürz und Salz. Lüscher schliesst den Deckel. Die Maschine, der Kutter, beginnt zu rotieren. Die roten Fleischstücke verwandeln sich in eine rosa Masse.
Schüblig-Herstellung im Video (Video: Daniel Keller)
Eis zur Kühlung
«Das Eis dient dazu, das Eiweiss zu kühlen, damit die Masse die Bindung behält», erklärt der Kutterchef. Heute dreht sich in der Metzgerei Minnig in Bubikon alles um eine fürs Oberland ganz besondere Wurst: den Schüblig. Über 10 000 Stück der Fleischspezialität werden produziert. Damit die Wurst wie geplant am Samstagmorgen bei Detailhändlern, Tankstellen und Dorflädeli in der Region in den Regalen liegt, muss noch einiges passieren.
Die Schwarte gibt den Geschmack
Im Kutterraum hört man sein eigenes Wort kaum, wenn die Maschine dröhnt. Kuttermeister Lüscher beendet den Lärm für den Moment. Er gibt Schweinespeck und Schwarte in die Masse. «Die Schwarte verleiht der Wurst den typischen Schüblig-Geschmack», sagt er. Etwa 40 000 Messer-Umdrehungen später ist es so weit. Die Essenz für den Schüblig ist fertig. «Unsere 13 verschiedenen Sorten basieren auf diesem Grundbrät», sagt Geschäftsführer und Inhaber Karl Minnig. Seine Firma verkauft nicht nur den klassischen Schüblig, sondern auch ausgefallenere Varianten, etwa Chnobli Schüblig, Chümmi Schüblig oder Chäs Schüblig.
Schüblig-Herstellung im Video (Video: Daniel Keller)
Von der Dorfmetzg zum Fleisch-Unternehmen
Vor 25 Jahren übernahm der Metzgermeister die Metzgerei seiner Eltern. Damals hatte der Betrieb den Sitz noch an der Metzggasse in Wald. Seit 2011 ist die Metzgerei in Bubikon ansässig. Mit einer Dorfmetzg hat das Unternehmen mit über 50 Mitarbeitern, modernen Produktions- und Verpackungsanlagen, einer Gesamtfläche von 2500 Quadratmetern und rund 70 000 verkauften Produkten pro Woche nicht mehr viel zu tun.
Fokus auf Detailhandelspackungen
«Angesichts des Lädelisterbens habe ich mich im Jahr 2003 neu orientiert, das Geschäft geschlossen und auf Detailhandelspackungen umgestellt», sagt der 53-Jährige. Der Metzger müsse mit den Produkten zu den Kunden und nicht die Kunden zu den Produkten, so Minnigs Devise.Bei der Produktionsstätte in der Wandhüslen sucht man vergebens einen Laden, der die 350 Fleischerzeugnisse anbietet. «Wir verkaufen nicht direkt an Privatpersonen, sondern beliefern etwa 350 Detaillisten weit über die Kantonsgrenze hinaus bis ins Glarnerland, die Ost- und Innerschweiz, den Aargau oder nach Liechtenstein.»
Acht Meter langer Darm
Damit die Oberländer ihre Wurst am Dienstag verspeisen können, müssen sich die Arbeiter ranhalten. Wurster Lüscher rollt die 110 Kilogramm Brät in einem Wägeli in den nächsten Raum. Hier wird die Masse nach der Zugabe der Zutaten für die jeweilige Sorte in Schweinsdärme gefüllt. In einem Computer kann die Füllmenge eingegeben werden. Je nachdem, ob es ein Cervelat, eine Bratwurst oder eben ein Schüblig werden soll. Peter Halbheer stülpt den etwa acht Meter langen Schweinsdarm über eine Dülle. Aus der spritzt das rosa Brät – sozusagen auf Knopfdruck.
Der gelernte Metzger umfasst den Darm sanft mit Daumen und Zeigefinger und gibt mit dem Bein etwas Druck auf den Hebel. Schon füllt sich der Darm. Nach jeder Portion dreht sich die Dülle. Halbheer scheinen die Schüblige beinahe aus der Hand zu schiessen. Nach nur einer Minute liegen mehrere Dutzend auf der Arbeitsfläche. Sein Kollege nebenan verschliesst die Enden der Würste mit einem Klipp und drapiert sie auf Stangen.
Wurstfüllen braucht Handgeschick
Ich wage es und versuche, selbst ein paar Schüblig herzustellen. So schwer kann das ja nicht sein, denke ich. Bei Halbheer sieht die Arbeit so einfach aus. Ein Irrtum. Ich halte den Darm mit mehr als zwei Fingern an der Dülle und das zu fest. Das Resultat: Der Darm platzt, das Brät landet auf der Arbeitsfläche und auf meiner Schürze. «Sei froh, dass es keine Blutwurst ist», sagt Halbheer und lacht.
3000 Schüblig pro Stunde
Er erklärt mir nochmals seine Technik. Ich müsse den Darm nur leicht mit Daumen und Zeigefinger halten, so dass er langsam durch die Finger gleite. Ich nehme einen zweiten Anlauf und immerhin, die Hälfte der Würste ist intakt. Mein Fazit: Fürs Wurstfüllen braucht man Fingerspitzengefühl. Halbheer, der schon seit 13 Jahren bei der Metzgerei Minnig arbeitet, macht pro Stunde bis zu 3000 Stück Schüblig.
«Ein absoluter Rekord»
Obwohl das Geschäft mit dem Fleisch überregional ist, liegt Minnig die lokale Tradition am Herzen. Aus diesem Grund hat er mit anderen Oberländer Metzgern dafür gesorgt, dass der Schüblig-Ziischtig wiederbelebt wird. «Vor etwa 30 Jahren haben wir begonnen, Werbung dafür zu machen.» Die Bemühungen zeigen bis heute Wirkung. 2007 produzierte die Metzgerei Minnig 1700 Schüblig, letztes Jahr waren es 9000. «Dieses Jahr haben wir sogar die 10 000er Marke geknackt. 10 150 Schüblige wurden bestellt. Das ist ein absoluter Rekord in der Firmengeschichte.»
Kein Gewinngeschäft
Ein Gewinngeschäft ist der Schübligverkauf trotzdem nicht. «Der Aufwand für die Organisation und die Werbung frisst den Nutzen auf», sagt Minnig. Beim Schüblig-Ziischtig gehe es aber nicht um den Umsatz, sondern darum, einen alten Brauch zu leben. «Der Schüblig-Ziischtig ist etwas Tolles für uns Metzger. Wir können mit Stolz unser Handwerk präsentieren.»
Wie am Lagerfeuer
Die Produktion geht weiter. Die Würste wandern in den Rauch-Koch-Schrank. Dort werden sie zuerst getrocknet, dann mit Buchen-Naturholz geräuchert. Der Duft in der Luft erinnert an ein Lagerfeuer. Nach dem Räuchern werden die Schüblige gekocht. Je nachdem, wie dunkel sie werden sollen, wiederholt sich das Prozedere. So etwa für den Füürwehr Schüblig, der eine dunkle Haut hat. Minnig öffnet einen der drei Schränke. Wasserdampf strömt heraus. Es riecht nach Wurst. Der Schüblig wäre nun verzehrbereit.
Kartoffelsalat in der Wanne
Hier ist aber noch nicht Endstation. Die Würste werden in den nächsten Raum geschoben. Dort schneiden drei Mitarbeiter im Stehen gepellte Kartoffeln in Scheiben. Diese landen in einer grossen Stahlwanne. Sie ist gefüllt mit Salatsauce und Peterli. «Zum Schüblig gehört auch Kartoffelsalat», sagt Minnig, der selbst am liebsten den Speck Schüblig isst.
In 67 Geschäften
Vorbei an den fleissigen Arbeitern rollen die Schüblige zur nächsten Station: dem Kühlraum. Hier müssen sie bei etwa Null Grad Celsius abkalten, bevor sie verpackt werden können. Im begehbaren Kühlschrank hängen bereits abgekühlte Schüblige. Diese werden nun in den nächsten Raum gebracht, wo die Verpackung stattfindet. Am Schluss müssen die Würste noch etikettiert werden, bevor sie diesen Samstagmorgen zu den 67 Geschäften im Oberland gebracht werden.
Ein Brauch, der bleibt
In der Mitarbeiterküche darf ich dann einen frischen ungeräucherten Bachtel Schüblig probieren. Vielleicht einen, der mir bei meinem Füllversuch nicht misslungen ist. Die Wurst schmeckt sogar noch besser als sonst – jetzt wo ich weiss, welche Arbeit dahinter steckt. Dass man im Oberland auch in 50 oder 100 Jahren noch den Schüblig-Ziischtig feiert, daran zweifelt Minnig nicht. «Je fortschrittlicher die Welt wird, desto mehr besinnt man sich auf Traditionen.» Zudem sei Wurst Convenience-Food und schnell zubereitet. Daher seien Würste trotz schlechtem Image nicht vom Schweizer Teller wegzudenken.
Ein alter Oberländer Brauch
Der Schüblig-Ziischtig gehört zu den ältesten vorreformatorischen Bräuchen in der Gemeinde Wald und im ganzen Zürcher Oberland. In der Katholischen Kirche bedeutet die Fastenzeit Busszeit zur Vorbereitung auf Ostern. Sie begann am Aschermittwoch und dauerte etwa 40 Tage bis Ostersamstag. Während dieser Zeit galt das Abstinenzgebot. Auf Fleischspeisen wurde verzichtet. Um für die Fastenzeit gewappnet zu sein, schlug sich die Bevölkerung am letztmöglichen Tag, am Dienstag vor Aschermittwoch, den Bauch noch mit vielen Würsten voll. Auch nach der Reformation, die die Fastenzeit abschaffte, pflegte man den Brauch weiter. Deshalb produzieren alle Oberländer Metzger für den Schüblig-Ziischtig spezielle Würste, die während des übrigen Jahres nicht erhältlich sind.