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Sonderschulheim feiert runden Geburtstag

Seit 50 Jahren finden Kinder mit einer Beeinträchtigung im Institut St. Michael in Adetswil ein zweites Zuhause. Heute profitieren auch Erwachsene von den Strukturen, die ständig ausgebaut wurden.

Seit 50 Jahren finden Kinder mit einer Beeinträchtigung im Institut St. Michael in Adetswil ein zweites Zuhause. (Foto: Seraina Boner), 30 Kinder wohnen zurzeit im Sonderschulheim in Adetswil, zehn weitere besuchen die Tagesschule. (Foto: Seraina Boner), Lernen mit allen Sinnen: Musik, Kunst und Bewegung spielen im heilpädagogischen Unterricht eine zentrale Rolle. (Foto: Seraina Boner), Lernen mit allen Sinnen: Musik, Kunst und Bewegung spielen im heilpädagogischen Unterricht eine zentrale Rolle. (Foto: Seraina Boner), Lernen mit allen Sinnen: Musik, Kunst und Bewegung spielen im heilpädagogischen Unterricht eine zentrale Rolle. (Foto: Seraina Boner), Lernen mit allen Sinnen: Musik, Kunst und Bewegung spielen im heilpädagogischen Unterricht eine zentrale Rolle. (Foto: Seraina Boner), Karin und Hans-Rudolf Walker waren jung und voller Tatendrang, als sie 1968 beschlossen, ein auf anthroposophischer Grundlage geführtes Sonderschulheim für Kinder und Jugendliche zu erschaffen. (Foto: Seraina Boner), Lernen mit allen Sinnen: Musik, Kunst und Bewegung spielen im heilpädagogischen Unterricht eine zentrale Rolle. (Foto: Seraina Boner), Lernen mit allen Sinnen: Musik, Kunst und Bewegung spielen im heilpädagogischen Unterricht eine zentrale Rolle. (Foto: Seraina Boner), Lernen mit allen Sinnen: Musik, Kunst und Bewegung spielen im heilpädagogischen Unterricht eine zentrale Rolle. (Foto: Seraina Boner), Lernen mit allen Sinnen: Musik, Kunst und Bewegung spielen im heilpädagogischen Unterricht eine zentrale Rolle. (Foto: Seraina Boner), Lernen mit allen Sinnen: Musik, Kunst und Bewegung spielen im heilpädagogischen Unterricht eine zentrale Rolle. (Foto: Seraina Boner), Lernen mit allen Sinnen: Musik, Kunst und Bewegung spielen im heilpädagogischen Unterricht eine zentrale Rolle. (Foto: Seraina Boner)

Sonderschulheim feiert runden Geburtstag

Das braune Ziegenfell ist kuschelig und weich, es fühlt sich schön an, wenn man damit über die Wange fährt, und es staubt so herrlich, wenn man mit dem Finger ein bisschen darauf klopft. Sophia und Benjamin* lachen – und klopfen gleich noch einmal. Die beiden sitzen sich in einem Schulzimmer des heilpädagogischen Instituts St. Michael hoch über Adetswil an einem Pult gegenüber. Eine ganze Weile hat Sophia ihrem Kollegen zuvor dabei geholfen, Kärtchen mit Abbildungen zu sortieren. Der 14-jährige Junge kann nicht sprechen, und das gleichaltrige Mädchen hilft gerne. Jetzt, wo das Spiel zu Ende ist, klopfen die beiden nacheinander auf das Fell, das für die Pergamentherstellung mit Kreidepulver versehen wurde, und schielen verstohlen zur Lehrerin hinüber. Diese hat die Kinder schon eine ganze Weile beobachtet – und lässt sie gewähren. Dass ein Fell stauben kann: Auch das muss man erst einmal erfahren haben. 

 

In Katrin Witzigs heilpädagogischem Unterricht dreht sich im Moment alles ums Papier. An diesem Freitagmorgen hat die Lehrerin ihren fünf Mittelstufenschülern erklärt, wie man früher Pergament herstellte und wofür man es verwendete. «Das Lernen funktioniert hier stärker über die Handlungsebene als an anderen Schulen. Vieles wird über die Sinne erlebbar gemacht», sagt Witzig. «Wenn die Kinder Dinge ertasten und erspüren, können sie sie besser begreifen.»

Am Anfang wurde improvisiert

Sophia und Benjamin sind zwei von über 200 Kindern mit einer geistigen Beeinträchtigung, die in den letzten 50 Jahren hier oben, an idyllischster Hanglage auf 800 Meter über Meer, zur Schule gegangen sind und im Institut ein zweites Zuhause gefunden haben. Während zehn Kinder nur die Schule besuchen und abends nach Hause fahren, wohnen 30 weitere unter der Woche in einer der fünf Wohngruppen im Internat. In ein paar Tagen, am 1. Mai, feiert das «St. Michael» seinen 50. Geburtstag.

Es wird ein spezieller Tag sein für Karin und Hans-Rudolf Walker, die Gründer und langjährigen Leiter des Instituts. Sie waren jung und voller Tatendrang in jenem Frühling 1968, als vielerorts die Studenten damit begannen, mehr Demokratie, Mitsprache und Gleichberechtigung zu fordern. Die beiden ausgebildeten Heilpädagogen hatten sich von der Aufbruchstimmung anstecken lassen, sie hatten Lust, in der Welt etwas zu bewirken. Und so beschlossen sie, ein auf anthroposophischer Grundlage geführtes Sonderschulheim für Kinder und Jugendliche zu erschaffen, die aufgrund ihrer geistigen Beeinträchtigung nicht bei den Eltern aufwachsen konnten. «Der Bedarf nach Heimplätzen war damals gross. Die Not der Eltern, die für ihr Kind keinen Platz fanden, bewegte uns», sagt Hans-Rudolf Walker.

Ein Haus füllt sich mit Kinderlärm

Auf der Suche nach einer geeigneten Liegenschaft stiessen die beiden 1968 auf das ehemalige Erholungshaus in Adetswil, das 1905 von der Gemeinnützigen Gesellschaft des Bezirks Hinwil erbaut worden war – und jetzt einsam und verlassen hoch oben auf dem Hügel thronte.

 

Abgesehen davon, dass es zunächst bürokratische Hürden zu nehmen galt, war das Geld knapp und das Haus nur spärlich möbliert. Schliesslich musste eine Woche reichen, um die Wände zu streichen, zu putzen und das Haus einzurichten, bevor am 1. Mai die ersten Kinder einzogen. «Wir waren ein kleines Grüppchen von Heilpädagogen und eine bunt zusammengewürfelte Kinderschar. Am Anfang konnte von einer strukturierten Planung noch keine Rede sein», erinnert sich Karin Walker. «Auf dem Papier hatten wir schon ein Konzept ausgearbeitet. Aber dann zogen die Kinder ein, und alles kam etwas anders. Wir mussten improvisieren», sagt ihr Mann und lacht.

Betriebe für 28 Erwachsene

30 Jahre alt war Hans-Rudolf Walker damals, seine Frau war 25 und schwanger mit dem ersten Kind, und seit den turbulenten Stunden dieser ersten Monate im Institut St. Michael in Adetswil ist viel Zeit vergangen. Bis 2005 hat das Paar im Gebäude gewohnt – und gewirkt. «Wir genossen eine gewisse Narrenfreiheit, sei es hinsichtlich Ferienregelung, Lohngestaltung, Tagesablauf oder Freizeitaktivitäten. Wir hatten wenige Vorgaben von den Behörden.» Man habe alle Arbeiten selber ausgeführt, alles geteilt und Entscheide gemeinsam gefällt. «Jeder wusste über alles Bescheid», so Walker.

Mit Leib und Seele hätten sich die beiden Gründer in all den Jahren ihrer Arbeit im Institut verschrieben, sagt ihre Tochter Anne-Kathrin Schmid. Sie ist mit ihren drei Geschwistern im Institut St. Michael aufgewachsen und wohnt noch heute gleich neben dem Schulhaus – als Teil des Heimleiter-Teams, zu dem auch Friedwart Storto und Reto Christ gehören. «Es war ihre Lebensaufgabe», sagt Schmid. Zielstrebig schreiten ihre Eltern an diesem Freitag durch die vertrauten Gänge im über 100-jährigen Hauptgebäude, durch die am Mittag eine fröhliche Kinderschar rennen wird. Die Wände sind aus Holz, die Plattenböden genauso alt wie die Standuhren. Man schäkert kurz mit dem Koch, wirft einen Blick in das eine oder andere Büro und nimmt schliesslich Platz in der alten Bibliothek, in der die Zeit still gestanden zu sein scheint.

Selbstbestimmtes Leben 

Dabei hat sich in baulichen, aber auch in allen anderen Belangen vieles verändert. Ein Schulhaus mit Turnhalle wurde gebaut, dazu kamen mehrere Wohnhäuser. Mit den Höfen Waberg in Adetswil, Oberdorf in Bäretswil und der Hofschür im Neuthal wurden drei landwirtschaftliche Betriebe gekauft, die heute von Petra Indermühle geleitet werden und 25 erwachsenen Menschen mit Beeinträchtigung Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnplätze anbieten. Zusätzlich wohnen und arbeiten in der Sennerei Bachtel in Wernetshausen drei Erwachsene mit Unterstützungsbedarf. Das Ziel: Ihnen auf den biologisch-dynamisch geführten Betrieben ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. 

 

Genau darauf sollen auch die Kinder und Jugendlichen im Sonderschulheim vorbereitet werden. Im Leitbild der Institution ist zudem festgehalten, dass diese ihre Persönlichkeit stärken und ihre Individualität entfalten können sollen. «Und um etwas lernen zu können, müssen sich die Kinder bei uns gut aufgehoben fühlen», sagt Reto Christ. «Das ist das Wichtigste, darum geht es uns.» 

Das Berufsfeld hat sich verändert

Die Bemühungen, die Visionen der Gründer sind damit dieselben geblieben. Aber die Veränderungen, die das Berufsfeld in den letzten 50 Jahren auf politischer und organisatorischer Ebene erfuhr, sind enorm. Während früher die Invalidenversicherung das Sagen hatte, ist es heute der Kanton; die Heimleiter müssen sich an das neue Volksschulgesetz halten, aber auch an die Behindertenrechtskonvention und andere Vorschriften. «Heute ist der Gestaltungsspielraum des Einzelnen kleiner als früher», sagt Christ. Schmid sieht die grösste Herausforderung für das Institut denn auch darin, dass die verschiedenen Bereiche auch in Zukunft am selben Strick ziehen, und dass man den Blick fürs Ganze nicht aus den Augen verliert. «Wir möchten auch in Zukunft eine starke Gemeinschaft sein.»

*Namen geändert

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