Als die Tigerfinken noch in Fehraltorf zu Hause waren
Eine der Fensterstoren in Leo Haas-Gloggs Wohnzimmer ist defekt. Sie lässt sich nicht mehr hochfahren. Deshalb sehe man die Fabrik schlechter als sonst, sagt der 94-Jährige und späht durch die Lamellen hinüber zum langen weissen Gebäude, in dem er 1952 die Stelle antrat, die sein Leben prägen würde.
Heute steht die Fabrik mitten in einem Fehraltorfer Wohnquartier, benachbart von grossen Einfamilienhäusern mit mittelgrossen Gärten. Als sie 1934 eröffnet wurde, war sie noch von Feldern umgeben. Einzig ein weisses Haus mit roten Fensterläden stand daneben. Das baute sich der Fabrikbesitzer Eduard Glogg, der Schwiegervater von Haas-Glogg.
Eduard Glogg – «Alle nannten ihn nur Edi. Oder Opa», wirft Haas-Glogg ein – stammte aus einer Fehraltorfer Schusterfamilie mit vier Söhnen. Weil drei davon im Geschäft bleiben wollten, teilten die Brüder die Schuhtypen untereinander auf. Edi, der zweitjüngste der Brüder, bekam das wohl am wenigsten glamouröse Geschäftsfeld, das man als Schuster bedienen kann: Finken.
Erfolgreich, aber schlecht organisiert
Er entschied, das Beste daraus zu machen und das Beste hiess in diesem Fall: Tigerfinken. 1938 lieferte Edi Glogg den ersten Kinderpantoffel im Leopardenmuster aus, der Schuh wird dieses Jahr 80.
«Jaja, die ewige Frage, wieso denn ein Schuh im Leopardenmuster Tigerfinken heisst», sagt Haas-Glogg und das Lachen, das ihn schüttelt, wird von einem Husten abgelöst. Die Antwort kenne er allerdings nicht. «Edi hat nur einmal gesagt: ‹Man sagt ja auch Katzen Tigerli, die gar nicht wie Tiger aussehen›.»
Edi Glogg war schnell erfolgreich. Nicht nur mit den Tigerfinken, auch seine anderen Modelle liefen gut. Zu den Anfangs acht Mitarbeitern kamen jedes Jahr neue dazu.
«Erfolgreich? Ja. Sympathisch? Sehr. Gut organisiert? Nein», sagt Haas-Glogg über Edi Glogg. Haas-Glogg, damals hiess er noch Haas, arbeitete ab 1946 in einem Speditionszentrum der EPA auf der Binz in Zürich. Anfangs war der gelernte Sattler als Lagermitarbeiter angestellt, 1948 wurde ihm der Einkauf übertragen. Zum Sortiment gehörten auch die Gloggschen Finken. Und diese lagen nie pünktlich im Lager. «Ich habe den Edi dann angerufen, um ein ernstes Wörtchen mit ihm zu reden.» Glogg gelobte nicht nur Besserung sondern lud den 29-jährigen Einkäufer auch zu einer Fabrikbesichtigung ein.
«Ich habe den Edi dann angerufen, um ein ernstes Wörtchen mit ihm zu reden.»
Leo Haas-Glogg
Dass er Hilfe mit der Administration brauchte, habe er auch selber gewusst. Deshalb und «weil ich beim Rundgang so viel Interesse gezeigt habe», bot Glogg ihm eine Stelle an. 1953, ein Jahr nach dem Wechsel nach Fehraltorf, heiratete Leo Haas Ruth Glogg, die mittlere der drei Töchter des Schuhfabrikanten. Ruth und der gemeinsame Sohn starben in den Neunziger Jahren.
WG mit dem Neffen
Haas-Glogg tritt vom Fenster weg, zum gläsernen Esstisch hin. Seinen Rollator, den er sein «Wägeli» nennt, parkiert er in der Ecke. Mit Spanngummis hat er darauf eine kleine Kiste fixiert, in der er die wichtigsten Alltagsgegenstände mit sich herumrollt. Auch wenn der Storen wieder funktioniert, wird er seinen ehemaligen Arbeitsort nur schemenhaft sehen. Lesen kann er nur noch mit dem tabletartigen Vergrösserungsinstrument, das auf dem Tisch liegt, an den er sich setzt. Trotzdem findet er die Kinderfinken, Leisten, Zeitungsartikel und Fotos, die er vor sich ausgebreitet hat, meistens mit einem gezielten Griff. Nur manchmal starren seine sonst wachen blauen Augen plötzlich ins Leere, während er mit den Händen über den Tisch fährt, um nach dem Gesuchten zu tasten.
Dass er nicht mehr lesen könne, schmerze ihn, sagt der 94-Jährige. Die Zeitung liest ihm sein Neffe vor, der vor fünf Jahren bei ihm eingezogen ist. Artikel in denen die Edi Glogg AG erwähnt wird, schneidet er für seinen Onkel aus. «Ich hänge diesen Erinnerungen gerne nach. Es war eine strenge Zeit, aber auch eine sehr schöne.» Gerade die Boom-Jahre, die seien ihm in guter Erinnerung geblieben.
Flache Nähte
Die Boom-Jahre, damit meint er die Sechziger. Die Schuhfabrik beschäftigte 100 Mitarbeiter, die Fabrik wurde erweitert und 500‘000 Schuhpaare im Jahr ausgeliefert. Eigentlich für die ganze Administration und Organisation zuständig, habe er sich des Öfteren auch an eine Nähmaschine gesetzt, so Haas-Glogg.
Eine davon steht noch in der Nische der Treppe, die vom geräumigen Wohnzimmer in den ersten Stock führt. «Das ist ein spezielles Union-Modell. Damit kann man ganz flache Nähte machen. Sonst tut es weh», sagt Haas-Glogg und nimmt den Tigerfinken, der auf dem Tisch liegt, in die Hand. «Ich bin sicher, ich könnte immer noch Pantoffeln nähen». Er fährt langsam den Nähten des Kinderschuhs nach. Versucht habe er es allerdings schon länger nicht mehr.
«Ich denke dieses Exemplar wurde in den Siebzigern produziert». Haas-Glogg greift nach einer riesigen Lupe, um die Grösse ausfindig zu machen. Es ist eine 20. Er gluckst freudig ob dieser Entdeckung. «Das grosse Rätsel für mich ist – darüber zerbreche ich mir noch heute den Kopf – wieso wurde genau der Tigerfinken so kultig?», fragt Haas-Glogg und gluckst nicht mehr.
Erfolgsrezept Bommel
Haas-Glogg dreht und wendet den Schuh in seinen runzligen Händen. «Das Tigerfinkli hat sich nicht durch die Masse ausgezeichnet, sondern durch die Konstanz.» Über Jahre sei es immer beliebt gewesen. Es sei deshalb das einzige Modell, gewesen, bei dem sie wagten, ein Lager anzulegen.
«Das Tigerfinkli hat sich nicht durch die Masse ausgezeichnet, sondern durch die Konstanz.»
Leo Haas-Glogg
«Vielleicht gründet der Erfolg auf dem roten Bommel. Der ist doch einfach lustig», sagt Haas-Glogg und streicht darüber. Er lacht und seine fast blinden Augen lachen mit. Der Bommel ist das einzige, was am Schuh alt und abgewetzt aussieht.
Die Nachfolge fehlte
Der Tigerfinken-Erfinder Edi Glogg starb 1971. Zwei seiner Töchter übernahmen zusammen mit ihren Ehemännern die Firma. Zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Auf den Boom der Sechziger folgte die Krise der Siebziger. «Zudem stieg der Druck durch ausländische Konkurrenten», sagt Haas-Glogg. Gegen Ende der Siebzigerjahre habe sich abgezeichnet, dass sich eine Produktion in der Schweiz nicht mehr finanzieren lasse. «Ins Ausland wollte ich nicht mehr verlegen.» Er habe sich zu alt gefühlt. Und es habe die Nachfolge gefehlt: «Weder unser einziger Sohn noch die Neffen wollten übernehmen.»
1983 schloss die Eduard Glogg AG die Türen. «Ohne Konkurs und nachdem wir allen Verpflichtungen nachgekommen sind», sagt Haas-Glogg und die sonst sanfte Stimme wird laut. Haas-Glogg hustet. «Schwierig und schmerzhaft war es natürlich trotzdem», sagt er nach einem Schluck Wasser und wieder deutlich ruhiger.
Lang lebe der Tigerfinken
Der Tigerfinken hat den Niedergang seiner ersten Produktionsstätte überlebt. Ein thurgauischer Schuhmacher kaufte die Liquidtionsmaterialien und produzierte einige Jahre weiter. Nach dem Verkauf dieser Schuhfabrik an Hans-Ruedi Dussling wurde die Produktion der Tigerfinken 1990 nach Polen verlegt. Dussling führte die Firma bis zu seinem Tod. 2016 übernahmen Dominique von Albertini und Adrienne Purkert. Produziert wird nach wie vor in Polen, das Sortiment wurde um diverse Artikel in der Optik der Finken erweitert.
Dass die Tigerfinken weiterleben freut Haas-Glogg. «Wenn ich einmal jemanden finde, der mich nach Zürich fährt, würde ich mir sehr gerne das Büro dieser zwei Jungen anschauen.» Es nehme ihn wunder, wer das Tigerfinkli heute produziert.
An seinem 95. Geburtstag im April wird die Musikgesellschaft Fehraltorf spielen. Darauf freut sich Haas-Glogg. Und auf den Runden des Tigerfinken. «Ich hoffe es gibt ihn noch weitere 80 Jahre.»