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Wirtschaft

Kein Lehrstellenabbau, aber weniger Stellen für Abgänger

Die Coronakrise wirft einen Schatten auf die Berufslehre. Aber die Folgen sind weniger schlimm als befürchtet. Was sich für Lernende und Stellensuchende verändert hat und welche Spätfolgen drohen, verraten das Ausbildungszentrum Zürcher Oberland (Azo) und das Biz Uster.

Offene Lehrstellen gibt es im Ausbildungszentrum Zürcher Oberland (Azo) keine mehr. Die Folgen der Corona-Pandemie..., ... bekommen bisher vor allem die Lehrabgänger zu spüren, die Schwierigkeiten haben, eine Anstellung zu finden., Eric Fischer, Leiter des Azo, hofft, dass die Arbeitgeber weiter an den Wirtschaftsstandort Schweiz glauben., Das Biz Uster hat die Lehrbetriebe aufgefordert, die Lernenden möglichst zu übernehmen., Laut Berufsberaterin Regula Finsler ist die Siuation weniger dramatisch als befürchtet.

PD

Kein Lehrstellenabbau, aber weniger Stellen für Abgänger

Die Berufslehre ist für viele der Einstieg ins Berufsleben. Umso wichtiger, dass dabei alles rund läuft. Indessen hat die Corona-Pandemie bei Lernenden wie Stellensuchenden Ängste und Sorgen vor einer Verschlechterung ihrer Situation ausgelöst. Vor allem während des Lockdown waren häufig Unkenrufe zu hören. Jetzt, zu Beginn des neuen Ausbildungsjahrs, zeigt sich: Es hätte schlimmer kommen können.

In der Deutschschweiz werden Lehrverträge traditionell früh abgeschlossen – so früh, dass die Coronakrise keinen grossen Einfluss auf den aktuellen Lehrbeginn hatte. Dies bestätigt auch Eric Fischer, Leiter des Ausbildungszentrums Zürcher Oberland (Azo) in Uster. Mit neun Ausbildern und rund 120 Lernenden in neun Lehrberufen gehört das Azo zu den wichtigsten Ausbildungsstätten für technische Berufslehren im Zürcher Oberland. 67 neue Lernende haben im August angefangen.

Nur vereinzelt offene Stellen

« Wie in den Vorjahren ist der Grossteil der Lehrverträge zwischen November und März abgeschlossen worden, also vor Beginn der Krise » , sagt Fischer. Im Juli habe es nur noch vereinzelt offene Stellen gegeben, aber auch diese seien inzwischen vergeben. Das gleiche gelte für die 30 Partnerfirmen des Azo.

« Zurzeit werden wir fast überrannt mit Anfragen. »

Eric Fischer, Leiter Ausbildungszentrum Zürcher Oberland (Azo)

Etwa zwei Drittel der Lernenden absolviert lediglich die Grundausbildung beim Azo, ist aber ansonsten direkt bei einer Firma angestellt; die anderen verbringen die ersten beiden Lehrjahre im Azo und kommen dann zu Versetzungsfirmen, wo sie das 3. und 4. Lehrjahr absolvieren. « Das Verhältnis fällt je nach Berufsgruppe unterschiedlich aus. »

Den grössten Anteil eigener Leute gebe es bei den Polymechanikern, den geringsten bei den Elektronikern und Informatikern. Bei den Konstrukteuren sei das Verhältnis ausgeglichen.

Verzögerter Effekt

Fischer befürchtet einen verzögerten Effekt der Pandemie auf die Lehrstellensuche. 2021 könnte der Druck deutlich zunehmen. Der Grund: Wegen der Corona-Beschränkungen war das Absolvieren einer « Schnupperlehre » im Azo zuletzt nicht möglich. Viele Berufswahlpraktika finden im Zeitraum von Mitte März bis zu den Sommerferien statt. « Zurzeit werden wir fast überrannt mit Anfragen von Schülern zur Schnupperlehre für den Lehrbeginn 2021. »

Dass sich die Besetzung der offenen Lehrstellen schwieriger gestalten könnte als in den Vorjahren, glaubt Fischer nicht. « Die Suche nach geeigneten und motivierten Lernenden ist unabhängig von Corona eine anspruchsvolle Angelegenheit. »

« Es könnte der Anspruch entstehen, dass der Bewerber 100 Prozent passen muss. »

Eric Fischer, Leiter Azo

Bisher gebe es noch kein Anzeichen für einen Lehrstellenabbau. Fischer könnte sich aber auch vorstellen, dass Unternehmen angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage künftig wählerischer bei der Besetzung ihrer Lehrstellen sein werden. « Wo man sich bisher mit einer 90-prozentigen Übereinstimmung  von Bewerber- und Stellenprofil zufrieden gegeben hat, könnte der Anspruch entstehen, dass der Bewerber 100 Prozent passen muss. »

Weniger Stellen für Lehrabgänger

Heute schon sichtbar sind die Folgen der Pandemie bei den Lehrabgängern. « Viele haben grosse Schwierigkeiten, eine Stelle zu finden. » In einer Phase, wo viele Firmen Kurzarbeit angemeldet haben, leide die Einstellungsbereitschaft. Eine Übernahme durch den Lehrbetrieb sei unter den aktuellen Umständen nicht selbstverständlich. « Wir wollen natürlich, dass alle unsere Lehrabgänger in einem Betrieb unterkommen. » Trotz der schwierigen Situation hätten bisher 20 Prozent der Lehrabgänger eine Anstellung gefunden.

« Diese Entwicklung hat gar nichts mit Corona zu tun. »

Eric Fischer, Leiter Azo

Die meisten, die jetzt keine Anschlusslösung finden konnten, gehen entweder ins Militär, besuchen die Berufsmaturitätsschule oder beginnen ein Studium, so Fischer. Dass sich dadurch der oft beklagte Trend zur Akademisierung verstärken wird, glaubt er jedoch nicht. « Diese Entwicklung ist nicht neu und hat gar nichts mit Corona zu tun. »

Tücken des Homeoffice

Gemäss Fischer haben die Lernenden des Azo den Lockdown gut bewältigt. « Es ging viel besser als erwartet. »

Am Anfang seien noch viele verunsichert gewesen wegen der Unklarheiten in Bezug auf die Lehrabschlussprüfungen. « Die praktischen Abschlussarbeiten sind dann unter erschwerten Bedingungen entstanden, teilweise im Homeoffice. »

Dabei handelt es sich um die sogenannten individuellen Produktivarbeiten (IPA), die auch ohne Corona einzureichen gewesen wären. « Nur die Schulprüfungen sind ausgefallen. » Stattdessen haben die Lernenden eine Erfahrungsnote bekommen.

« Meine Sorge ist, dass die schwächeren Schüler den Anschluss verlieren. »

Eric Fischer, Leiter Azo

Darin sieht der Leiter aber auch ein Risiko, zumindest für diejenigen, die nächstes Jahr die Lehre abschliessen. « Meine Sorge ist, dass die schwächeren Schüler den Anschluss verlieren, weil ihre tatsächliche Leistung nicht im Zeugnis abgebildet wird. »

Fischer macht ein Beispiel: Peter Muster hatte unmittelbar vor Beginn der Krise einen 5er in einem Fach. Während des Lockdown lässt er die Zügel schleifen und fängt sich zwei 2er ein. Im Zeugnis steht trotzdem die Note 5. « Das heisst, das Zeugnis zeigt nicht die wahren Leistungen im letzten Semester. »

Der Lernende könnte sich deshalb in falsche Sicherheit wiegen und ein böses Erwachen bei den Prüfungen im nächsten Jahr erleben. « Deshalb führen wir Prüfungsvorbereitungen durch und stellen dafür extra einen Berufsschullehrer ein, um unsere Lernenden optimal auf die Lehrabschlussprüfung vorzubereiten. » Diese Vorbereitung finde unabhängig von Corona statt.

Als einen Lichtblick für die Lernenden bezeichnet Eric Fischer das Ende des Homeoffice Anfang Juni. « Die Erleichterung über den Wiederanlauf des Präsenzunterrichts war auch bei denen gross, die zuhause problemlos weiterarbeiten konnte, etwa die Informatiker. » Der Austausch mit den Kollegen und der direkte Kontakt mit dem jeweiligen Berufsbildner seien auf Dauer nicht durch digitale Lösungen zu ersetzen.

Biz Uster zeichnet gemischtes Bild

Was die Zahl der unterschriebenen Lehrverträge betrifft, deckt sich die Erfahrung des Azo mit derjenigen des Biz Uster. Schon Ende April sei das Niveau der Vorjahre erreicht worden, teilt Berufsberaterin Regula Finsler mit. « Es hatte einen Stillstand im März gegeben, aber nach kurzer Zeit kam die Lehrstellenvergabe wieder in Bewegung. »

Im Kanton Zürich gebe es zurzeit noch über 2000 offene Lehrstellen für das anlaufende Ausbildungsjahr.  Jedes Jahr seien auch nach den Sommerferien noch einige Stellen besetzt worden.

« Es gibt Firmen, die sich entschieden haben, ihre Stellen nun doch nicht zu besetzen oder keine neue Lehrstelle auszuschreiben. »

Regula Finsler, Berufsberaterin Biz Uster

Finsler weist darauf hin, dass sich die Lehrstellensuche und -vergabe aufgrund der Pandemie etwas verzögern könnte. Das Mittelschul- und Berufsbildungsamt gestattet den Abschluss eines Lehrvertrages bis zu den Herbstferien. Auf diese Möglichkeit seien die Ausbildner, aber auch die Schüler aufmerksam gemacht worden. « Die Zahlen sprechen aber dafür, dass davon nur in einzelnen Fällen Gebrauch gemacht wird. »

Bei den ausgeschriebenen Lehrstellen beobachtet Finsler keinen Corona-bedingten Rückgang. « Aber es gibt Firmen, die sich entschieden haben, ihre Stellen aufgrund der bevorstehenden Unsicherheiten nun doch nicht zu besetzen oder keine neue Lehrstelle auszuschreiben. »

Kein Anstieg bei Lehrstellenlosen

Nur wenige Schüler hätten eine nachträgliche Absage erhalten. « Sie konnten aber sehr bald wieder einen neuen Vertrag abschliessen. » Dementsprechend konnte sie auch keinen Anstieg bei den Anmeldungen an den Berufsvorbereitungsschulen (10. Schuljahr) feststellen. « Wie jedes Jahr starten die Berufsvorbereitungsschulen mit einer ähnlichen Anzahl Lernender in ihren Klassen ins neue Schuljahr. »

Tatsächlich seien nicht mehr Lehrstellensuchende auf der Strecke geblieben als in anderen Jahren.

« Die Lehrstellensuchenden waren zuhause und wussten nicht, was sie jetzt überhaupt tun sollten. »

Regula Finsler, Biz Uster

Das war zu Beginn der Krise nicht zu erwarten. « Die Lehrstellensuchenden waren zuhause und wussten nicht, was sie jetzt überhaupt tun sollten. Oft hatten sie schon Absagen für Schnupperlehren, die sie vorher mit grosser Überwindung und viel Einsatz organisiert hatten » , sagt Finsler.

Umso wichtiger seien die Telefongespräche und Online-Beratungen mit der Berufsberatung gewesen. Die Berufsberatenden im Biz Uster hätten die Schüler ihrer Klassen in dieser Zeit proaktiv kontaktiert. « Es ging darum, die Zeit zu nutzen, die Bewerbungsunterlagen zu optimieren und startbereit zu sein für den Zeitpunkt, wo alles wieder ins Rollen kommt. »

Kritik an Berichterstattung

Rückblickend kritisiert Finsler einen « regelrechten Hype nach schlechten Nachrichten » .

In den Medien seien immer wieder Jugendliche vorgestellt worden, die in einer völlig aussichtslosen Situation zu sein schienen. Dieses Lagebild sei weder aufmunternd und hilfreich noch ein korrektes Abbild der Realität gewesen. « Als Berufsberaterin kann ich das vermittelte Bild nicht bestätigen. »

Die Umfragen der Professur für Bildungssysteme an der ETH Zürich zu den gesamtschweizerischen Auswirkungen der Coronakrise bestätigen ihre Einschätzung ( siehe Box ).

« Natürlich gab es Berufe, in denen bis zur Lockerung nichts oder nur sehr wenig los war. »

Regula Finsler, Biz Uster

Tatsächlich hätten bereits wenige Tage nach dem Lockdown die ersten Vorstellungsgespräche per Videokonferenz oder auch vor Ort mit Masken und Schutzmassnahmen stattgefunden. Sogar Schnupperlehren seien online durchgeführt worden. « Bald wurden auch wieder Lehrverträge abgeschlossen » , so Finsler.

« Natürlich gab es Berufe, in denen bis zur Lockerung nichts oder nur sehr wenig los war. Coiffeurgeschäfte oder Restaurants blieben beispielsweise ganz geschlossen. »

Möglicher Rückgang bei Lehrstellenangebot

Wie sich die Coronakrise auf die Lehrstellensuche 2021 auswirken wird, kann die Berufsberaterin noch nicht abschätzen. Ein grösserer Einfluss als im Sommer dieses Jahres sei aber denkbar. « Treffen die Konjunkturprognosen für den Herbst 2020 ein, so ist davon auszugehen, dass die Zahl der angebotenen Lehrstellen für 2021 zurückgeht. Das könnte sich insofern gravierend auswirken, als die Zahl der Schulabgänger in den nächsten Jahren steigt. »

Wie stark die Lehrbetriebe bei der Übernahme von Lehrabgängern krisenbedingt auf die Bremse getreten haben, will Finsler nicht quantifizieren. Man habe die Betriebe aber dazu aufgefordert, ihre Lernenden wenn möglich noch zu behalten.

Sie hält fest, dass Jugendliche kurz nach Berufsabschluss bei wirtschaftlichen Rezessionen erfahrungsgemäss meist stark betroffen seien, weil sie im Wettbewerb mit erfahrenen Berufsfachleuten schlechtere Startchancen hätten. Sie müssten oft auch einen im Vergleich zu den Vorjahren tieferen Lohn hinnehmen.

Mittelfristig sorgt ihr zufolge die demografische Entwicklung für erhöhten Druck auf dem Arbeitsmarkt. So verweist Regula Finsler auf das Bundesamt für Statistik, das mit einer wachsenden Zahl an konkurrierenden Berufseinsteigerinnen und -einsteigern in den nächsten Jahren rechnet.

Bis dahin sollten Wirtschaft, Politik und Gesellschaft die negativen Folgen der Corona-Pandemie in den Griff bekommen haben.

Messbare Folgen der Pandemie

Wie sich die Coronakrise auf die Lehrbetriebe und die Jugendlichen vor, in und am Ende der Berufslehre auswirkt, misst der «LehrstellenPuls» der ETH Zürich in Kooperation mit der Lehrstellenplattform Yousty. Anfang August wurde das Ergebnis der vierten Messung publiziert, die eine weitere Verbesserung der Lage aufzeigt.

Demnach gaben 90 Prozent der befragten Lehrbetriebe an, ihre angebotenen Lehrstellen mit Lehrstart im Sommer/Herbst 2020 vergeben zu haben. Im Juni war dies erst bei 88 Prozent der Lehrbetriebe der Fall, im April bei 77 Prozent.

Zu den Spitzenreitern bei den vergebenen Stellen gehören die Berufsfelder Informatik, Verkehr/Logistik/Sicherheit, Verkauf/Einkauf, Wirtschaft/Verwaltung/Tourismus und Gesundheit, Planung/Konstruktion sowie Bildung und Soziales. Das Schlusslicht bilden die Berufsfelder Bau, Gastgewerbe/Hotellerie, Fahrzeuge und Gebäudetechnik mit noch relativ vielen offenen Stellen.

Zudem belegt die Messung die positive Wirkung der gelockerten Massnahmen. So erhielten nur noch 0,3 Prozent der aktuellen Lernenden keine betriebliche Ausbildung. Im April waren dies noch 9 Prozent.

Weniger erfreulich ist die Situation für Lernende im letzten Lehrjahr: Die Lehrbetriebe gaben an, dass sie vermutlich 16 Prozent weniger Lehrabgänger beschäftigen können als sonst. Allerdings lag die Zahl im Juni noch bei 18 Prozent, im April bei 25 Prozent. Gemäss den Lehrbetrieben ist es bei 41 Prozent der Berufslernenden zurzeit schwieriger, eine Stelle auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Das ist eine Verbesserung gegenüber dem Juni mit 56 Prozent. jöm

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