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Oberländer Skirennfahrer im Doppelinterview

«Ich bin kein anderer Mensch, nur weil ich schnell Ski fahre»

Der Grüninger Gilles Roulin trat im Frühling 2024 nach sieben Weltcup-Saisons zurück. Nun hat das Oberland nach einer Saison Unterbruch mit Alessio Miggiano wieder einen Weltcup-Abfahrer. Was rät Roulin dem 23-jährigen Bubiker? Und wie stellt sich Miggiano auf das Rampenlicht im Weltcup ein?

Gilles Roulin (links) hat sieben Jahre im Ski-Weltcup hinter sich – Alessio Miggiano seine erste ganze Weltcup-Saison vor sich.

Foto: Simon Grässle

«Ich bin kein anderer Mensch, nur weil ich schnell Ski fahre»

Der Grüninger Gilles Roulin trat im Frühling 2024 nach sieben Weltcup-Saisons zurück. Nun hat das Oberland nach einer Saison Unterbruch mit Alessio Miggiano wieder einen Weltcup-Abfahrer. Was rät Roulin dem 23-jährigen Bubiker? Und wie stellt sich Miggiano auf das Rampenlicht im Weltcup ein?

Die Region hat ein Jahr nach dem Rücktritt des Grüningers Gilles Roulin wieder einen Weltcup-Abfahrer. Für den Bubiker Alessio Miggiano beginnt in dieser Woche in Beaver Creek ein neuer Abschnitt in seiner Karriere. Der 23-Jährige, der in der letzten Saison schon drei Rennen auf höchster Stufe absolvierte, startet am Freitag mit einem Fixplatz in die Abfahrtssaison und muss die ganze Saison lang nicht durch die teaminterne Qualifikation.

Diese gute Ausgangslage hat sich Miggiano dank dem zweiten Gesamtrang in der Europacup-Disziplinenwertung erarbeitet.

Vor acht Jahren stand Roulin genau am selben Punkt wie der Bubiker jetzt. Die Redaktion traf die beiden vor Miggianos Abreise ins Trainingscamp nach Nordamerika Anfang November zu einem Mittagessen – und zu einem Gespräch über Druck, Risiko und Rampenlicht.

Alessio Miggiano, in wenigen Tagen beginnt für Sie die erste komplette Weltcup-Saison. Ist Ihnen bewusst, was auf Sie zukommt?

Alessio Miggiano: Ein Stück weit schon, und trotzdem wird vieles neu. Die Komfortzone zu erweitern, das bringt einen am Ende weiter. Und es ist das, was mich letztes Jahr auch besser gemacht hat. Ich durfte diese Welt letztes Jahr schon ein bisschen kennenlernen, war in Val Gardena, Bormio, Kitzbühel und Kvitfjell. Auf diesen Strecken wirst du einfach ein besserer Skifahrer als in Zermatt auf dem Gletscher. Es hilft sicher, dass ich da schon weiss, was mich erwartet.

Gilles Roulin, Sie waren 2017 in derselben Situation wie Alessio Miggiano jetzt. Wie denken Sie an diese Zeit zurück?

Gilles Roulin: Es war irrsinnig toll für mich. Es kam aber auch schnell eine Tragik hinzu. Wir haben damals in Nakiska zusammen mit dem französischen Team trainiert, als David Poisson beim Training tödlich verunglückt ist. Und das Folgejahr stand unter dem Zeichen des Todes von Gian Luca Barandun (Roulins Teamkollege kam kurz vor der Saison bei einem Gleitschirmunfall ums Leben – die Red.). Diese Erinnerungen machten es schon speziell, und ausblenden kann ich sie nicht. Grundsätzlich aber ist es eine sehr tolle Ausgangslage. Ab dem Trainingscamp in Nordamerika konzentrierst du dich nur noch auf das, worum es wirklich geht. Du gehst Ski fahren, ruhst dich aus, machst dein Konditionstraining, bist mit den Teamkollegen zusammen, es herrscht Lagerstimmung.

Haben Sie damals auch Druck verspürt, Resultate liefern zu müssen?

Roulin: Ich machte mir schon Gedanken: Was ist, wenn es nicht klappt und ich wieder zurückmuss? Im Nachhinein würde ich mir selber den Tipp geben, die Momente noch stärker auszukosten. Darum empfehle ich Alessio, die Ausgangslage zu geniessen. Es ist eine grosse Chance – und je mehr du im Moment lebst, dich freust und das Ganze als Privileg siehst, desto mehr profitierst du davon.

Miggiano: Ich nehme diesen Ratschlag sehr gerne an. Ich bin tendenziell schon eher einer, der sich frei von der Leber weg freut. Wobei es einfach wäre, sich Sorgen zu machen mit dieser Breite, die wir in der Schweiz haben. Doch beeinflussen kann ich nur, wie ich Ski fahre. Und ich weiss, dass ich am besten Ski fahre, wenn ich mich darauf freue.

Sie haben die Breite im Schweizer Kader erwähnt. Sie war noch nicht im selben Ausmass vorhanden, als Sie in den Weltcup kamen, Gilles Roulin?

Roulin: Sie war schon da, aber es waren wahrscheinlich eher sechs als wie jetzt acht in den Top 30. Und die Teamkonstellation war anders. Wenn das Teamgefüge so gut ist, so coole Leader da sind, das Team funktioniert und die Leute einander helfen, dann gibt das eine positive Grundstimmung. Und das ist etwas, wovon man als junger Athlet extrem profitieren kann.

War damals die Grundstimmung nicht so positiv?

Roulin: So, wie ich es in der letzten Saison erlebt habe, war es in den Jahren, in denen ich dabei war, wohl nie. Ich habe es so empfunden, dass früher mehr jeder für sich geschaut hat. Jetzt ist es viel stärker ein Miteinander. Das ist natürlich befruchtend für die Leistung. Wenn man es cool und lustig hat, ist man entspannt, wenn man entspannt ist, ist man geschmeidig. Und das macht am Schluss schnell.

Gilles Roulin
«Jetzt ist es viel stärker ein Miteinander. Das ist natürlich befruchtend für die Leistung»: Gilles Roulin über das Schweizer Teamgefüge.

Sie waren in der letzten Saison wegen eines Filmprojekts noch zeitweise Teil des Weltcup-Zirkus. Werden Sie nun als Fan Rennen besuchen?

Roulin: Ich darf nach Wengen reisen, ein Sponsor hat mich engagiert, darauf freue ich mich sehr. Sonst habe ich bis jetzt noch nichts geplant. Die letzte Saison war ein wunderschönes Abschiednehmen. Das Schöne vom Rennsport war noch da, und das, was es nicht mehr so schön macht, wenn du nicht mehr so heiss drauf bist, das ist weggefallen. Der Moment am Start, das ist ein extrem tolles Gefühl, aber es ist auch ein unglaublich aussergewöhnlicher Zustand. Die Risikobereitschaft. Der Willen, an deine Grenzen zu gehen.

Auf diesen Zustand fiebert Alessio Miggiano nun hin.

Miggiano: Ich glaube, es geht ein bisschen in das hinein, was ich vorher über die Komfortzone gesagt habe. Eigentlich freue ich mich auf genau das. Es ist kein normaler Zustand, und ich weiss nicht, wie viele Male in meinem Leben ich nach der Skikarriere noch so ein Gefühl in meinem Körper habe. Ich freue mich darauf, diese Momente anzunehmen und zu merken: Jetzt kann ich wachsen.

Vermisst man diesen Zustand den Sommer über?

Roulin: Nein. Bei mir war es immer so: Als wir das erste Mal wieder auf Kunstschnee trainierten, da spürte ich: Jetzt geht es wieder los. Du probierst das im Training zwar zu simulieren. Du kannst es dir einreden, wie du willst, aber es gelingt dir nicht.

Wie simuliert man dieses Gefühl?

Miggiano: Ich lege sehr Wert darauf, dass ich im Training meinen ersten Lauf so runterbringe, wie ich es im Rennen auch gerne hätte. Da ist mir dann auch die Zeit wichtig, um mich in meinem Gefühl bestätigt zu fühlen. Aber Gilles sagt es schon richtig: Man redet sich einfach ein, die Situation simulieren zu können. Man kriegt es nicht hin, eine ähnliche Anspannung wie an einem Rennen zu generieren. Die Momente sind so speziell und intensiv, sie brauchen auch Energie. Es ist schon gut, dass man sie im Sommer und Herbst nicht hat. Umso grösser ist die Vorfreude auch.

Zum Weltcup-Zirkus gehört auch die Medienpräsenz. Sie suchten das Rampenlicht nie aktiv, Gilles Roulin.

Roulin: Meine Mutter hat mir kürzlich gesagt, dass ich mich verändert habe, als ich in den Weltcup kam. Ich wurde eher etwas verschlossener. Das habe ich auch so reflektiert. Spannend ist, dass ich mich jetzt wieder öffnen kann. Weil ich jetzt einfach für mich bin. Ich hatte nicht Angst in dem Sinne, ich wollte mich einfach zurücknehmen. Man darf das aber nicht falsch verstehen: Es ist auch eine Chance. Man bekommt eine Bühne und kann etwas erzählen.

Wie gehen Sie mit dieser Bühne um, Alessio Miggiano?

Miggiano: Vor zwei, drei Jahren hätte ich, glaube ich, schon noch ziemlich Respekt davor gehabt. Aber es fällt mir heute nicht schwer. Es beeinträchtigt mich nicht, wenn Kameras laufen oder ein Mikrofon da ist. Aber ich weiss auch, dass die Worte manchmal zuerst herauskommen, bevor der Gedanke hier oben angekommen ist (tippt sich an die Stirn). Und das kann einen auch angreifbar machen.

Es lässt Sie aber auch authentisch wirken.

Miggiano: Ich weiss, Journalisten finden das super. Das bin halt einfach ich. Und ich gebe auch gerne Interviews. Es ist ja auch eine Chance.

Alessio Miggiano
«Das bin halt einfach ich»: Alessio Miggiano will sich nicht verstellen, wenn Kameras oder Mikrofone laufen.

Roulin: Es war bei mir ja auch nicht so, dass ich Angst gehabt hätte oder es mir gestunken hätte. Bei der Medienarbeit lernt man immer etwas über sich selber. Du musst dich zwangsläufig reflektieren, wenn dir jemand eine Frage stellt. Mühe hatte ich mit etwas anderem: Mir sind plötzlich ganz viele Türen aufgegangen. Leute, die auf mich zukamen. Orte, an die ich eingeladen wurde. Möglichkeiten, die sich ergaben. Das kam tröpfchenweise während und nach der ersten Weltcup-Saison. Und ich wusste: Das ist nicht meinetwegen, sondern wegen der Leistung. Ich habe das sehr kontrovers wahrgenommen und konnte mich nicht nur darüber freuen.

Solche Gedanken kennen Sie wohl noch nicht, Alessio Miggiano?

Miggiano: Ich vertraue da auf meine Menschenkenntnis und auf meinen Instinkt. Ich glaube von Grund auf ans Positive im Menschen, und so möchte ich auch wahrgenommen werden. Wenn Türen aufgehen, dann wäre es schon schön, wenn das wegen meiner Persönlichkeit wäre. Ich bin ja kein anderer Mensch, nur weil ich schnell Ski fahre. Aber es ist halt auch so, wie unsere Welt funktioniert. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren.

Akzeptieren muss man im Skisport auch das Sturzrisiko. Alessio Miggiano, Sie waren letzte Saison im Bormio, als sich Cyprien Sarrazin schwer verletzt hat und mit Josua Mettler und Lars Rösti auch zwei Schweizer schwer gestürzt sind.

Miggiano: Ja, leider. Aus Athletensicht verbaust du dir selber vieles, wenn du solche Sachen zu nahe an dich heranlässt.

Ist das ein Kampf, so etwas nicht an sich heranzulassen?

Miggiano: Wenn ich mich unwohl fühle, ein Risiko einzugehen, dann ist es besser, das nicht einzugehen. Solange ich die Entscheidungskraft zu einem grossen Prozentsatz bei mir habe, fällt mir das nicht schwer. Allerdings: Letztes Jahr in Bormio im zweiten Training oben zu stehen mit dem Bewusstsein, dass vor dir schon fünf abgeflogen sind und dreimal der Helikopter gekommen ist, du zwei Stunden am Start gewartet hast und die Gründe dafür kennst – es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass das bei mir nicht angekommen ist.

Roulin: Man muss sich abgrenzen, so gut es geht. Eigentlich ist es ja immer ein Fehler, der am Ursprung steht. Klar kann theoretisch auch etwas passieren, wenn man keinen Fehler macht. Aber eigentlich ist immer irgendwo ein kleiner Fehler vorhanden.

Will man wissen, was für ein Fehler passiert ist?

Miggiano: Ich glaube, letztes Jahr in Bormio hat es mir schon geholfen. Auch wenn es unglaublich schwierig ist, einen Sturz zu sehen und zu wissen: Du fährst nachher auch noch. Mir hilft es oft, zu wissen, ob es ein Fahrfehler oder etwas anderes war. So kann ich mir einen Plan zurechtlegen für meine eigene Fahrt.

Gilles Roulin und Alessio Miggiano
Gilles Roulin und Alessio Miggiano im Gespräch.

Die Diskussion um die Sicherheit im Skirennsport flammt immer wieder auf. Zu Recht, Gilles Roulin?

Roulin: Die Athleten werden besser, das Niveau wird höher. Es ist ein Extremsport mit hohem Risiko, dessen muss man sich bewusst sein. Man bewegt sich am Limit, das wollen die Athleten, und die Zuschauer finden das spannend. Es ist Showbusiness. Trotzdem darf es einfach nicht sein, dass tödliche Unfälle passieren. Man könnte präventiv viel machen. Leider bleibt für den Athleten immer ein Restrisiko.

Was könnte man präventiv machen?

Roulin: Ich glaube, dass die Anzüge ein wichtiger Ansatzpunkt sein könnten. So könnte man das Tempo etwas reduzieren. Gleichzeitig machen sich viele Leute viele Gedanken dazu, und wenn es trivial wäre, hätte man wohl bereits mehr Fortschritte in diesem Bereich erzielt, als dies bis jetzt der Fall gewesen ist.

Wird denn zu sehr dramatisiert?

Roulin: Nein, es ist wichtig, dass in dieser Vehemenz und Dimension diskutiert wird.

Miggiano: Es braucht ein gewisses Mass an Erfahrung, um das fair bewerten zu können, ich werde mir da in den kommenden Jahren sicher eine Meinung dazu bilden. Ich wünsche mir als Athlet, dass die Voraussetzungen gegeben sind, um Wettkämpfe sicher zu bestreiten. Sicherheit macht die Show wahrscheinlich nicht kleiner.

Roulin: Worauf man gar nicht genug achten kann, ist das Rettungsprozedere. Ich habe für mich immer gedacht: Wenn ich stürze, dann am liebsten in Kitzbühel. Da kümmert man sich bestmöglich um mich, da habe ich den besten Service. Das sind Aspekte, die man nicht genug thematisieren kann.

Sie sind in Ihrer Karriere fast ungeschoren davongekommen, was Stürze anbelangt. Mir fällt lediglich der Sturz im Training vor der WM-Abfahrt in Méribel 2023 ein.

Roulin: Ja, vor allem habe ich nie eine Verletzung aus einem Sturz davongetragen.

Sie haben dafür schon etwas mehr Sturzerfahrung, Alessio Miggiano.

Miggiano: Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden (grinst).

Von einem Video eines wilden Sturzes in einem Europacup-Super-G in Zinal zum Beispiel. Sie haben das sogar auf Instagram geteilt.

Miggiano: Wirklich? Findet man das da noch?

Zumindest im Archiv, ja. Und Sie hatten früher schon etwas den Ruf eines Bruchpiloten.

Miggiano: Ich musste lernen, das Risiko auf meine Fähigkeiten anzupassen. Jetzt kann ich das Risiko so eingehen, wie ich es damals auch eingegangen bin, jetzt bin ich ein besserer Skifahrer.

Wie gut Sie sind, können Sie nun auf höchster Ebene beweisen. Zum Abschluss deshalb noch eine Prognose von Gilles Roulin: Wo wird Alessio Miggiano das beste Resultat herausfahren, und welcher Rang wird es sein?

Miggiano: Jetzt bin ich gespannt!

Roulin: Siebter in Kvitfjell.

Miggiano: Dort ist der Weltcup-Final.

Roulin: Ja, go for it!

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