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Dieses Ebmatinger Wunderkind ging nie zur Schule

Der 15-jährige Flynn Thomas gilt als Wunderkind auf dem Platz. Doch wegen des Asperger-Syndroms scheiden sich an ihm die Geister.

Auf dem Court ist er im Element: Flynn Thomas im Juli 2023 an der Junior Champion Trophy in Bern.

Foto: Claudio De Capitani (Freshfocus)

Dieses Ebmatinger Wunderkind ging nie zur Schule

Tenniskarriere mit Asperger-Syndrom

Der 15-jährige Flynn Thomas gilt als grösstes Schweizer Talent seit Roger Federer. Doch wegen seines Autismus scheiden sich an ihm die Geister.

Simon Graf

Greta Thunberg kämpft fürs Klima. Elon Musk schiesst Raketen und Satelliten ins All und machte Elektroautos salonfähig. Flynn Thomas will der weltbeste Tennisspieler werden. Was die drei eint: Sie alle leiden unter dem Asperger-Syndrom, einer Störung aus dem Autismus-Spektrum.

Wobei leiden vielleicht das falsche Wort ist. Greta bezeichnete Asperger sogar als «Geschenk» und «Superkraft», weil sie deshalb unkonventionell denke und sich total einem Thema verschreiben könne. Wie in ihrem Fall der Rettung des Planeten.

Die Welt des Flynn Thomas dreht sich ganz um kleine, gelbe Bälle, seit er mit fünf in der Waschküche zu Hause in Kriens ein Tennisracket seines verstorbenen Grossvaters fand und damit zu spielen begann.

Inzwischen ist er 15 und hat so viele Tennisbälle geschlagen wie vielleicht niemand in seinem Alter. Er konnte sich ganz seiner grossen Leidenschaft widmen, denn er besuchte keine Schule. Zumindest nicht auf Dauer.

Die Schule war nichts für ihn

«Flynn ertrug die Lehrer und die anderen Kinder nicht, und sie ihn auch nicht», sagt Mutter Sandra. «Ich glaube, er ist das erste Kind in der Schweiz seit 50 Jahren, das als nicht beschulbar gilt.» Die Schule sei definitiv nichts für ihn, hält der Teenager fest.

«Du musst die ganze Zeit nur herumsitzen und anderen zuhören. Und dann musst du das ganze Zeugs aufschreiben. Du sitzt sinnlos an deinem Pult und denkst: Was muss ich jetzt schon wieder tun? Als ich ein iPad bekam, schaute ich einfach Youtube.»

Der letzte Versuch, ihn ins Schulsystem zu integrieren, scheiterte an einer Montessori-Schule am Zürichsee. «Sie haben es dort wirklich gut gemacht. Es sind alles sehr nette Leute», lobt die Mutter. «Aber es klappte auch da nicht.»

Sie habe vor jedes Schulamt treten müssen, bis akzeptiert worden sei, dass ihr Sohn nicht kompatibel sei mit der Schule. «Sie machten 1000 Tests. Er ist Autist mit ADHS und weiss der Teufel was. Es ist in Ordnung, wie es ist. Ich interessierte mich nie dafür. Für mich ist er ganz normal. Er durfte sein ganzes Leben fliegen und Spass haben und musste nicht von morgens bis abends in der Schule sitzen. Er konnte seine Freizeit bis zum heutigen Tag geniessen. Und er ist genauso schlau wie die anderen Kinder. Ich sehe keinen Unterschied zu meinen beiden Töchtern, die regulär die Schule besuchen.»

Das Ebmatinger Tennistalent Flynn Thomas.
Nationale Juniorentitel bedeuten ihm nichts mehr: Flynn Thomas strebt nach Höherem.

Man könnte es auch so sagen: Sein Leben unterwegs als junger Sportler ist seine Schule. «Wenn ich mit Flynn an die Turniere in Europa reise, schaue ich mit ihm immer auch die Stadt und das Kulturelle an», erzählt die Mutter.

Er lernte früh Englisch, flog mit neun erstmals ohne elterliche Begleitung und lebte mit 13 mehrere Monate allein in Palermo, wo er an der Akademie von Francesco Cinà trainierte, dem Vater Federicos, den er von der Juniorentour her kannte. Dort bewohnte er in einem umgebauten Pferdestall ein kleines Zimmer mit Bett und Dusche und lernte neben Italienisch auch putzen und kochen.

Flynn und Mutter Sandra sitzen an diesen sonnigen Frühlingsnachmittag an einem Holztisch in der Wohnung am Zürcher Klusplatz, die einen wunderbaren Blick über den Zürichsee bietet. Ihre Scheidungsanwältin hat der vierköpfigen Familie die Altbauwohnung temporär zur Verfügung gestellt, um sie finanziell zu entlasten.

Bald zieht die Familie zurück nach Ebmatingen. Flynn ist der Jüngste. Seine Schwestern Leonie und Hannah sind 19 und 17. Die beiden sind gerade nicht da, sie sind am Arbeiten. Leonie ist im zweiten Lehrjahr als Dentalassistentin, Hannah macht eine Lehre als Kosmetikerin.

Am Fusse des Tisches liegt der Hund Rocky. «Achtung, Hund und Katze vorhanden», hat die Mutter den Journalisten und den Fotografen vor dem Treffen per Whatsapp gewarnt. Es war augenzwinkernd gemeint.

Denn Rocky ist – anders als sein Name vermuten liesse –, kein mächtiger, furchteinflössender Hund, sondern ein kleiner, flauschiger Zwergspitz mit friedfertigem Charakter. «Er ist Flynns Brüderchen», sagt die Mutter schmunzelnd. Flynn nimmt Rocky immer wieder hoch und streichelt ihn.

Das Ebmatinger Tennistalent Flynn Thomas.
Gruppenbild mit Hund: Flynn, Rocky und Mutter Sandra in der Wohnung am Zürcher Klusplatz.

Der 15-Jährige sitzt während des einstündigen Gesprächs ganz entspannt da, seine Sätze sind knapp, aber klar, immer mal wieder huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Es wurde schon einiges geschrieben und gesagt über ihn. Einige sehen in ihm das grösste Schweizer Tennistalent seit Roger Federer. Andere finden, er sei ein Rüpel im Stile des Australiers Nick Kyrgios.

Unbestritten ist, dass er es versteht, mit dem Racket umzugehen. Mit neun wurde er erstmals Schweizer Meister in der Kategorie U-12. Inzwischen ist er neunfacher Schweizer Meister, und nationale Titel sind schon längst nicht mehr das, wonach er strebt.

Im August 2022 führte er das Schweizer Team im tschechischen Prostejov mit zehn Siegen in elf Matches zum U-14-Weltmeistertitel. Aktuell ist er im Jahrgang 2008 die Nummer 4 der Welt. In den nächsten Monaten möchte er sich erstmals für die Juniorenkonkurrenzen der Grand-Slam-Turniere qualifizieren und da Gegner fordern, die bis zu zwei Jahre älter sind als er.

Seit Jahren spielt er vornehmlich gegen Ältere und Grössere. Manchmal überragen sie ihn um einen Kopf. «Ich habe keine Angst vor ihnen. Es ist eher so, dass sie Angst vor mir haben, weil ich jünger bin. Sie müssten ja gewinnen», sagt er und fügt lächelnd an: «Aber das tun sie nicht.»

Tennis ist für Flynn Thomas weit mehr als ein Spiel. Er will mit aller Gewalt gewinnen. Was seine grösste Stärke ist, die riesige Hingabe für diesen Sport, ist manchmal auch sein grösstes Handicap. Denn wenn es nicht so läuft, wie er sich das vorstellt, kann er nur schwer damit umgehen und tickt hin und wieder aus.

In der Schweiz hätten zuletzt viele nur darauf gewartet, bis es wieder passiere, sagt seine Mutter. «Deshalb liess er die Schweizer Meisterschaften im Winter aus. Seit der Fokus etwas weg ist von ihm, ist es viel entspannter. Und im Ausland kommt Flynn recht gut an.» Strafpunkte hat er schon viele kassiert. Aber interessant ist, dass er es schafft, sich zu beherrschen, wenn ihm der Ausschluss droht.

Der Basler Psychiater Andor Simon, der selbst ein begabter Tennisjunior war und sogar einmal den jungen Boris Becker schlug, kennt Flynn Thomas nicht persönlich. Aber er verfolgt dessen junge Karriere mit grossem Interesse und hat schon einige Geschichten über ihn gehört.

Simon ist ein Spezialist für Autismus und leitet in Binningen im Kanton Baselland eine Spezialsprechstunde für psychotische Frühphasen und Differenzialdiagnosen. Dabei muss er oft abklären, ob bei Jugendlichen eine Autismus-Spektrum-Störung vorliegt.

«Diese Diagnose wird von vielen begehrt», sagt Simon. «Eine Autismus-Spektrum-Störung ist ein Geburtsgebrechen. Viele sehen das als Entschuldigung dafür, nicht an sich arbeiten zu müssen.» Die Ausprägungen seien ganz unterschiedlich.

«Es ist wie bei einem Mischpult. Bei einem Patienten sind zwei, drei Hebel ganz oben, beim nächsten andere. Es gibt aber Kernphänomene, die sich durchziehen: massive Defizite in der sozialen Interaktion und der Kommunikation, stereotypes Verhalten, Schwierigkeiten, sich in andere hineinzuversetzen, das Klammern an Gewohnheiten, die Neigung zur Reizüberflutung.»

Die Schwestern mussten zurückstecken

Autisten zeichnen sich aber zuweilen auch aus durch eine herausragende Fähigkeit in einem Teilbereich. Man spricht bei dieser Inselbegabung vom Savant-Syndrom. Bei Flynn Thomas ist dies das Tennisspielen. Die Mutter brachte viele Opfer, um die Karriere ihres hochbegabten Sohnes zu fördern.

Auch die beiden Schwestern mussten zurückstecken. Leonie war eine der besten Schweizer Squashspielerinnen, Hannah nahm im Eiskunstlauf an Schweizer Meisterschaften teil. Doch drei Sportkarrieren konnte die alleinerziehende Mutter nicht finanzieren. «Irgendwann hatte ich kein Geld mehr», sagt sie schulterzuckend. «Die Schwestern haben Flynn den Vorrang gegeben.»

2018 zog die Familie von Kriens in den Kanton Zürich, damit Flynn in der Akademie von Robin Roshardt in der Zürcher Lengg trainieren konnte. Roshardt gewann einst die Orange Bowl, die inoffizielle Junioren-Weltmeisterschaft, Verletzungen verhinderten eine Profikarriere.

Flynns Mutter sah Roshardt bei einem Turnier in Luzern spielen und war begeistert. «Ich dachte: Wow, kann der Tennis spielen», erzählt sie. So ergab sich die Zusammenarbeit, die sich von Anfang 2018 bis Ende 2021 erstreckte. Seit November 2022 trainiert Flynn Thomas im nationalen Leistungszentrum in Biel und pendelt fünfmal die Woche zwischen Zürich und Biel.

Das Ebmatinger Tennistalent Flynn Thomas.
Flynn Thomas vor der Weltkarte: Dank des Tennis ist er schon viel herumgekommen.

«Einen wie ihn habe ich in diesem Alter noch nie gesehen», sagt Roshardt über Flynn Thomas. «Er hat ein unglaubliches Kämpferherz, macht schlicht keine Fehler. Da er klein war, musste er brutale Qualitäten haben, um gegen die Grösseren zu bestehen. Er ist sehr schnell auf den Beinen und versteht das Spiel auf einem höheren Niveau. Fast immer spielt er den richtigen Ball. Was auch eindrücklich war: Im Training ist er von der ersten Sekunde an immer voll da. Da wird nicht geblödelt. Tennis ist sein Leben. Er würde alles dafür tun. Er schaut auch die ganze Zeit Tennisvideos auf Youtube und weiss alles über andere Spieler.»

Der Weg zum Profi sei aber noch ein weiter, betont Roshardt. Und den Vergleich mit Federer findet er kontraproduktiv. «Flynn ist ein Riesentalent. Aber einen Federer gibt es nur einmal.» Die beiden sind charakterlich auch stark verschieden, obschon auch der junge Roger Schläger schmiss und ausrastete.

Neben dem Platz sei Flynn pflegeleicht und selbstständig, sagt Roshardt. «Auf dem Platz zeigt er ein anderes Gesicht. Da überspannt er manchmal den Bogen. Entscheidend ist, dass er seine Aussetzer in den Griff bekommt. Da hat er Fortschritte gemacht.» Der Wechsel zu Swiss Tennis sei der logische Schritt gewesen, sagt Roshardt, da man in Biel über mehr Ressourcen und Trainingspartner verfüge.

War Flynn Thomas fast immer der Kleinste gewesen, hat er in den letzten zwölf Monaten einen Wachstumsschub gehabt. Er ist rund zehn Zentimeter gewachsen und inzwischen 1,73 Meter gross, was ihm neue Möglichkeiten eröffnet. «Ich spiele jetzt ein komplett anderes Tennis», sagt er. «Früher war ich die ganze Zeit am Laufen. Jetzt spiele ich extrem aggressiv und mache den Punkt selber.»

In Biel ist der Deutsche Kai Stentenbach für ihn zuständig. Er sagt: «Flynn ist sehr explosiv und hat ein exzellentes Spielverständnis. Bisher gewann er, weil er eine sehr hohe Schlagstabilität hat. Bei den Junioren setzt sich in der Regel der durch, der weniger Fehler macht. Jetzt arbeiten wir daran, dass er offensiver wird.»

Tennis und Autismus, geht das?

Autistische Profisportler sind äusserst selten. Und gerade Tennis stelle besondere Anforderungen an einen Autisten, der gerne die Kontrolle habe, sagt Psychiater Andor Simon.

«Im Tennis hat man immer ein Gegenüber als Störfaktor. Ein Stabhochspringer etwa, der gegen andere antritt, aber für sich allein springt, hat es einfacher. Er hat viel mehr Faktoren im Griff. Beim Tennis kann man vieles nicht kontrollieren. Vielleicht nervt einen der Gegner, weil er sich zu viel Zeit nimmt zwischen den Ballwechseln. Vielleicht beginnt es zu regnen. Er verpasst einen Satzball. Oder es gibt einen umstrittenen Entscheid des Schiedsrichters. Damit muss man umgehen können.»

Was Flynn Thomas schon alles erreicht habe, sei eindrücklich, sagt Simon. Der Autismus könnte ihm bei bestimmten Aspekten durchaus auch helfen.

«Da sich der Autist nicht gut in andere Menschen hineinversetzen kann, geht er einfach seinen Weg. Egal, wer auf der anderen Seite steht. Das kann im Tennis ein Vorteil sein, um den Killerinstinkt zu behalten. Und ein Autist kann sich eisern an seine Strategie halten. Er schaut nicht nach links und rechts. Die Frage ist: Hat er genug Flexibilität, um zu reagieren, wenn der Matchplan nicht aufgeht? Und kann er die Dinge loslassen, die nicht nach Wunsch laufen?»

Manchmal heult die Mutter

Loslassen musste auch die Mutter. Seit Flynn in der Obhut von Swiss Tennis ist, reist sie nur noch selten an Turniere mit. Zumal sie inzwischen einen 100-Prozent-Job bei einer Immobilienfirma hat. «Manchmal heult die Mama, wenn der Sohn zum Flughafen muss», sagt sie.

«Aber er wurde selbstständig erzogen und ist ein cooler Junge. Er macht mir viel Freude.» Vor zwei Wochen begleitete sie ihn ans Turnier in Mailand, zuletzt reiste er mit Swiss Tennis nach Paris, in der Hoffnung, ins Qualifikationstableau von Roland Garros reinzurutschen. Sonst klappt es dann halt in Wimbledon oder am US Open.

Flynn Thomas stehen aufregende Monate bevor. An den Grand-Slam-Turnieren war er noch nie, auch nicht als Zuschauer. Er wird alles aufsaugen. Ihn faszinieren auch Details, die andere übersehen. Als die Familie über Ostern im Campingbus nach Italien fuhr, machte sie einen Umweg über Monte Carlo, wie die Mutter erzählt. «Flynn wollte unbedingt einmal den Monte Carlo Country Club sehen und dort den Sand riechen und berühren.»

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