Sie hören oft: «Schon krass, was ihr alles zusammen macht»
Walder Biathlon-Brüder
Sebastian und Gion Stalder teilen mehr als nur die Wohnung: Es gibt sie gar häufig nur im Doppelpack. Sportlich, beruflich und privat – mit einer Ausnahme.
Mehr Zweisamkeit geht fast nicht. Sebastian Stalder und sein Bruder Gion sind Spitzensportler. Die Walder Biathleten wohnen und trainieren zusammen. Und stecken aktuell in derselben Zweitausbildung – zum Fachspezialisten Zoll und Grenzsicherheit.
Die enge Bindung ist immer wieder Thema. «Schon krass, dass ihr alles zusammen macht», hören die Stalders oft. Sie finden es nicht aussergewöhnlich, schliesslich haben sie einst das Kinderzimmer geteilt. Manchmal fällt es ihnen aber selber auf, dass sie wie zwei Magnete funktionieren.
Wie unlängst beim Langlauftraining in Davos. Auf einer grossen Runde, die genügend Platz für Alleingänge geboten hätte. «Am Schluss liefen wir doch wieder zusammen», sagt Sebastian. «Es ist komisch, es zieht uns immer zueinander. Aber wir verstehen uns einfach gut.»
Gion, anderthalb Jahre jünger als der 25-jährige Sebastian, sitzt ihm gegenüber und nickt. Dann eröffnet er, dass er sich trotzdem ab und zu über den Bruder ärgert. «Wenn man nach einem harten Training müde ist und dann schmatzt er beim Essen so laut, nerve ich mich schon mal kurz.»
Sebastian hat daraufhin ebenfalls die eine oder andere Episode auf Lager, um Gegensteuer zu geben. Zum Beispiel jene von den Kaffeeflecken an der weissen Küchenwand, die von Gion stammten. Und wegen denen sich der Ältere so aufregte, «dass ich danach ein wirklich schlechtes Training hatte».
Wie es um den Neid steht
Schwerwiegendere Probleme als solche kurzen Aufreger? Nein, die kennen die Brüder untereinander nicht. Da sind sie sich einig. Es braucht weder fixe Regeln noch einen Ämtliplan in ihrer WG.
Dabei würde schon der Umstand, dass sie an ganz unterschiedlichen Punkten in der Karriere stehen, durchaus Konfliktpotenzial bergen. 2022 erlebte Sebastian seine Olympia-Premiere, letzten Winter machte er einen eindrücklichen Satz nach vorne.
Siebenmal lief er im Weltcup in die Top Ten. Besser als der Oberländer schoss auf höchster Stufe keiner. Sebastian Stalders erster Podestplatz scheint lediglich eine Frage der Zeit.
Sebis Kaltblütigkeit zu besitzen, das fände ich cool.
Gion Stalder
Gion muss sich derweil gedulden. Er ist zwar mehrfach nah dran gewesen, wartet aber nach einer enttäuschenden letzten Saison noch immer auf seinen ersten Einsatz im Weltcup. Ist er bisweilen neidisch auf Sebastians Erfolge?
Gion hat mit der Frage gerechnet. Er hört sie regelmässig. Und gibt immer dieselbe Antwort. «Ich gönne wirklich niemanden so sehr den Erfolg wie ihm. Ich erfreue mich daran. Es zieht mich auch ein wenig mit.»
Sebi, wie er ihn zwischendurch nennt, ist seit der Kindheit sein Vorbild. «Das Natürlichste, das man haben kann», ist für Gion klar. Wie zieht er sein Gewehr ab? Wie häufig atmet er zwischen den Schüssen? Gion war schon immer ein genauer Beobachter seines Bruders.
Letzterer versucht dafür, in sportlich schwierigen Phasen Gion zu unterstützen. «Wenn er am Hadern ist, sich zu hohe Ziele setzt, sage ich: Nimm jetzt erst einmal den nächsten Schritt.»
Gion macht weiter, bis ihm schwarz vor Augen wird. Das finde ich stark.
Sebastian Stalder
Es ist eine von Sebastians Stärken, die Gion gerne so ausgeprägt besitzen würde. Filtern zu können, was zu welchem Zeitpunkt wichtig ist. Und die Fähigkeit, die Energie richtig einzusetzen. «Sebis Kaltblütigkeit zu besitzen, das fände ich cool», sagt Gion.
Währenddessen gibt Sebastian freimütig zu, nicht über den Kampfgeist des Bruders zu verfügen. Dass er bisweilen nicht über die Schmerzgrenze hinausgehen kann, dürfte im vergangenen Winter die Podest-Premiere verhindert haben, mutmasst Sebastian Stalder. Und sagt: «Wenn es fest weh tut, höre ich irgendwann auf. Gion aber macht weiter, bis ihm schwarz vor Augen wird. Das finde ich stark.»
Der Gelobte freut sich übers Kompliment: «Schön gesagt.»
Keine Geheimnisse, oder?
Es ist einer von zahlreichen Momenten, in denen man spürt, wie gut die Stalders harmonieren. Keiner dominiert das Gespräch, keiner korrigiert den anderen. Am Tisch sitzen gleichberechtigte Partner, die sich schätzen. Zwei Profisportler auch, die in sich ruhen, offen Auskunft geben. Und gut über sich lachen können, weil sie sich selber nicht zu wichtig nehmen.
Sie verbringen viel Zeit zusammen. So viel, dass Gions Freundin einmal anmerkte, sie habe manchmal das Gefühl, mit beiden zusammen zu sein. Die Brüder diskutieren über alles, klammern Beziehungsprobleme ebenfalls nicht aus. Sie bekräftigen, keine Geheimnisse voreinander zu haben.
«Ich wüsste nicht, was ich dir verheimlichen würde», sagt Gion. Und wird prompt auf dem falschen Fuss erwischt. «Als du mit dem Bus in die Leitplanke gefahren bist», grätscht Sebastian sofort dazwischen.
«Das hast du versucht, zu verheimlichen, hast gar Farbe drüber gespritzt. Aber ich habe es herausgefunden», sagt er mit gespielter Entrüstung. «Stimmt», pariert Gion trocken, «das hätte ich verheimlicht. Aber sonst nichts.»
Sich gegenseitig hochzunehmen, gehört dazu. Nach so vielen gemeinsamen Jahren wissen sie aber genau, wo die Grenzen liegen.
Einer erneuert, einer zerstört
Nach dem Auszug aus dem Elternhaus lebten die zwei Oberländer mehrere Jahre in einer fünfköpfigen Wohngemeinschaft in Lenz, nun zu zweit rund 15 Fahrminuten von der Biathlon-Arena Lenzerheide entfernt in einem alten Haus am Dorfrand von Alvaneu Bad.
Das Spezielle daran: Sebastian Stalder hat das Gebäude vor drei Jahren gekauft. Der gelernte Zimmermann hat seither einiges erneuert. Das Badezimmer im ersten Stock etwa, neben dem gleich das geräumige Wohnzimmer liegt.
Urig gemütlich ist dieses. Der lange Esstisch ist ein Blickfang. Ebenso der alte, giftgrüne Kachelofen in der Ecke. Und der Rahmen aus Sichtbeton, durch den man in die Küche tritt.
Während Gion sehr filminteressiert ist und häufig ins Kino geht, lüftet Sebastian seinen Kopf beim Umbauen. Oder beim Schmieden von Plänen für weitere Etappen. Wie gut kann der Hausherr bei handwerklichen Arbeiten seinen Bruder einspannen, der eine KV-Lehre absolvierte?
«Du hast schon ab und zu geholfen», wendet er sich an Gion, «etwa beim Abbrechen.» Der Angesprochene kennt seine Rolle: «Ich bin mehr der Zerstörer.»
Und wie viel Mitspracherecht hat der Abbruchspezialist bei der Planung? «Null!», sagt Sebastian sofort. Was nicht ganz den Tatsachen entspricht. Längst ist die Hausrenovierung zum Familienprojekt geworden. Es ist bezeichnend, dass die Familie Stalder, zu denen neben den zwei Söhnen auch Tochter Selina zählt, nicht in Wald das letzte Mal vollzählig versammelt war, sondern in Alvaneu Bad.
In unmittelbarer Nähe ihres Wohnorts wollen sich Gion und Sebastian Stalder im Dezember einen Traum erfüllen: Am Weltcup in Lenzerheide gemeinsam in der Schweizer Staffel zu laufen. Schon fast kitschig wäre, würde der eine Stalder den anderen ins Rennen schicken.
Bleibt nur noch die Frage: Verbringen sie die Ferien auch zusammen? Die Antwort mag überraschen. Nein, dann sind sie mit ihren Freundinnen unterwegs. Und haben keinerlei Kontakt zueinander.
Wenn es in der Familie bleibt
Im Zürcher Oberland gibt es einige erfolgreiche Spitzensportler-Duos. Entweder sind es Geschwister. Oder Liebespaare. Wir stellen sie in einer kleinen Serie vor. Bisher erschienen:
Die Ustermer Schwimmgeschwister Antonio und Vanna Djakovic: Ihr gemeinsamer Traum treibt sie an
Läuferin Fabienne Schlumpf und ihr Trainer und Freund Michael Rüegg: Wetziker Marathonläuferin liebt ihren Trainer: «Bis jetzt funktionierts»
Die Hinwilerinnen Anja und Jasmin Weber: Im Winter wird die Schwester zum Fan