Kampagne gegen Medienkonsum für Kleinkinder erntet Kritik
Offensive aus dem Bezirk Uster
Mit der Aktion «Go offline!» setzen sich die Gemeinden im Bezirk Uster gegen zu viel und zu frühe Bildschirmzeit für Kinder unter vier Jahren ein. Doch die Art und Weise gefällt nicht allen.
Ein Video zum Einschlafen, das Tablet beim Zmittag oder das Handy im Kinderwagen – Bildschirme tauchen im Familienalltag überall auf. Negative Auswirkungen von früher und langer Bildschirmzeit können jedoch verspätete Sprachentwicklung, fehlende soziale Kompetenzen, Schlafprobleme oder mangelnde Konzentrationsfähigkeit verursachen. Aber auch Eltern, die auf das Smartphone schauen und verpassen, dass ihr Kind Aufmerksamkeit braucht, schaden der kindlichen Entwicklung.
Die Schulen erleben die Auswirkungen in ihrem Alltag und sehen Handlungsbedarf. Darum haben sich neun Gemeinden aus dem Bezirk Uster zusammengeschlossen: Uster, Dübendorf, Volketswil, Fällanden, Maur, Egg, Mönchaltorf, Greifensee und Wangen-Brüttisellen sagen mit der Aktion «Go offline!» dem Medienkonsum für Kinder unter vier Jahren den Kampf an.



Der Anstoss dazu kam bereits vor drei Jahren von der Primarschulpflege Uster, die erste Unterstützung aus der Volketswiler Schulpflege. «Auslöser waren zahlreiche Rückmeldungen über Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindergartenkindern», sagt die Ustermer Primarschulpräsidentin Patricia Bernet (SP). «Wir wollen aufzeigen, wie Eltern Weichen stellen können, damit Kinder in einem für sie förderlichen Umfeld aufwachsen.»
Das Problem betrifft nicht nur Städte. Auch in Maur macht man solche Erfahrungen, wie Schulpräsident Rob Labruyère (parteilos) ausführt. «Wir erleben Kindergartenkinder, welche bereits Suchtsymptome zeigen und mit Smartwatches in den Kindergarten kommen.» Und die Mönchaltorfer Schulpräsidentin Andrea Larry (SP) sagt: «Im Idealfall verfolgen Eltern sowie Pädagoginnen und Pädagogen im Alltag einheitliche Regeln. So können wir alle Kinder erreichen und sie wirksam auf ihrem Weg zur Selbständigkeit unterstützen.»
Geräte kindersicher einstellen
Die Website www.go-offline-4.ch bietet Tipps, Infos und einfache Ideen für den Alltag mit viel Verständnis für den täglichen Ablauf im Familienleben. In vielen Gemeinden finden zusätzlich Gespräche und Veranstaltungen für Eltern statt.
«Die Kampagne wird laufend weiterentwickelt», sagt Patricia Bernet. Über die Veranstaltungen und Massnahmen wird aktuell informiert. In Uster können Eltern etwa an mehreren Daten ihre digitalen Geräte ins Familienzentrum mitnehmen und direkt vor Ort kindersicher einstellen lassen sowie erzieherische Fragen rund um digitale Medien mit einer Fachperson besprechen. «Themen zum Einsatz digitaler Medien sind heutzutage das drängendste Thema in der Erziehungsberatung.» Auch online sind Schritt-für-Schritt-Anleitungen zu finden, wie man Jugendschutzeinstellungen auf Smartphones und Tablets vornimmt.
Zehn empfohlene Handlungen für Eltern
Gemeinsame Mahlzeiten: Ich schenke meinem Kind volle Aufmerksamkeit ohne Bildschirm am Tisch.
Unterwegs im Kinderwagen: Ich erkläre meinem Kind die Welt ohne digitale Reize.
Spielen im Kinderzimmer: Ich schaffe einen Ort zum Spielen und Entspannen, ganz ohne Bildschirme.
Selber Handy weglegen: Als Vorbild lebe ich den achtsamen Umgang mit digitalen Medien vor.
Gutenachtgeschichten erzählen: Ich lasse den Tag ruhig ausklingen und begleite mein Kind in den Schlaf.
Gefühle verstehen lernen: Ich helfe meinem Kind, Gefühle wahrzunehmen, zu benennen und zu regulieren.
Bewegung und Natur erleben: Ich lade mein Kind ein, die Welt draussen mit allen Sinnen zu entdecken.
Langeweile aushalten: Ich gebe meinem Kind Raum für Eigeninitiative, Kreativität und neue Ideen.
Medienzeit begrenzen: Ich setze klare Rahmen für Bildschirmzeit und fülle sie mit Erlebnissen.
Apps kindersicher einstellen: Ich achte darauf, was mein Kind sieht, und begleite es dabei.
Die Kampagne kommt jedoch nicht bei allen gut an. So etwa bei der Onlineplattform «Mal ehrlich», die früher «Any Working Mom» hiess und von der Fernsehmoderatorin Andrea Jansen gegründet wurde. In einem Kommentar äussert Mitarbeiterin Sarah Pfäffli unter dem Titel «Schämt euch, ihr schlechten Eltern» harsche Kritik an der Botschaft der Kampagne.
«Das Gefühl, das die Kampagne vermittelt – und Gefühle sind in der Werbung nun mal entscheidend –, ist: Schuld. Vielleicht sogar Scham», schreibt Pfäffli. «Das Problem ist, dass Schuld und Scham zwar kurzfristige Verhaltensänderungen hervorrufen mögen (ich lege mein Handy weg, grad wenn ich das Plakat sehe). Längerfristig machen sie aber aus mir keine bessere Mutter.» Lust, auf dieser Website nach Ausflugstipps zu stöbern, vermittle die Kampagne nicht.
«Unsere Bilder sollen betroffen machen, aber auch Hoffnung vermitteln», nimmt Patricia Bernet Stellung zu den Vorwürfen. «Unsere Kampagne ruht auf drei Pfeilern: Provokation, Information und Alltagshilfen. Wir provozieren, um das Problembewusstsein zu schärfen und den öffentlichen Diskurs anzuregen.»
Die Alltagstipps sollen Eltern stärken und ihnen den Umgang im Alltag erleichtern. «Mich persönlich machen die Bilder, die in der Kampagne verwendet werden, betroffen und traurig. Für die Kinder wünsche ich mir eine Kindheit voller Bewegung, Begegnungen, Ausprobieren, Spielen und Entdecken.» All das sei zentral für die gesunde Entwicklung der Kinder. «Die Smartphone-Nutzung behindert oder verhindert dies.»
Provokation erwünscht
Also Erfolg auf der ganzen Linie, wenn die Kampagne durch Kritik weitergetragen wird? «Ja», sagt Bernet. «Wir provozieren, um Aufmerksamkeit für das Thema zu erhalten und das Problembewusstsein zu schärfen.»
Ausgearbeitet haben die Kampagne die Primarschule Uster mir der Abteilung Präsidiales der Stadt Uster und den Schulbehörden des Bezirks. Eine Arbeitsgruppe bezog interne Fachpersonen sowie das Netzwerk Frühe Förderung Uster ein, in dem Ärztinnen, Lehrpersonen, Logopäden, Kita-Leitungen, Hebammen und weitere Experten vertreten sind.
Für die Kampagne wurden auch zahlreiche Studien und Empfehlungen beigezogen wie etwa von Pro Juventute, Alliance Enfance oder der WHO. «Dieses Thema muss zwischen verschiedenen Abteilungen, Organisationen und Fachdisziplinen behandelt werden, damit alle Fachkompetenzen einfliessen können», sagt Patricia Bernet.


