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Politikerin und trans Frau Michelle Halbheer

«Jugendlichen Geschlechtsanpassungen zu verwehren, ist total gefährlich»

Die Zürcher Mitte-Co-Präsidentin aus Volketswil kritisiert, dass Natalie Rickli ein Verbot von irreversiblen Operationen für Minderjährige fordert.

Michelle Halbheer aus Volketswil findet einige Aussagen der Regierungsrätin über irreversible Operationen für Minderjährige «extrem abwertend».

Foto: Silas Zindel

«Jugendlichen Geschlechtsanpassungen zu verwehren, ist total gefährlich»

Politikerin und trans Frau Michelle Halbheer

Die Zürcher Mitte-Co-Präsidentin aus Volketswil kritisiert, dass Natalie Rickli ein Verbot von irreversiblen Operationen für Minderjährige fordert.

In Ländern wie Grossbritannien oder Finnland sind Geschlechtsanpassungen bei Minderjährigen nicht erlaubt. Am Montag forderte die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (SVP) den Bund auf, ebenfalls ein nationales Verbot zu prüfen. Die Kinder und Jugendlichen müssten vor den irreversiblen Eingriffen «geschützt werden».

Michelle Halbheer aus Volketswil ist Co-Präsidentin der Zürcher Mitte-Partei. Vor zweieinhalb Jahren outete sich die 25-jährige ETH-Studentin als trans und lebt seither als Frau.

Frau Halbheer, was halten Sie von Natalie Ricklis Ankündigung?

Michelle Halbheer: Ein Verbot von Geschlechtsanpassungen ist definitiv nicht das Richtige für die Gesundheit von trans Jugendlichen. Wir sprechen hier nicht über eine Luxusoperation wie aufgespritzte Lippen. Es geht um die eigene Identität und darum, sich mit seinem Körper auf einem ganz grundlegenden Niveau wohlzufühlen. Diese Operationen sind lebenswichtig für uns trans Menschen und werden eng von Fachpersonen begleitet. Minderjährigen den Zugang dazu zu verwehren, ist total gefährlich.

Inwiefern?

Trans Jugendliche haben erwiesenermassen eine der höchsten Suizidraten. Auch ich selbst hatte vor meiner Transition oft psychische Tiefs und war zwischenzeitlich nahe am Suizid. Wenn wir nun zwölfjährigen Kindern, die trans sind, sagen, «komm in sechs Jahren wieder», dann gibt es eine massiv erhöhte Chance, dass sie nicht mehr kommen, weil sie sich bis dahin das Leben genommen haben.

Natalie Rickli sagt, aufgrund von gesellschaftlichen Trends stellten immer mehr Jugendliche ihr Geschlecht infrage und wollten etwas ausprobieren.

Ich finde diese Aussagen extrem abwertend.

Portraitaufnahme von Natalie Rickli.
Gemäss Regierungsrätin Natalie Rickli würden Jugendliche aufgrund von gesellschaftlichen Trends immer mehr ihr Geschlecht infrage stellen. (Archiv)

Was genau daran finden Sie abwertend?

Der Wunsch, dass ich als Mädchen leben will, kam bei mir zum ersten Mal in der Primarschule auf, mit sechs oder sieben Jahren. Es ist nicht so, dass ich dachte, es wäre jetzt noch cool, eine Frau zu sein. Das ist ein tief sitzendes Gefühl, und ich finde es diskriminierend, wenn dieses als Trend abgetan wird. Und überhaupt: Ich befürworte es, wenn Kinder und Jugendliche ihre Sexualität und ihre Geschlechtsidentität hinterfragen.

Im Kanton Zürich wurden die ersten Operationen an unter 18-Jährigen im Jahr 2020 verzeichnet. Letztes Jahr gab es vier geschlechtsangleichende Behandlungen bei Minderjährigen. Die Gesundheitsdirektorin bezeichnete das als alarmierend.

Ich sehe das komplett anders. Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass trans Menschen in unserer Gesellschaft sichtbarer geworden sind und dass heute mehr Personen die Möglichkeit haben, sich zu entfalten. Ich wusste schon lange, dass ich ein Mädchen sein will, aber dass ich trans bin, habe ich leider erst spät herausgefunden. Mir fehlten Vorbilder.

Mit 22 Jahren haben Sie Ihren Geschlechtseintrag geändert. Gegenüber dieser Zeitung sagten Sie, dass vorher lange nur ihre Familie, ihre Partnerin und die engsten Freunde von Michelle wussten. Würde Ricklis Verbot das Thema Transgender noch stärker tabuisieren?

Ich befürchte es. Das Outing ist für trans Jugendliche sehr schwierig, und es ist wichtig, sie auf diesem Weg zu unterstützen. Bei mir war es so, dass meine Familie mich versuchsweise mit dem weiblichen Pronomen angesprochen hat und ich so herausgefunden habe, dass ich mich damit viel wohler fühle.

Das Outing ist für trans Jugendliche sehr schwierig, und es ist wichtig, sie auf diesem Weg zu unterstützen.

Wie ging es dann weiter?

Ich habe angefangen, zu Hause Röcke und andere Kleider zu tragen, die Frauen zugeschrieben werden. Mit meiner Partnerin zusammen habe ich mich geschminkt. Als ich mich so zum ersten Mal im Spiegel gesehen habe, war das ein unglaubliches Gefühl. Ich fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben nicht hässlich, sondern hübsch. Danach bin ich aber nicht sofort in die Sprechstunde gegangen und die Hormonbehandlung startete. Dieses Bild ist stark verzerrt – und auch jenes der operativen Eingriffe bei trans Menschen.

Wie meinen Sie das?

Viele Menschen denken nur an die Genitalangleichung. Doch diese gibt es gerade bei Minderjährigen in der Schweiz praktisch nie. Wenn überhaupt, sind es eher etwa ein Brustaufbau oder eine Brustentfernung. Mit medizinischer Begründung sind diese Operationen völlig normal, etwa, wenn eine 16-jährige Frau so grosse Brüste hat, dass es zu Rückenproblemen kommt.

Eine junge Frau mit dunklen Haaren und einer Brille im grünen Kleid.
Michelle Halbheer sagt: «Ich hatte das Glück, dass mich meine Eltern bedingungslos unterstützt haben.» (Archiv)

Natalie Rickli hat auch gesagt, dass Pubertätsblocker in Zukunft nur noch im Rahmen wissenschaftlicher Studien abgegeben werden sollen. Was halten Sie davon?

Ich finde das eine enorm widersprüchliche Forderung.

Weshalb?

Weil Pubertätsblocker trans Jugendlichen dabei helfen, mehr Zeit für die Suche nach ihrer Geschlechtsidentität zu haben. Die Pubertät war für mich als trans Frau eine der traumatischsten Erfahrungen. Die Stimme geht runter, ich wurde muskulöser und fühlte mich weniger feminin. Genau deshalb ist es wichtig, dass Kinder und Jugendliche gut begleitet werden und ihnen nicht einfach gesagt wird: «Du bist noch zu wenig reif. Du kannst das nicht selber entscheiden.»

Ende 2023 hat sich eine Elterngruppe von trans Jugendlichen bei der Zürcher Gesundheitsdirektion mit schwerwiegenden Vorwürfen gemeldet: Die Massnahmen würden zu schnell eingeleitet und die Eltern nur ungenügend einbezogen.

Eine Untersuchung zeigte, dass diese Vorwürfe haltlos sind. Für mich geht es in erster Linie darum, dass man die Kinder in ihrem Wunsch ernst nimmt und auf dem Weg zur Selbstfindung unterstützt. Das kann auch bedeuten, dass man herausfindet, dass das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht doch passt. Und natürlich ist es wichtig, die Eltern mit auf den Weg zu nehmen.

Für mich geht es in erster Linie darum, dass man die Kinder in ihrem Wunsch ernst nimmt und auf dem Weg zur Selbstfindung unterstützt.

Wie war das bei Ihnen persönlich?

Ich hatte das Glück, dass mich meine Eltern bedingungslos unterstützt haben. Aber klar, natürlich war es auch für sie schwierig nachzuvollziehen, das ihr Sohn jetzt einfach eine Tochter sein will. Mein Vater hat Bücher gelesen und Dokumentationen angeschaut, um mich besser verstehen zu können.

Eine junge Frau streichelt eine Katze.
Michelle Halbheer sagt, dass es bei ihr persönlich von der ersten Sprechstunde bis zur ersten Operation zwei Jahre gedauert habe. (Archiv)

Die SVP lobte ihre Regierungsrätin Natalie Rickli und schrieb in einer Medienmitteilung, dass die Partei «den Transgenderwahn ablehne». Sehen Sie die Forderung auch als Teil eines Kulturkampfs?

Es ist sicher so, dass momentan viel Hass gegen trans Menschen geschürt wird und dass sie oft als Bedrohung dargestellt werden, gerade in den USA. Das schwappt auch zu uns rüber. Den Begriff Transgenderwahn kann ich nicht nachvollziehen. Es ist doch normal, dass Minderheiten gleiche Rechte fordern. Und wenn diese Rechte verbessert werden, dann verstecken sich die Minderheiten weniger und werden mehr wahrgenommen.

2022 sagten Sie: «Ich glaube, wir sind als Gesellschaft schon viel weiter, als man meinen könnte, und die Abneigung gegen trans Personen kommt vor allem noch von einer lauten Minderheit, die auf Twitter und Instagram anonyme Kommentare hinterlässt.» Würden Sie das heute immer noch so sagen?

Ich bin nach wie vor überzeugt, dass die allermeisten Menschen sehr offen gegenüber trans Menschen sind. Aber ich nehme auch einen gewissen Backlash wahr. In den letzten Jahren gab es viele kritische Medienartikel. Die negativen Folgen, die Geschlechtsanpassungen bei Jugendlichen haben können, wurden mit Extrembeispielen aufgeblasen und teils mit falschen Zahlen versehen. Das hat dazu geführt, dass viele Angst vor dem Thema haben und denken, dass Kinder verstümmelt werden. Doch sie verstehen den Prozess nicht. Es braucht deshalb unbedingt mehr Aufklärung.

Ich bin immer noch mega glücklich mit dem Schritt. Ich habe entdeckt, wer ich wirklich bin.

Was muss sich in Bezug auf Geschlechtsanpassungen in Zürich sonst noch verbessern?

Ich selber habe meine Behandlung nur zum Teil in Zürich gemacht, darum finde ich es schwierig, das zu beurteilen. Von der ersten Sprechstunde bis zur ersten Operation war es bei mir ein Prozess von zwei Jahren mit vielen Gesprächen. Ich wurde seriös und eng von Fachpersonen begleitet.

Seit Ihrem öffentlichen Outing sind nun zweieinhalb Jahre vergangen. Wie geht es Ihnen?

Ich bin immer noch mega glücklich mit dem Schritt. Ich habe entdeckt, wer ich wirklich bin. Wenn ich heute vor dem Kleiderschrank stehe, fühle ich mich nicht mehr unwohl, sondern ich habe ein Luxusproblem und denke: «Das wäre schön, das wäre schön, das wäre schön.» Das mit den Kleidern ist eine Vereinfachung, aber ähnliche Prozesse haben in ganz vielen Lebenssituationen stattgefunden. Ich fühle mich unglaublich wohl mit mir selber. Mit mir als Frau.

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