«Ich drehe nicht nur an der Orgel»
Der Oberarm und die Schulter beginnen nach zwei Minuten zu brennen. Wieder und wieder dreht sich die Kurbel. Doch der Schmerz wird belohnt: die erste Strophe von Mozarts Komposition Klavierkonzert Nr. 21 ertönt durch die Pfeifen der Drehorgel.
Beim Dübendorfer Otto Baumeler sieht es kinderleicht aus. Der Pensionär ist nach der dritten Vorstellung kaum ausser Atem. Er habe ja auch Übung, sagt er. Seit über 50 Jahren spielt er die Drehorgel. Doch der 84-Jährige macht noch mehr.
Unweit seiner Wohnung an der Hörnlistrasse hat er sein Atelier. In diese Welt taucht der Mann zum Teil stundenlang ab.
«Der Respekt und die Anerkennung fehlen.»
Otto Baumeler, Drehorgel Virtuose
Der zwei auf vier Meter grosse Raum beherbergt diverse mechanische Musikwiedergabegeräte. Darunter auch ein antikes Grammophon. Die Perle des Raumes ist jedoch Baumelers Drehorgel.
Mit ihr spielt er auf Flohmärkten, in Kirchen, Altersheimen, auf Stadtplätzen im ganzen Kanton Zürich oder an Geburtstagen. Doch er merkt: «Der Respekt und die Anerkennung fehlen.»
Mehrere Tage für ein Stück
Vielleicht sieht man auch einfach nicht hinter den Vorhang. «Ich mache mehr, als nur an der Orgel drehen.» Der gelernte Spengler ist einer der wenigen verbliebenen, der die Bänder mit den Musikstücken selbst herstellt. Das will was heissen: Der Prozess für ein Stück kann mehrere Tage dauern.
Erst muss er das richtige Papier kaufen. Dann schneidet er es auf seiner eigen dafür entwickelten Maschine zu. «Auch nur ein Millimeter zu viel und das Papier passt nicht mehr in die Fugen der Orgel.»
Während er so erklärt, kommt er in Fahrt. «Wo ist… ah, da ist es. Hier…» Nach dem Zuschneiden geht es erst richtig los. Baumeler nimmt seine zweite Erfindung aus einer der vielen Schubladen, er nennt sie den Noten-Umrechner. Das sind um die 50 Schablonen. Die Entwicklung dafür dauerte Jahre, sagt er.
Ungewollte Löcher abkleben
Seine Orgel ist auf Es-Dur gestimmt. Die Stücke haben jedoch immer andere Tonarten. Jede einzelne Musiknote muss nun auf die Tonart der Orgel umgerechnet werden. Diese Note wird dann auf dem Papier mit Bleistift skizziert.
Danach stanzt er mit der antiken Phoenix-Nähmaschine die entsprechenden Löcher. Und wenn ein Fehler passiert, kann das Loch mit Klebeband abgedeckt werden.

Wichtig zu beachten sei zudem, dass seine Orgel die Noten von rechts nach links spielt. Sänger oder andere Musizierende lesen jedoch normal von links nach rechts. «Auch das war Lehrgeld, das ich zahlen musste.»
Dieser tagelange Prozess kann jedoch auch für die Katz sein, sagt er. «Ich höre das Stück nicht, bis es fertig ist.» Auf die Frage, was ihm mehr Spass macht, sagt er: «Das Abspielen ist der Erfolg, alles andere der Weg dorthin.» Insgesamt hat Baumeler zirka 200 Stücke produziert. Er verkauft sie jedoch nicht. «Es soll niemand anderen geben, der meine Musik spielt.»
Einen Lehrer hatte Baumeler nie. «Ich lernte alles selber.» Seine Liebe zur Orgel begann in Oerlikon, als der damals 30-Jährige einem Drehorgelspieler zuhörte und ihm sagte, dass sein Instrument verstimmt sei. Der andere reagierte bitter und fauchte ihn an. «Das kann ich besser, sagte ich damals zu mir.»
Nach einiger Zeit fand er sich beim deutschen Drehorgelhersteller Raffin wieder. Zig Besuche später war die Orgel zumindest auf Papier konzipiert. Piccolo-, Violine- und Kontrabass-Pfeifen hat sie drin. Zwei Monate später wollte er noch Trompeten hinzufügen. «Es war eine der ersten Drehorgeln, die das hatte», sagt er sichtlich stolz.
Teures Hobby
Günstig ist das Hobby des Rentners nicht. Satte 35’000 Franken kostete die Drehorgel damals. Auch das Papier, das er für die Stücke braucht, kostet viel Geld. «Vor allem wenn man manchmal zwei, drei Versuche braucht, um das Stück zu perfektionieren.»
Connie, seine Frau, war am Anfang wenig begeistert von seiner Idee, eine Orgel zu kaufen. Mittlerweile ist sie überzeugt: «Er ist ein unentdecktes Genie.»
Ein Genie sei er, weil er zum Teil Stücke extra für die Orgel ergänzt. «Die Orgel drehen kann jeder», sagt sie. Aber er kann Stücke für die Orgel produzieren – ob klassisch oder modern ist egal. Das können in der Schweiz nur noch eine Handvoll. Die Rollen verkauft er jedoch nicht. «Die andern sollen selber studieren.»
Grosse Werke für die Orgel umschreiben
Er versteht die Instrumente und deren Funktionsweise bis ins kleinste Detail. An einem Drehorgel-Treffen, als eine Orgel gemäss dem Besitzer kaputt gewesen sei, reparierte er diese binnen drei Minuten. Seine eigene Orgel ergänzte er gar mit einem Ton, der ihr fehlte. Um seine Orgel zu stimmen, sie ist anfällig auf Temperaturschwankungen, braucht er eine Woche.
«Es ist einfach wirklich schade, dass das Instrument derart an Bedeutung verloren hat», sagt er. Wobei, wenn er draussen spiele, würden die Leute immer stehen bleiben. Einmal hielt gar ein Auto an und das Paar stieg aus und begann zu tanzen. Auch in der Dübendorfer Kirche rührte Baumeler die Menschen mit seiner eigenen Interpretation von Franz Schuberts Komposition «Heilig, Heilig, Heilig» zu Tränen. «Zumindest hat die Drehorgel noch ihre Wirkung.»
Otto Baumeler spielt an unterschiedlichen Anlässen. Anfragen nimmt er unter 044 820 14 36 entgegen.