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In Juckern bricht eine neue Ära an

Im Frühling hat Hans-Felix Jucker die J. Jucker AG in neue Hände gegeben. Während er nun in Erinnerungen schwelgen kann, schmiedet sein Nachfolger Pläne für die Zukunft.

Die Jucker-Weberei und die dazugehörigen Gebäude haben einen neuen Besitzer., Das wird einige Veränderungen für den Weiler Juckern mit sich bringen., Verstehen sich gut: der neue Verwaltungsratspräsident Marco Brunner und sein Vorgänger Hans-Felix Jucker (rechts)., Die Gebäude müssen stehen bleiben. Nur der sogenannte Neubau südlich der Fabrik darf abgerissen werden., In den heute leerstehenden Räumlichkeiten sollen Wohnungen entstehen., Noch zeugen aber die alten Maschinen von der längst vergangenen Textilindustrie., In der alten Produktionshalle stehen noch die alten Maschinen für das Breitgewebe., Eine Kiste mit alten Spulen gibt es ebenfalls zu entdecken., Auch die Fabrikantenvilla hat den Besitzer gewechselt.

Fotos: Annabarbara Gysel

In Juckern bricht eine neue Ära an

Wer den Baumer Weiler Juckern besucht, fühlt sich, als ob er gerade eine Zeitreise angetreten hätte. Die Weberei Grünthal mit dem grossen Fabrikgebäude, dem hohen Kamin und den Kosthäusern erinnern an eine längst vergangene Industrie-Ära.

Einst zählte die Weberei der Familie Jucker zu den charakteristischen Betrieben der Zürcher Oberländer Textilbranche. 130 Jahre lang ratterten hier die Webstühle und stellten unzählige Meter verschiedenster Stoffe her.

Die Verantwortung übergeben

Mit dem Niedergang der Schweizer Textilindustrie in den 1980er Jahren kam unweigerlich das Ende der Jucker-Weberei. 1988 mussten die Gebrüder Hans-Felix und Jacques Jucker die Produktion einstellen. Die Webstühle verstummten und wurden zusammen mit allen anderen Gerätschaften verkauft. Seither konzentrierte sich die Firma ausschliesslich auf die Bewirtschaftung der Liegenschaften, in die verschiedene Parteien eingemietet sind.

«Es hat mir sehr viel Spass gemacht Sachen herzustellen, die auch gebraucht werden.»

Hans-Felix Jucker, ehemaliger Mitbesitzer der J. Jucker AG

Jetzt ist auch diese Ära zu Ende gegangen. Im März hat Hans-Felix Jucker bekanntgegeben, dass er und die Erben seines Bruders die J. Jucker AG verkauft haben. Nun liegt es in der Verantwortung der neuen Besitzer, die historischen, zeitgeschichtlich bedeutenden Bauten zu erhalten.

Keine «Wald- und Wiesenstoffe»

Obwohl nicht mehr Herr über das Areal, hat Hans-Felix Jucker noch immer einen Schlüssel für die Fabrik. Bei einem Blick in die fast leeren Räumlichkeiten werden bei ihm Erinnerungen wach.

«Am meisten Freude machte mir das Produzieren», meint er und mustert den letzten Webstuhl, der in der alten Produktionshalle steht. «Wir waren ja eine Spezial-Weberei und stellten keine Feld-, Wald- und Wiesenstoffe her.» Die Produktepalette umfasste Damenkleiderstoffe, Hemden- und Blusenstoffe, Vorhangstoffe und die grosse Spezialität: Plissee-Stoffe.

In ihrer Rohform wurden diese von den Schweizer Grosshändlern gekauft, durch Bedrucken, Besticken oder Färben veredelt und schliesslich weiterverkauft. Und zwar in die ganze Welt. «Es hat mir sehr viel Spass gemacht Sachen herzustellen, die auch gebraucht werden», erklärt Jucker.

Der Tradition gefolgt

Der heute 80-Jährige war in jungen Jahren der Familientradition gefolgt. Er hatte sich wie einst sein Urgrossvater, sein Grossvater und sein Vater darauf vorbereitet, gewisse Aufgaben in der Firma zu übernehmen. «Als Kind hatte ich zwar einmal die Idee, dass ich Zoo-Direktor werden möchte», meint er lachend. Doch er sei halt in den Betrieb hineingewachsen.

Er absolvierte die ‘École supérieure de commerce in Neuchâtel und die Textilfachschule in Reutlingen, machte einen sechsmonatigen Sprachaufenthalt in Cambridge und war neun Monate lang in Amerika. Dort belegte er an der University of North Carolina einen Sommerkurs und bereiste das Land, um verschiedene Spinnereien und Webereien zu besuchen.

Nach dem Tod des Vaters 1963 stieg sein Bruder Jacques direkt in die Firma ein. Hans-Felix Jucker folgte ihm drei Jahre später. Von da an waren sie gemeinsam für den Betrieb der Weberei verantwortlich, bis diese ihre Tore schloss.

Weiterhin eigenes Büro

Auch in der Nummer 7 an der Juckernstrasse geht der ehemalige Firmenchef noch ein und aus. Hier stehen die Zeichen bereits auf Aufbruch. Ein Grossteil der Räume ist leergeräumt, alle Unterlagen und Kleingegenstände sind in Schachteln verpackt. Nicht so in dem Zimmer, das Jucker noch als Büro für sich nutzen darf. Es ist ausgestattet mit einem Schreibtisch und einer Sitzecke. Im Regal stapeln sich Bücher zur Textilindustrie.

So zum Beispiel der dicke Band mit Stoffmustern, den der alt Patron hervorzieht und vorsichtig aufschlägt. «Wir musterten natürlich sehr viel und hatten eine eigene Musterabteilung», erzählt er. «Die Kunden sagten immer im Voraus, in welche Richtung es gehen sollte.»

«Jetzt habe ich keine Verantwortung mehr und komme jeweils mit einem gelösten, guten Gefühl hierher.»

Hans-Felix Jucker

In diesem Moment betritt Marco Brunner den Raum. Die Art, wie der neue Verwaltungsratspräsident der J. Jucker AG seinen Vorgänger begrüsst, zeugt von Sympathie und gegenseitiger Wertschätzung. Würden keine Corona-Massnahmen gelten, hätten sie sich wohl herzlich die Hand geschüttelt. Das vertraute «Du» verstärkt den Eindruck.

Intensiver Verkaufsprozess

Zeit, sich kennenzulernen, hatten sie während des Verkaufsprozesses genug. «Richtig intensiv dran waren wir drei Jahre lang», sagt Jucker. «Das hat mir ermöglicht, mich emotional lösen zu können.» Das sei natürlich nicht einfach gewesen. Mit dem Verkauf gehe eine 130-jährige Familiengeschichte zu Ende. Hans-Felix Jucker selbst war in vierter Generation 50 Jahre lang für die Firma tätig.

«Jetzt habe ich keine Verantwortung mehr und komme jeweils mit einem gelösten, guten Gefühl hierher», betont er. «Vor allem auch darum weil ich weiss, dass wir die Firma an gute Leute verkauft haben.» Er wisse, dass die Gebäude bleiben würden und es positive Veränderungen geben werde. Besonders freue ihn aber, dass der Name bestehen bleibe.

«Ich finde es extrem spannend, wenn es heisst: Firma Jucker in Juckern an der Juckernstrasse», meint Brunner dazu. «Das zu ändern, würde keinen Sinn machen.»

Nicht der erste Versuch

Bereits vor zehn Jahren hatte sich Marco Brunner für die alte Fabrik in Juckern interessiert und einen Kauf ins Auge gefasst. Bei der Durchfahrt sei ihm das Areal ins Auge gestochen, erinnert er sich. «Die Fabrik interessierte mich, weil sie eine Erneuerung hätte brauchen können.»

Also entschied er sich, die Familie Jucker anzurufen. Es folgte ein langes Telefonat mit Hans-Felix Jucker – mit ernüchterndem Ausgang. Die Gebrüder Jucker waren nicht an einem Verkauf interessiert. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt andere Ideen.

«Wir wollten selber etwas machen und erarbeiteten einen Masterplan», erzählt Hans-Felix Jucker. Dieser sei schliesslich aber so umfangreich ausgefallen, dass sie von einer Umsetzung absehen mussten. «Wir merkten, dass wir es nicht stemmen konnten. Finanziell und auch vom Alter her nicht.»

Ganzes Dorf gekauft

Ein paar Jahre später bekamen Marco Brunner und sein Geschäftspartner David Trümpler Wind davon, dass nun die ganze J. Jucker AG verkauft werden sollte. Sie nahmen wieder Kontakt mit der Familie auf und stiegen in die Verhandlungen ein.

«Jetzt haben wir sozusagen die ganze Familie kaufen müssen, um die Fabrik zu bekommen.»

Marco Brunner, neuer Verwaltungsratspräsident der J. Jucker AG

«Mich interessierte eigentlich nur die Fabrik», gibt Brunner unumwunden zu. «Und jetzt haben wir sozusagen die ganze Familie kaufen müssen, um sie zu bekommen.» – «Eigentlich ein ganzes Dorf», ergänzt Jucker mit einem Augenzwinkern.

Bereits beim ersten Treffen merkten die Investoren, dass sie es in Juckern mit einer anderen Dimension als sonst üblich zu tun hatten. Nicht zuletzt wegen des auszuhandelnden Kaufpreises – über den die Parteien Stillschweigen vereinbart haben. Dieser umfasst viel mehr als nur das Fabrikgebäude. Sondern auch die Fabrikantenvillen, diverse Kosthäuser und einige Parzellen Land.

«Warum wir das ganze Dorf kauften: Einer der Gründe war, dass mehrere Parzellen mit Bauland dazugehören», so Brunner. Das sei für sie natürlich ein spannender Aspekt gewesen.

Einsatz der Denkmalpflege

Teil der Verhandlungen waren auch Abklärungen mit der Gemeinde, dem Ortsbildschutz und der kantonalen Denkmalpflege. Letztere habe zum ersten Mal überhaupt die Gebäude vollständig für das Inventar erfasst.

«Die beauftragte Architektin ist letztes Jahr mehrere Tage hier gewesen und wir haben alles genau angeschaut», erzählt Jucker. Dabei bestätigte sich, dass die Bauten in Juckern grossmehrheitlich schützenswert sind und nichts abgerissen werden dürfen – mit Ausnahme eines sogenannten Neubaus südlich der Fabrik. Dieser sei nicht mehr im Originalzustand.

Den Umgang mit der Denkmalpflege ist sich auch Marco Brunner von anderen Projekten her gewohnt, beispielsweise von der Umgestaltung vom Trümplerareal oder dem Areal Im Lot in Uster (siehe Box).

Eine kleine Welt

Zum Stichwort Im Lot fällt Hans-Felix Jucker spontan eine Anekdote ein: Er habe einen Bekannten, der dort wohne, erzählt er und meint an Brunner gerichtet: «Du hast ihm eine Wohnung verkauft.»

«Da kommt keiner von Zürich und mietet sich ein, weil es etwas günstiger ist.»

Marco Brunner

Er habe kürzlich mit ihm telefoniert und erfahren, dass seine Eltern hier in Juckern gewohnt hätten. «Die Mutter war Lehrerin im Haselhalden und meine jüngere Schwester ging zu ihr in die Schule.» Das Zürcher Oberland sei halt schon im althergebrachten Sinne klein.

Ein Phänomen, das auch Marco Brunner in Uster beobachten kann. Die gewerblichen Mieter im Trümplerareal hätten alle einen Bezug zur Region. «Da kommt keiner von Zürich und mietet sich ein, weil es etwas günstiger ist.» Beim Wohnen sei man vielleicht etwas grosszügiger. Gleiches sagt er dem Jucker-Areal voraus, wenn dieses dereinst umgestaltet ist.

Fokus aufs Wohnen

Über die konkreten Pläne kann er noch nicht allzu viel erzählen. Zuerst müssen die Gestaltungspläne konkrete Formen annehmen. Den Fokus wollen die neuen Besitzer aufs Wohnen legen. Vor allem, was die oberen Geschosse der Fabrik betrifft. Dort, wo einst die Webstühle ratterten, sollen dereinst Wohnungen entstehen. Wenn möglich mit Balkonen gegen Süden.

Da diese eine Veränderung des äusseren Erscheinungsbilds bedeuten würden, braucht es aber die Einwilligung der Denkmalpflege. «Entsprechende Verhandlungen müssen wir dann starten», so Brunner.

Den Standort der künftigen Wohnfabrik findet er persönlich sehr attraktiv. «Im Gegensatz zu Bauma, Fischenthal oder Steg ist er vor allem gegen den Abend hin gut besonnt, weil das Tal hier relativ breit ist.» Gewerbliche Flächen wird es – wenn auch in etwas kleinerem Rahmen als bisher – weiterhin geben. «Diese sind im Erdgeschoss oder in einem der Nebengebäude denkbar.»

«Bis wir alles so weit haben, wie wir es uns vorstellen, geht es insgesamt zehn Jahre.»

Marco Brunner

Die anderen bestehenden Gebäude, sprich die Kosthäuser und Villen, müssen die Besitzer alle einzeln anschauen bevor sie entscheiden, wo welches Neuerungs- und Umnutzungspotenzial vorhanden ist. Die Umgebung wollen sie so gestalten, dass die Parkierung «sauber geregelt» ist und die Gärten so abgegrenzt sind, dass «jeder weiss, was zu seinem Revier gehört». Das sei alles ebenfalls Teil der Gestaltungspläne, betont Brunner. «Vorher ändern wir nur das, was nötig ist.»

Den «Stempel aufdrücken»

Ob die J. Jucker AG langfristig alle Bauparzellen behalten wird, lässt er offen. Einen Teil werde man aber sicher selber bebauen. «Wir möchten dort den Stempel aufdrücken, wo wir unsere Kompetenzen bezüglich einer guten Gestaltung sehen.» Dabei gehe es auch darum, zeitlose Formen zu finden. «Wir machen uns immer viele Gedanken zur richtigen Formen- oder Architektursprache.»

Marco Brunner rechnet damit, dass die Gestaltungspläne in gut drei Jahren rechtskräftig sind – falls es keine Einsprachen gibt. Dann werde man einen Teil gleich umsetzen wollen. Dafür sei mit weiteren zwei Jahren zu rechnen. «Bis wir alles so weit haben, wie wir es uns vorstellen, geht es insgesamt zehn Jahre.»

Es wird noch eine geraume Weile dauern, bis sich für die alte Weberei und auch die Mieterinnen und Mieter etwas ändert. Bevor also in Juckern neues Leben Einzug hält, wird das Areal mit seinem alternden Charme weiter an die vergangene Zeit der Textilindustrie erinnern.

Die neuen Besitzer

Die J. Jucker AG gekauft hat eine Gruppe aus Investoren. Diese stammen aus der Region und realisieren seit vielen Jahren Immobilienprojekte, wie zum Beispiel das Bleiche-Areal in Wald, das Trümplerareal oder das Areal Im Lot in Uster. Letztere beide verantworteten Marco Brunner und David Trümpler gemeinsam. «Wir stammen aus der gleichen Textilfabrikanten-Familie Trümpler», erklärt Brunner. Und eben dieser gehören die beiden Areale, denen mit dem Niedergang der Textilindustrie eine unbekannte Zukunft beschert gewesen war. Eine gezielte Umnutzung hauchte ihnen schliesslich neues Leben ein.

In den umgestalteten Produktionsräumen auf dem Trümplerareal sind heute verschiedene Unternehmen eingemietet. Aus der Baumwollspinnerei Uster ist die Siedlung «Im Lot» geworden, mit Wohnungen, Ateliers, Lofts und Gemeinschaftsräumen. «Mit den Projekten haben wir eigentlich das Erbe der Familie retten können», so Brunner.

Mit Andreas Honegger, Geschäftsführer der Otto & Joh. Honegger AG, verbindet ihn ebenfalls eine langjährige Bekanntschaft. Vor seinem ersten Umnutzungsprojekt habe er den Patron der ehemaligen «Bleiche» in Wald besucht und ihn um Rat gefragt. «Ich wollte wissen, welche Erfahrungen er gemacht hat. Wir verstanden uns schnell sehr gut.» (agy)

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