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Politik

Die Jahre des «Abschaums» sind vorbei

Vor 100 Jahren öffnete in Esslingen ein Armenhaus für die Menschen, die von der Gesellschaft oft geächtet wurden. Nach und nach entwickelte sich das Heim weiter zum heutigen Alters- und Pflegezentrum Loogarten.

1954 lebte der Feldmuser Heiri im ehemaligen Bürgerheim in Esslingen, wo heute das Alters- und Pflegezentrum Loogarten steht., Das Alters- und Pflegezentrum Loogarten hat eine 100-jährige Tradition., Renata Riehm machte sich fürs Jubiläum auf die Suche nach Dokumenten und Fotos vom ehemaligen Armenhaus., Den Ruf eines Gefängnisses hat der Loogarten schon lange nicht mehr - auch wenn pandemiebedingt derzeit schärfere Regeln gelten.

Laura Hertel

Die Jahre des «Abschaums» sind vorbei

Wo sich heute Menschen in Rollstühlen oder Gehhilfen durch helle Gänge bewegen, lebten einst auf engem Raum diejenigen Leute, die von der Gesellschaft verstossen wurden. Das heutige Alters- und Pflegezentrum Loogarten in Esslingen diente früher nämlich noch ganz anderen Zwecken: Es war eine Wohn- und Arbeitsstätte für Armutsbetroffene und Randständige, oder wie man es damals formulierte: «Arbeitsfähige Leute, die wegen irgendeines Defekts des Körpers, Geistes oder Charakters nicht mehr imstande sind, in der Welt draussen ihr Brot zu verdienen.»

Das Armenhaus wurde vor genau 100 Jahren unter dem Namen «Bürgerheim im Loo» eingeweiht. Im Laufe der Zeit mutierte es zum Alters- und Pflegezentrum, und die Bezeichnung für die dort lebenden Menschen wandelte sich von «Insassen» oder «Anstaltszöglingen» zu Bewohnerinnen und Bewohnern. Die Feier zum 100-jährigen Bestehen des Loogartens musste coronabedingt um ein Jahr verschoben werden. Stattdessen haben die Verantwortlichen beschlossen, die bewegte Geschichte des Zentrums in Form einer kleinen Ausstellung wieder aufleben zu lassen.

Hunger und Armut nach dem Weltkrieg

Renata Riehm, die für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, stöberte im verstaubten Fundus nach alten Fotos und Dokumenten. Diese hängen nun aufbereitet an den Säulen des Restaurants Loogarten. Für die Bewohner eine willkommene Abwechslung zum Alltag, der durch die Corona-Krise « eintöniger » geworden ist als sonst, so Riehm.

1920, als das damalie Armenhaus eröffnet wurde, steckte die Gesellschaft ebenfalls in einer Krise, aber in einer anderen. Die Nachwehen des Ersten Weltkriegs waren auch in Egg spürbar: Eine grosse Teuerung trieb viele Menschen in Not und Hunger, erzählt Riehm. Die Gemeinden bekamen den Auftrag vom Bund, das Elend der ortseigenen Bürger aufzufangen. 

Zur Armutsbekämpfung stimmte eine grosse Mehrheit der Egger Stimmbürger an einer Gemeindeversammlung 1920 für den Kauf des Heimwesens Sieber «im Loo» mit der umliegenden Landwirtschaft, wo ein Bürgerheim entstehen soll. Eine «mutige Politik», wie der ehemalige Gutsverwalter Hugo Plattner einst über die Gründung der Anstalt schrieb – zumal die Gemeinde «finanziell nicht auf Rosen gebettet» gewesen sei.

Verpflichtung zur Arbeit

Im Heim fanden anfangs rund 25 Menschen Platz. Nicht nur Armutsbetroffene, sondern auch Menschen mit gesundheitlichen Problemen, Behinderungen oder Suchterkrankungen. «Damals gab es kaum Institutionen, die sich um Randständige kümmern», sagt Riehm. Menschen mit Behinderungen seien damals oft zuhause versteckt worden, da sie in der Gesellschaft als « Gottesstrafe » für die betroffene Familie betrachtet wurden.   

Im Bürgerheim sollten sie ein sicheres Zuhause erhalten und mittels Arbeit und Ordnung eine geregeltes Leben führen können. Arbeitsfähigkeit war eine Voraussetzung. So stand in der Hausordnung von 1920: «Die Anstaltsgenossen sind zu einer ihren Kräften angemessenen Arbeit verpflichtet.»

Gemäss Riehm arbeiteten die Bewohner den traditionellen Rollenbildern getreu im Haushalt (Frauen) und in der Landwirtschaft (Männer). Weitere Verdienstmöglichkeiten waren gemäss einem Bericht zum Bürgerheim die Korbflechterei, der Holzhandel und die Kehrichtabfuhr. Als Lohn gab es zwischen 50 Rappen und vier Franken Taschengeld pro Woche.

«Ordnung und Reinlichkeit»

Damals wurde viel Disziplin gefordert: «Anstaltsgenossen müssen sich den Anweisungen der Heimeltern willig unterziehen», hiess es in der Hausordnung. Auf den Boden zu spucken, «rohe wüste Reden» halten, betteln sowie das «Einschleppen von geistigen Getränken auf die Zimmer» war streng verboten. Gefragt waren hingegen «ein gesittetes, menschenwürdiges Verhalten» sowie «Ordnung und Reinlichkeit». Dazu gehörte eine tägliche « Katzenwäsche » und jeden Monat ein Vollbad. Verlassen durften die «Anstaltsgenossen» ihr Heim nur mit Erlaubnis. Wer den empfohlenen Gottesdienst nicht besuchte, hatte sich währenddessen «sonntäglicher Stille zu befleissen».

Trotz dem strengen Regelwerk sahen sich die Leiter in den 20er und 30er Jahren häufig zu disziplinarischen Massnahmen gezwungen. Auch mit Läusen hatte man immer wieder zu kämpfen, weshalb die Bewohner regelmässig «Entlausungsaktionen» unterzogen wurden.

Wandel vom Bürger- zum Altersheim

1954 wurde das alte Bauernhaus, in dem die Bewohner in Mehrbettzimmern zusammen lebten, um einen Neubau erweitert. Zwar gab es allmählich einen Bewohner-Rückgang im traditionellen Bürgerheim, weil in der Gesellschaft ein Ausbau der Sozialleistungen stattfand. Die Betten der Institution blieben aber trotzdem belegt, denn gleichzeitig machte sich in der Bevölkerung eine andere Entwicklung bemerkbar. «Es war ein neues Phänomen, dass Menschen im hohen Alter nicht mehr viele soziale Kontakte hatten», sagt Riehm.

So wurde das Bürgerheim nach und nach zum Altersheim, und das Leben in den Häusern veränderte sich langsam. Die Pensionäre kamen –   auch wegen der AHV – nicht mehr als Arbeitskräfte. Riehm zufolge lebten Arme und Alte während mehreren Jahrzehnten unter einem Dach. Und mitunter waren die Grenzen fliessend. Riehm erzählt von einer langjährigen Bewohnerin: «Vor 35 Jahren trat sie ins Heim ein, weil sie verarmt war. Heute ist sie aufgrund ihres hohen Alters und ihrer Pflegebedürftigkeit hier.»

«Das frühere Bürgerheim hatte fast den Ruf eines Gefängnisses und manche betrachteten die Bewohner als Abschaum der Gesellschaft.»

Renata Riehm, Öffentlichkeitsbeauftragte Loogarten Egg

1983 wurde das ursprüngliche Armenhaus abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt. Das andere Gebäude von 1954 ist 2009 einem neuen gewichen. Der Wandel vom Bürgerheim zum modernen Alters- und Pflegezentrum musste aber auch in den Köpfen der Gesellschaft stattfinden. «Das frühere Bürgerheim hatte fast den Ruf eines Gefängnisses und manche betrachteten die Bewohner als Abschaum der Gesellschaft», sagt Riehm. Ihr zufolge gab es eine Frau, die neben dem ehemaligen Bürgerheim wohnte und immerzu betonte, dass sie nie in den Loogarten kommen würde. Dieselbe Anwohnerin zog dann aber Jahrzehnte später selbst ins Zentrum Loogarten und revidierte ihre einstigen Ansichten.

Transformation geht weiter

Genauso schleichend wie das Armenhaus zum Altersheim wurde, fand in den letzten Jahren die Umgewichtung vom Altersheim zum heutigen Alters- und Pflegezentrum statt. Riehm sagt: «Im Grossen und Ganzen bleiben Leute heute so lange wie möglich zuhause und ziehen erst dann in ein Heim, wenn sie pflegebedürftig werden.»

Einige Jahre lang hatte das Zentrum daher mit Unterbelegung zu kämpfen. Seit 2019 sei es aber aufgrund des guten Rufs wieder total ausgelastet, so Riehm. Insbesondere die Nachfrage nach Alterswohnungen sei sehr hoch in Egg. «Es ist ein politischer Auftrag, das Angebot auszubauen», sagt Riehm. Der Transformationsprozess des Loogartens geht also weiter.

Die Ausstellung ist noch bis am 4. Oktober im Loogarten zu sehen – unter Berücksichtigung einiger Corona-Massnahmen.

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