Politik

«Diagnosen wurden nicht als offene Momentaufnahmen angeschaut»

Prof. Dr. Nadja Ramsauer ist Dozentin und Projektleiterin Forschung an der ZHAW Soziale Arbeit. Sie forschte im Rahmen der unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen, die 2014 vom Bundesrat eingesetzt wurde, um diese Thematik zu untersuchen.

Nadja Ramsauer war Teil der unabhängigen Expertenkommission.

Foto. PD

«Diagnosen wurden nicht als offene Momentaufnahmen angeschaut»

Frau Ramsauer, den Begriff  «Verdingkind» ist wohl den meisten Schweizern ein Begriff. Die Bekanntheit der Administrativen Versorgung ist geringer. Wieso ist das so?
Prof. Dr. Ramsauer : Es hat sicher einerseits mit dem Stand der Forschung zu tun. Fremdplatzierungen von Kindern und Jugendlichen werden schon lange untersucht. Von administrativen Versorgungen sind auch Personen betroffen, die sich nicht unbedingt von sich aus als Betroffene zu Wort melden würden.

Wie meinen Sie das?
Es waren beispielsweise viele ledige, junge Männer, deren temporären Anstellungen oder Alkoholkonsum die Behörden missbilligten. Die sind vielleicht öfter nach dem Wirtshausbesuch aufgefallen und sind so in diese Maschinerie geraten. Das sind nicht unbedingt diejenigen Personen, die von sich aus sagen, dass sie Betroffene waren. Dazu kommt, dass die administrative Versorgung halt auch einfach ein sehr technischer Begriff ist. Es geht um Verwaltungstechnisches.

« Es gab starken Normen, wie eine junge Frau ihre Sexualität zu leben hat. »

Vermutlich ist es auch eine Frage des Alters der Betroffenen.
Das ist sicher ein Punkt. Gerade wenn man an die Gruppen der Betroffenen mit dem Alkoholkonsum denkt, werden viele wohl auch schon tot sein. Aber das ist nur ein exemplarisches Beispiel. Natürlich waren die Versorgten nicht nur Männer, denen die Behörden ein Alkoholproblem zuschrieben. Viele waren auch Frauen, die aufgrund ihres von der Norm abweichenden Sexuallebens versorgt wurden. Wenn früher eine junge Frau wechselnde Beziehungen hatte, war sie eine potentielle Kandidatin. Es gab starken Normen, wie eine junge Frau ihre Sexualität zu leben hat.

Margrith Lutz wurde vorgeworfen, eine Prostituierte zu sein. Ebenfalls kann man in den Akten lesen, dass ihr eine «Pfropfschizophrenie» diagnostiziert wurde. Die Familie vermutet heute eher eine Schwangerschaftsdepression.
Ich glaube, das primäre Problem mit diesen Diagnosen war, dass sie nicht als offene Momentaufnahmen  betrachtet wurden, sondern ein lebenslanges Verdikt waren. Die Psychiatrie hatte eine passende Schnittstelle mit den Behörden. Die Behörden hatten eventuell auch ein Interesse daran, eine Person zu versorgen oder in ein Heim einzuweisen. Durch schwammige diagnostische Begriffe wie jenen der Debilität hatte man ein Instrumentarium, um das dann zu machen.

Also wurde oft einfach etwas behauptet?
Es gab, wie auch heute, Menschen, die tatsächlich krank waren. Daneben gab es aber auch vor allem viele Zuschreibungen. Man hatte damals einfach eine Diagnose und die galt dann auch. Das ist wohl der wesentlichste Unterschied zu heute, dass die Behörden aufgefordert sind, Massnahmen immer und immer wieder neu zu überprüfen.

« 25’000 Franken sind gemessen an den Auswirkungen eigentlich ein lächerlicher Betrag. »

Die Geschichten beschäftigen oft nicht nur die betroffene Person. Marlies Bächtold*, die Enkelin von Margrith Lutz, sagt, dass man in ihrer Familie das Thema heute lieber verschweigt, dass das Thema schambehaftet ist.
Es gibt viele Probleme, die aus einer solchen Erfahrung resultieren und schambehaftet sind und so auch Folgegenerationen tangieren können. Viele Probleme hätte man wohl mit psychologischer Hilfe bearbeiten können. Doch genau diese Personen haben diese Hilfe von staatlicher Seite nicht bekommen. Das wurde verpasst. Im Fall der administrativ Versorgten blieb es bei  den 25’000 Franken aus dem Fonds. Das ist gemessen an den Auswirkungen eigentlich ein lächerlicher Betrag.

In der Unabhängigen Expertenkommission haben Sie sich auch mit dem Unterschied zwischen Stadt und Land auseinander gesetzt. Was sind die markantesten Differenzen?
Im Dorf ist die soziale Kontrolle grösser. Wenn man den Nachbarn aus dem Wirtshaus torkeln sah, schwebte über seinem Kopf immer die administrative Versorgung als Damoklesschwert. In der Stadt Zürich mussten die Behörden die soziale Distanz durch andere Instrumente, wie den Erkundigungsdienst, wettmachen. Dieser ist vergleichbar mit den heutigen Sozialdetektiven.

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