Spiess-Hegglin bekehrt Wetziker Wutbürger
Dieser Text erschien erstmals im Anfang 2019. Die Züriost-Redaktion präsentiert eine Auswahl der besten Porträts und Geschichten des Jahres 2019, um Ihnen die Festtage zu versüssen.
Sie stehen im Foyer des « Zürcher Oberländers » , die Köpfe einander zugeneigt und plaudern in vertrautem Tonfall. Wie zwei Freunde. Jürg Streuli, Wetziker, Bähnler, Rentner. Jolanda Spiess-Hegglin, ehemalige Zuger Kantonsrätin, Linke, Feministin, Opfer von Internethass. Seit Jahren wird die 38-Jährige fast täglich online gedemütigt, ihre Intelligenz hinterfragt oder ihre Aussagen ins Lächerliche gezogen. So hat es auch Jürg Streuli getan. Im April 2017 bezeichnete der 67-Jährige sie auf der Facebook-Seite des notorischen Hetzers « Kampagne 19 » als Lügnerin. Nun setzen sich die zwei an einen Tisch und tuscheln freundlich miteinander.
Herr Streuli, wieso haben Sie Jolanda Spiess-Hegglin als Lügnerin bezeichnet?
Jürg Streuli: Die Stimmung war damals gegen Jolanda, auch die mediale. Ich habe mich empört, mich vom Mainstream mitreissen lassen. Als die Entscheidung bekannt wurde, dass Herr Hürlimann und Jolanda eine gütliche Lösung gefunden hatten, habe ich auf Facebook einen Kommentar veröffentlicht, ich fände dies schade… und sie als Lügnerin bezeichnet. Das ist richtig.
Was glaubten Sie, dass an der Landammannfeier in Zug passiert war?
Streuli: Ich glaubte das, was in den Medien kolportiert wurde; dass Jolandas Version nicht überzeugt. Auch ich habe ihre Aussage stark bezweifelt. Aber was genau passiert ist, weiss niemand, niemand war dabei.
Was glauben Sie heute?
Streuli: Heute glaube ich ihr. Heute tut mir das leid. Heute haben wir ein gutes Verhältnis, Jolanda und ich, und ich unterstütze sie auch, wo es geht. Unser Fall besteht aus drei Teilen: Den Geschehnissen der Landamann-Feier, das sind jetzt vier Jahre her. Der darauffolgenden Hetze und Verfolgung von Jolanda – unter aller Sau, unter der Gürtellinie war das – ihre Familie wurde bedroht. Wenn ich heute die Bilder sehe von ihr, wie es ihr gegangen ist, dann wird mir schlecht, dann tut mir das schaurig leid und weh. Der dritte Teil ist aber, dass etwas Gutes herausgekommen ist. Jolanda ist heute Geschäftsführerin von Netz Courage (siehe Box), einer Sache, gegen die kein vernünftiger Mensch etwas haben kann. Da profitieren auch Männer davon. Sie hat sogar schon SVP-Mitglieder beraten und vertreten, die im Internet schikaniert worden sind.
Jürg Streuli ist gross und bullig, seine grauen Haare sind schütter und zerzaust. Er spricht langsam und laut.
Frau Spiess, Sie haben im Internet schon allerlei schlimme Betitelungen erhalten. Hat Sie die Bezeichnung Lügnerin derart verletzt, dass Sie gleich Anzeige erstattet haben?
Jolanda Spiess: Für mich waren die schlimmsten Aussagen stets jene, die meine Glaubwürdigkeit infrage stellten oder die Wahrheit verdrehten. Wenn mich jemand als Schlampe bezeichnete oder mich auf andere Weise herabwürdigte, konnte ich dies als unreife Reaktion abtun. Das verletzte mich nicht auf dieselbe Weise. Aber wenn ich etwas sagte, und man mir einfach nicht glaubte, weil ich eine Frau war oder wieso auch immer, dann tat mir das weh. Vor allem die Bezeichnung Lügnerin. Ich habe nicht ein einziges Mal gelogen in dieser ganzen Zeit. Deswegen wehre ich mich auch konsequent gegen solche Beschuldigungen, ich habe mehr Anzeigen eingereicht wegen übler Nachrede und Verleumdungen als wegen Beschimpfungen. Sonst hätte ich noch 500 weitere Anzeigen einreichen müssen.
Spiess schaut einem direkt in die Augen, sie blinzelt selten und ihr Blick, aus diesen schwarz umrandeten stahlblauen Augen, hat etwas Durchdringendes.
Herr Streuli, Sie haben gegenüber Radio SRF gesagt, Sie hätten zur Zeit Ihres Kommentars gedacht, Frau Spiess sei eine « extreme Feministin » . Was bedeutet das?
Streuli: Das war das Bild, das die Medien von ihr vermittelten. Auch im TV erhielt ich diesen Eindruck von ihr. Als ich Jolanda dann aber persönlich bei der Staatsanwaltschaft Uster kennen lernte, veränderte sich mein Bild von ihr komplett. Ich sehe sie heute ganz anders. Eine Feministin ist sie sicher, sie wäre beleidigt, wenn man das anzweifeln würde. Aber sie ist keine vergiftete Feministin, wie es sie auch gibt. Sie ist eine Frau, die nicht in einem politischen Betrieb tätig ist oder als Professorin für Genderfragen diese Problematik völlig theoretisch sieht. Sie ist Mutter von drei schulpflichtigen Kindern, steht morgens um fünf Uhr auf, macht der Familie das Frühstück. Sie steht mit beiden Füssen im Leben, sie ist eine Praktikerin und keine abgehobene Theoretikerin, wie ich sie früher gesehen habe. Man kann mit ihr ausgezeichnet sprechen, sie ist charmant und ich finde sie eine ganz tolle Frau.
Die Facebook-Seite « Kampagne 19 » widmet sich Themen wie dem Nationalsozialismus, Flüchtlingen und Frauen in der Politik. Es sind Sätze zu finden wie « Es gibt nur eine Alternative für Deutschland und das ist die AFD » , im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsrettungsschiff Aquarius kommentiert ein User « Schiffliversänkis spiele? » Über dem Bild von Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die sich mit einer Gruppe jungen Afrikanern unterhält, ist die Überschrift gepostet: « Frauenpolitikerinnen und die von ihnen geförderten Schlepperbanden » .
Frau Spiess, sind Sie beleidigt, wenn man Sie als « extreme Feministin » bezeichnet?
Spiess: Nein. Für mich ist eine Feministin einfach eine Person, die für Gerechtigkeit einsteht. Eine extreme Feministin wäre dann eine Person, die extrem für Gerechtigkeit einsteht. Feminismus hat nichts mit Männerhass zu tun. Das ist aber wohl in den Köpfen von vielen Männern noch so verankert – Feminismus ist für sie ein negativer Begriff. Auch ich hätte mich vor vier Jahren noch nicht so bezeichnet, erst seit ich diese Problematik am eigenen Leib erlebt habe, diese Ungerechtigkeiten, diese Diskriminierungen. Ich wurde anders behandelt, weil ich eine Frau bin. Auch in den Medien wurde extrem sexistisch über mich berichtet. Ich halte den Finger auf die wunden Punkte. Das ist alles. Ich bin eine Gerechtigkeitsfanatikerin; das trifft es eher.
Und dieser Fanatismus nach Gerechtigkeit bekamen auch Sie, Herr Streuli, zu spüren, nachdem Sie den Kommentar abgesetzt hatten.
Streuli: Den hatte ich schon völlig vergessen. Man ist ja täglich auf Facebook und schreibt ein paar Kommentare. Ich bin ein Eisenbahnfan und interessiere mich für Verkehrspolitik, Themen, die ich auch rege kommentiere. Der Post gegen Jolanda war einer von vielen, an den ich mich nicht mehr erinnerte. Eines Tages kam aber ein eingeschriebener Brief von der Post Wetzikon. Ich war nicht Zuhause und musste ihn extra noch abholen gehen. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, worum es ging. Meine Steuern hatte ich bezahlt. Im Brief stand: Staatsanwaltschaft See/Oberland. Es hiess, Jolanda Spiess-Hegglin klage mich wegen Beleidigung ein, in einem ersten Schritt gehe es aber um den Versuch einer gütlichen Einigung. Morgens um acht Uhr musste ich in Uster sein, zu meinem Schrecken hiess es, sie komme auch. Ich war eine halbe Stunde zu früh dort, um 7.30 Uhr – für mich mitten in der Nacht. Angst hatte ich nicht gerade, aber nervös war ich schon. Würde sie kratzbürstig sein oder polemisch, vielleicht ausrufen?
Und wie war sie?
Streuli: Sie ist von Zug angereist wie heute. Sie hat sich am Schalter angemeldet. Ich sass an einem Tisch. Plötzlich kam sie auf mich zu, streckte ihre Hand aus und begrüsste mich: « Guten Morgen Herr Streuli » . Sie macht das bewusst so, um die Spannung zu nehmen. So war es auch bei uns. Die Staatsanwältin fragte mich, ob ich mich diskriminiert fühle, dass ich als Mann hier zwei Frauen ausgeliefert sei. Aber es war sehr angenehm. Wir haben eine gütliche Einigung gefunden – nicht ganz günstig: Eine Spende von 800 Franken an ihren Verein. Und als Gentleman habe ich noch 50 Franken dazu gegeben. Die hat Jolanda in eine Mitgliedschaft von Netz Courage umgewandelt. Das finde ich auch okay. Ich werde diese Mitgliedschaft erneuern.
Jolanda Spiess-Hegglin hat am 20. Dezember 2014 als Zuger Kantonsrätin an der Landammannfeier teilgenommen und besuchte im Nachgang mit fünfzig weiteren Gästen eine Bar, dabei war auch Markus Hürlimann, Präsident der SVP des Kantons Zug. Spiess gibt an, am folgenden Tag mit Unterleibsschmerzen, ohne Kater, aber mit Filmriss aufgewacht zu sein. Obwohl sie bereits vormittags danach verlangte, wurde ihr im Kantonsspital erst abends Blut und Urin entnommen – die Untersuchungen führten zu keinem wie von ihr vermuteten Hinweis auf narkotisierende Stoffe, gefunden wurde aber die DNA des SVP-Präsidenten in ihr und eine weitere unbekannte männliche DNA an ihrer Unterwäsche. Das Verfahren wegen Verdachts auf Schändung gegen Hürlimann wurde im August 2015 eingestellt. Im März 2018 kam es zwischen ihm und Spiess zu einem aussergerichtlichen Vergleich.
Nach dem Gerichtstermin sind Sie miteinander einen Kaffee trinken gegangen.
Streuli: Genau, dort haben wir uns noch besser kennengelernt. Seither bin ich wie gesagt ein Fan von Jolanda.
Wie ist es möglich, dass Sie ihre Meinung innert so kurzer Zeit komplett geändert haben?
Streuli: Das ist doch überhaupt nicht erstaunlich. Ein Mensch wird in den Medien in einem bestimmten Muster gezeichnet. Dann lernt man diese Person kennen, das könnte auch irgendein Filmstar oder ein Politiker sein. Im persönlichen Gespräch merkt man schliesslich, dass das ein ganz anderen Mensch ist als gedacht.
Was haben Sie aus dem Fall gelernt?
Streuli: Die freie Meinungsäusserung darf nicht eingeschränkt werden, aber man darf nicht auf persönlicher Ebene beleidigen, wie ich es getan habe. Ich hätte statt « Lügnerin » schreiben müssen: « Ich ziehe diese Version von Jolanda Spiess-Hegglin in Zweifel » , « Das überzeugt mich nicht » oder « Ich setze ein Fragezeichen dahinter » . Persönliche Verletzungen werde ich keine mehr posten.
Frau Spiess, Sie beschreiben den typischen Internethasser als weissen Rentner, SVP-Wähler, im Kanton Thurgau, Aargau oder auch im Zürcher Oberland wohnhaft. Entspricht Jürg Streuli also dem typischen Wutbürger?
Spiess: Das dachte ich zumindest anfangs. Aber nein, ein Wutbürger ist er nicht. Dieser kann nicht mehr aufhören, macht selbst nach einer Gerichtsverhandlung weiter. Meine Aussage über den typischen Internethasser war auch plakativ. Aber in meinen Akten, die mittlerweile fast 200 Fälle umfassen, taucht dieses Bild des älteren, weissen Rentners halt oft auf. Jürg ist aber nicht der einzige, der sich umstimmen liess. Rund ein Dutzend weisser, älterer Männer sind unterdessen Mitglieder bei Netz Courage.
Streuli: Sie hat einen richtigen Fanclub.
Diese Männer sind allesamt Ihretwegen konvertiert?
Konvertiert – was für ein schönes Wort. So habe ich mir das noch nie überlegt. Aber ja, sie haben sich sicher dank mir etwas gewandelt. Wir haben ein gutes Einvernehmen, telefonieren hie und da und treffen uns sogar. Um das Hassproblem lösen zu können, ist dies eine gute Möglichkeit. Wir unterhalten uns auf Augenhöhe und diese Leute tragen diese Nachricht in ihre Kreise zurück. Sie werden zu Botschaftern. Was Jürg hier macht, ist etwas extrem Wichtiges für die Vereinsarbeit und die Aufklärung. Eine geläuterte Person ist für uns sehr wertvoll.
Spiess dreht sich zu Streuli und blickt auch ihm direkt in die Augen.
Spiess: Anhand deines Beispiels sieht man, was passieren kann. Wenn du sagst, dass du dich von einer Medienhetzjagd hast täuschen lassen, dann bedeutet mir das sehr viel.
Herr Streuli ist nicht der erste, der im Zuge eines Vergleichs eine Spende an Ihren Verein bezahlt hat. Insofern nützt Ihnen der Internethass sogar, solange sie die Hater konvertieren können.
Spiess: Ja, das stimmt. Ich sage den Personen aber nicht, sie müssten Mitglied werden. Ich führe nach den Vergleichsverhandlungen keine Verkaufsgespräche.
Frau Spiess sagt, viele Männer hassten online derart niveaulos, weil sie Regeln im Internet noch nicht kennen. War das bei Ihnen auch so, Herr Streuli?
Streuli: Ich kann das insofern bejahen, als dass mir nicht bewusst gewesen ist, welche Folgen es haben kann, eine konkrete Person als Lügnerin zu bezeichnen. So gesehen war es naiv. Etwas Vergleichbares würde ich nicht mehr schreiben. Ich dachte, der Kommentar gehe unter in den Millionen anderer. Doch da war eine scharfe Beobachterin am Werk, wohl auch weil es sich bei « Kampagne 19 » um eine heikle Seite gehandelt hat.
Spiess: Richtig. Ich suche ja nicht nach einem Jürg Streuli. Die einschlägigen Leute kenne ich bereits und weiss daher, wo ich Kommentare unter der Gürtellinie finde. Wenn beispielsweise Andreas Glarner etwas über mich schreibt, dann kann ich gleich 20 Anzeigen generieren. Oder bei « Kampagne 19 » , wenn dort etwas über mich geschrieben wird, dann gibt es nachher garantiert Ehrverletzungen.
Streuli: Gibt es den eigentlich noch oder hast du ihn zum Schweigen gebracht?
Spiess: Es gibt ihn noch, aber er darf nichts mehr über mich schreiben. In einer Woche treffe ich ihn nochmals, wegen einer zweiten Anzeige.
Streuli: Das ist auch so ein Bünzli, von dem man das gar nicht denken würde.
Spiess: Das ist ein spezieller Fall, ja. Das geht Richtung… ich darf es gar nicht sagen, aber wirklich abartig. Kein Wutbürger, sondern andersrum.
Was heisst andersrum?
Spiess: Das Wort darf ich nicht sagen, sonst mache ich mich ebenfalls strafbar. Aber er hetzt gegen alles, und zwar auf böse, primitive Weise. Wenn man ihm in die Augen schaut, dann bekommt man Angst. Ihm möchte man nicht in der Nacht begegnen.
Spiess spricht leise, erhebt ihre Stimme nie, auch wenn ihr Blick noch intensiver wird.
Die meisten Opfer von Internethetze sind Ihrer Erfahrung nach Frauen, jung und eher links. Die Täter sind Männer, alt und eher rechts. Woher kommt diese Wut der konservativen Männer auf die modernen Frauen?
Spiess: Nicht jeder hat diese Wahrnehmung. Meine Fälle sehen aber tatsächlich mehrheitlich so aus. Die Erklärung ist, dass sich diese älteren, konservativen Männer noch nicht damit abfinden können, dass die Frauen eine Stimme haben, in der Öffentlichkeit stehen, Politik machen. Dank den sozialen Medien gelingt es eben auch, Minderheiten mitzudiskutieren. Zuvor mussten sie sich mit viel Mühe Gehör verschaffen. In den klassischen Medien wurden meist Männer als Experten befragt, Politiker interviewt. Jetzt reden die Frauen auch mit. Aber in den Köpfen gewisser Personen ist das einfach noch störend. Plakativ gesagt: Die Wohlfühlzone dieser älteren Herren wird jetzt täglich angegriffen oder eingeschränkt. Gewisse finden schlicht den Rank nicht, fühlen sich bedroht und fürchten sich um ihre Deutungshoheit. Es geht auch um Existenzängste; wenn Männer merken, dass jetzt kompetente Frauen auf dem Arbeitsmarkt sind, die ihnen den Job wegnehmen könnten. Was haben sie dann noch? In diese Richtung geht es meiner Meinung nach. Deswegen wäre es wichtig, der Menschheit klar zu machen, dass alle Menschen gleich viel wert sind und gleich viel Gehör bekommen sollten – egal ob Frau, Mann, Flüchtling oder Multimillionär.
Jolanda Spiess-Hegglin ist Journalistin und ehemalige Schweizer Politikerin. Heute ist sie die Geschäftsführerin des Vereins Netz Courage, der gegen Hassrede, Diskriminierung und Rassismus im Internet kämpft. Sie wünscht sich, dass sich künftig der Bund dieser Sache annimmt.
Als Sie damit begonnen haben, sich gegen Beschimpfungen im Netz zu wehren, waren Ihre Motive noch nicht so edel. Damals wurden Sie auch von Rache getrieben, ist das richtig?
Spiess: Ich habe damit angefangen, Personen anzuzeigen, weil ich keine andere Möglichkeit mehr sah. Ich wusste nicht mehr, was tun. Es handelte sich um Tausende von Beschimpfungen: Verleumdungen, Morddrohungen, Vergewaltigungsandrohungen, jeden Tag, per Briefpost, per Mail, per Facebook und Twitter, überall einfach. Und es hat nicht mehr aufgehört. Durch die Medienkampagnen wurden immer neue Geschichten konstruiert, der Pöbel weiter befeuert. Mein Anwalt sagte mir, Verleumdungsklagen seien sehr teuer. Also habe ich die Vorlage einer Ehrverletzungsklage genommen und selbst eine geschrieben. So hat es begonnen: Abends, als die Kinder im Bett waren, habe ich meine Klagen geschrieben.
War das auch eine Art Psychohygiene für Sie?
Spiess: Ja, auf jeden Fall. Ich wollte mich wehren, die Kontrolle zurück erhalten. Als die ersten Verurteilungen fielen, war das eine riesige Genugtuung für mich. Ich hatte den Beweis: Das darf man wirklich nicht, es liegt nicht an meiner Sensibilität. Die Typen wurden am Laufmeter verurteilt, eine Strafbefehl nach dem anderen. Ich dachte: „Wow, super“. Ein Staatsanwalt hat mich dann zu einer Vergleichsverhandlung eingeladen. Ich wusste gar nicht, was das war. Ich ging total nervös, aber auch aufgeladen dort hin. Mein Gegenpart war ein SVP-Politiker aus der Ostschweiz, der nach Zug kommen musste. Er sass neben dem Staatsanwalt am Tisch, schwitzte, blickte zu Boden. Er konnte mich nicht ansehen. Ein vom Volk gewählter Mann, der mich auf Facebook als Schlampe und Bordsteinschwalbe bezeichnete, hatte es durchaus verdient, dass ich ihn zur Verantwortung ziehe. Aber ich sah ihm seine Angst an und zog die Strafanzeige zurück. Wir einigten uns auf einen Vergleich, er überwies mir eine Genugtuung.
Er tat Ihnen leid.
Spiess: Ja. Er war total…
Spiess überlegt. Streuli schaut derweil abwesend aus dem Fenster.
Spiess: … hilflos. Ihm war die ganze Sache extrem peinlich. Ich dachte, er sei genug bestraft. Ab diesem Moment habe ich jedes Mal, wenn ich eine Anzeige erstattete, einen Vergleich verlangt.
Seither begrüssen Sie Ihre Beschimpfer per Handschlag und gehen anschliessend mit ihnen einen Kaffee trinken?
Spiess: Genau. Das gehört jetzt zu meinem Alltag: Hie und da eine Vergleichsverhandlung, diese Leute treffen und einen Kaffee mit ihnen trinken. Ich könnte Bücher schreiben über diese Geschichten.
Jürg Streuli wendet den Blick von der Rapperswilerstrasse und den vorbei fahrenden Autos ab und fixiert seine Tischnachbarin.
Streuli: Schreibst du einmal ein Buch?
Spiess: Ja, bestimmt. Sogar zwei.
Streuli: Scho, gäll? Komme ich darin auch vor?
Spiess-Hegglin lacht erstmals laut.
Spiess: Im ersten Buch kommst du sogar vor.
Streuli: Du darfst mich also gerne auch namentlich erwähnen.
Spiess: Danke, das mache ich.
Was hat sich seit der Gründung von Netz Courage geändert?
Spiess: Der Hass im Internet ist überschaubarer geworden. Ich weiss, wo die Brandherde sind. Wo es früher noch unverhofft zu einer Explosion kam, kann ich heute vorgreifen oder mit neutralen Accounts schlichten, deeskalieren.
Heute liest man überall, der Hass im Internet sei schlimmer denn je. Es habe noch nie so viele Anzeigen gegeben.
Spiess: Das ist richtig. Aber ich glaube, ich bin bereits einen Schritt weiter. Die Schweizer Szene ist nicht mehr so schlimm wie noch vor zwei Jahren, die schlimmsten Personen sind aus dem System entfern worden. Einerseits hat es Verurteilungen von wirklich bösen Menschen gegeben, die jetzt eine Probezeit haben. Andererseits haben auch Leute ihre Accounts nach der Verurteilung gelöscht. Oder ich konnte sie abfangen und neutralisieren, wenn nicht sogar auf die gute Seite holen. So wie Jürg hier.
Streuli: Genau. Und ich betrachte diese Auftritte auch als eine Art Wiedergutmachung. Ich möchte Jolanda etwas zurückgeben. Wir haben ja eine Radio- und eine Fernsehsendung (siehe Box) gemacht und jetzt sind wir bei der Zeitung. Ich mache das gerne, das ist aber nicht selbstverständlich. Ich spiele quasi den reumütigen Bösewicht. Wie ich es auch verdient habe. Jemanden als Lügnerin zu bezeichnen, ist ja aber auch nicht so wahnsinnig schlimm, dass ich mich jetzt in Grund und Boden schämen müsste. Ich rechne mir immer noch gewisse Chancen aus, dass ich doch noch in den Himmel komme. Jetzt ist der Medienrummel bald vorbei. Ich hoffe, ich sehe Jolanda trotzdem wieder einmal.
Spiess: Doch, doch. Ich bin ja öfter einmal auf der Staatsanwaltschaft Uster. Dann können wir einen Kaffee trinken gehen.
Die zwei lachen einander an.
Das Schweizer Fernsehen zeigt am Donnerstag, 24. Januar, im Format «Einstein» zum Thema «Wut – eine Emotion bestimmt unsere Gesellschaft» die Geschichte von Jolanda Spiess-Hegglin und Jürg Streuli. Die Sendung wird auf SRF 1 von 22.25 bis 23.05 ausgestrahlt.