Ein Dalai Lama zum Anfassen
Auf dem Hügel beim Tibet-Institut in Rikon haben sich schon um 8 Uhr mehrere hundert Leute vor einem Bildschirm eingefunden. Sie alle wollen ihn sehen: «Seine Heiligkeit», der Dalai Lama. Freiwillige verteilen Wasser, Männer in Anzügen – es sind Mitglieder der Schweizer Tibeter Gemeinschaft – haben sich auf den Gehwegen positioniert, um zu schauen, dass alles geordnet zu und her geht. Schliesslich wollen alle zuvorderst am Band stehen, um eine Segnung «seiner Heiligkeit» zu erhalten oder einfach nur, um freien Blick auf das religiöse Oberhaupt zu haben.
«Noch zwei Minuten», sagt ein Mann im Anzug. Hinter ihm brennt in einem Kamin ein Tannenkies. Der Rauch umhüllt den gesamten Hügel. Es schmeckt nach süssem Weihrauch. «Der Weg für den Dalai Lama soll gereinigt werden», sagt der Mann. Plötzlich wird es ganz still, die Menschen stehen auf, drehen sich alle in dieselbe Richtung und führen ihre Hände zusammen. Der Dalai Lama ist eingetroffen und winkt den Menschen von oben zu. Er lächelt. Einige Tibeterinnen sind gerührt, es kullern Tränen.
Der 83-Jährige nimmt sich Zeit auf seinem Weg nach unten, begrüsst einige der rund 1200 Anwesenden persönlich und legt ihnen einen sogenannten Khatag, ein Gebetsschal, um den Hals. Beim neuen Lichtopferhaus bleibt der Dalai Lama stehen. Alle Anwesenden beginnen zu singen. Es sind Mantras, also Gebete, die sie chanten. Nach dieser Einweihungszeremonie begibt sich «seine Heiligkeit» in den Kultraum, wo er einer religiösen Zeremonie beiwohnen und eine Ansprache zum 50-jährigen Bestehen des Tibet-Instituts halten wird (siehe Box).
Langlebensgebet für den Dalai Lama
Im Kultraum hat es nur begrenzt Platz, weshalb die meisten die Zeremonie draussen am Bildschirm auf tibetisch mitverfolgen. Drinnen sitzen geladene Gäste, darunter etwa Regierungsrat Mario Fehr (SP) und die Zeller Gemeindepräsidentin Regula Ehrismann (EVP). Ihnen und den anderen im Kultraum Anwesenden wird alles Gesprochene simultan über einen Kopfhörer auf Deutsch übersetzt.
«Has anyone some cookies?»
Dalai Lama
Die erste halbe Stunde ist die Übersetzung aber nicht nötig. Ohne Unterbrechung chanten die Tibeter weitere Mantras. Darunter auch ein Langlebensgebet, das für den Dalai Lama, der in einem goldenen Sessel vorne im Raum sitzt, gesungen wird. Immer wieder transportieren freiwillige Helfer mit Mundschutz Gegenstände zum Dalai Lama, welche die Mönche dann von «seiner Heilligkeit» segnen lassen – etwa, indem er sie am Kopf berührt.
Während der religiösen Zeremonie verteilen Männer im Anzug tibetischen Tee und süsslich schmeckenden Reis mit Rosinen und Cashew-Kernen. Auch der Dalai Lama isst und trinkt während der Zeremonie. Als das letzte Mantra endet, spricht der Dalai Lama erstmals ins Mikrofon: «Has anyone some cookies?» – Hat jemand Kekse? – und sorgt dafür für grosses Gelächter. Er schiebt nach: «only a test», – also nur ein Mikrofon-Check.
Kultur bewahren
Dann wird der Dalai Lama ernst und spricht in seiner Ansprache über das Tibet-Institut. «Es ist ein Ort, an dem unsere Kultur bewahrt werden kann», sagte er. Vor 60 Jahren seien die Tibeter als Flüchtlinge in die Schweiz gekommen. «Als China in unser Land marschierte, mussten wir ins Exil flüchten.» Mit Hilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes hätten sie hier Zuflucht gefunden. «Wir haben nicht nur ums Überleben kämpfen müssen, sondern auch dafür, unsere Identität weiterzutragen.» Mit dem Institut sei ein Ort geschaffen worden, wo dies möglich gewesen worden sei und die Kultur des tibetischen Buddhismus und die Lehren von «Generation zu Generation» hätten weitergegeben werden können.
«Es ist wichtig, dass der Schwerpunkt auf das Studieren gelegt wird.»
Dalai Lama
In seiner 45-minütigen Rede betonte das geistliche Oberhaupt der Tibeter immer wieder, wie wichtig es sei, nicht nur zu beten, Rituale abzuhalten und beeindruckende Tempel zu bauen. «Viel wichtiger ist, dass wir uns mit den Erkenntnissen, Inhalten und Schriften des Buddhismus auseinandersetzen und diese studieren.» Es sei wichtig, die Religion nicht nur auszuüben, sondern auch erklären zu können.
Andere Termine
Der Dalai Lama fragte in diesem Zug die Mönche des Institutes, ob sie eine gewisse Schrift im Haus haben. Diese bejahten. «Lesen sie diese auch oder steht sie nur als Verehrungsobjekt rum?», fragte das Oberhaupt und sorgte erneut für Gelächter. Er appellierte darauf an die Mitglieder des Institutes: «Es ist wichtig, dass der Schwerpunkt auf das Studieren gelegt wird. Es müssen Klassen eingerichtet werden, in denen Leute lernen können – auch voneinander.»
«Oh, es ist Zeit zum Essen.»
Dalai Lama
Damit sprach der Dalai Lama auch ein Thema an, das er seit jeher predigt: Sich mit der westlichen Wissenschaften auseinanderzusetzen und auch mit nicht buddhistischen Menschen zu sprechen – aber nicht zum Zweck des Missionierens, sondern um voneinander zu lernen und die tibetische Kultur zu repräsentieren.
Um 11.15 beendete «seine Heiligkeit» in gewohnt humorvoller Manier seine Ansprache. «Welche Zeit haben wir?», fragte er. Als er die Antwort erhielt, meinte er: «Oh, es ist Zeit zum Essen.» Der Dalai Lama verliess den Kultraum und begab sich nochmals zu den Menschen, bevor er in einem Raum im Tibet-Institut sein Mittagessen zu sich nahm. Um 13 Uhr verliess das Oberhaupt Rikon. Bereits am Samstag wird er in der Eulachhalle in Winterthur die öffentlich Jubiläumsfeier «50 Jahre Tibet-Institut Rikon» begehen. Tags darauf lehrt er im Hallenstadion Zürich mit drei seiner bevorzugten Texte und am Montag kehrt er nach Winterthur zurück, um Angehörigen der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) am Symposium «Universal Human Values and Education» etwas mitzugeben.
Tibet-Institut Rikon feiert sein 50-Jahre-Jubiläum
Die Unternehmerfamilie Kuhn folgte einer Anregung des Dalai Lama, als sie im Jahr 1968 in Rikon die Eröffnung eines tibetischen Klosters ermöglichte. «Seine Heiligkeit» übernahm die geistliche Schirmherrschaft, heisst es in einer Mitteilung des Tibet-Instituts Rikon. Der Dalai Lama wählt die Äbte aus und überträgt der Mönchsgemeinschaft ihre Aufgaben. Die wichtigste besteht darin, die religiöse und kulturelle Betreuung der Tibeterinnen und Tibeter in der Schweiz sicherzustellen.
«Ein Ort des Lehrens und Lernens» soll das Tibet-Institut nach den Worten des Dalai Lama sein. Für tibetische wie für nicht-tibetische Menschen, insbesondere auch für die jüngeren Generationen, gehe es hier darum, ein religiöses und kulturelles Erbe zu bewahren, aber auch zu vertiefen und auf neue Horizonte hin zu öffnen. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat sich der Aufgabenkreis des Tibet-Instituts erweitert. So wurde eine wissenschaftliche Bibliothek aufgebaut. Sie dient der Bewahrung des geistigen Erbes Tibets, bildet eine Basis für schulische und wissenschaftliche Arbeiten und ist im universitären Zürcher Bibliothekenverbund elektronisch für jedermann zugänglich.
Das Tibet-Institut bietet einem interessierten Publikum jährlich rund hundert Veranstaltungen zu Themen der tibetischen Kultur und Religion an. Es erreicht damit etwa 2000 Teilnehmende sowie rund 30 Schulklassen, die im Rahmen des überkonfessionellen Religionsunterrichts das Kloster besuchen.
Auf Anregung des Dalai Lama beteiligt sich das Tibet-Institut seit 15 Jahren an den Bemühungen, Mönche und Nonnen in den tibetischen Exilklöstern – in Indien wie in Rikon – mit westlich-naturwissenschaftlichem Denken vertraut zu machen. Lehrpersonen aus der Schweiz unterrichten seit Jahren in zahlreichen Exilklöstern, heisst es weiter.
Dahinter stecke die Erfahrung des Dalai Lama, dass der tibetische Buddhismus auch für andere Denkweisen offen sein müsse, wenn er in der heutigen Welt überleben und zu einer friedlichen globalen Entwicklung beitragen wolle. Gleichzeitig ist er überzeugt, dass auch die westliche Welt bereichert wird, wenn sie sich mit östlicher Philosophie und Spiritualität auseinandersetzt. (jen)