«Auf der Notfallstation müssen Prioritäten gesetzt werden»
Es ist Mittwochnachmittag. Auf der Notfallstation des Spitals Uster ist die Situation überschaubar. Ins Wartezimmer treten vereinzelt Leute: Ein Junge, der beim Fussballspielen sein Handgelenk verstaucht hat. Und ein Mann, der seinen kleinen Finger gebrochen hat. So viel Ruhe wie heute erleben die Pflegefachpersonen und Ärzte selten. Meist empfangen sie täglich zwischen 40 bis 60 Patienten. Heute sind es 23, Stand um 14.30 Uhr.
«Wir sind uns mehr Betriebsamkeit gewöhnt», sagt Tatjana Gottsponer, Pflegemanagerin Notfallstation. Die junge Frau mit braunem Zopf und Walliser Dialekt zeigt auf einen Bildschirm im Empfangsraum. «Heute hatten wir vorwiegend einfachere Fälle.» Wenn Gottsponer von einfacheren Fällen spricht, meint sie Patienten, die der Kategorie grün zugeordnet werden. Diese erfordern einen Erstkontakt mit einem Arzt innerhalb von 90 Minuten. Nebst der grünen Kategorie gibt es die blaue, gelbe und orange. Letztere ist jene, bei der der Kontakt innerhalb von zehn Minuten hergestellt werden muss. Bei der gelben muss der Arzt den Patienten spätestens nach 30 Minuten anschauen. Die blaue Kategorie erfordert einen Erstkontakt nach zwei Stunden und rot bedeutet eine Sofortbehandlung im Schockraum.

Yanik Hug und Tatjana Gottsponer im Triage-Zimmer. (Foto: Nathalie Guinand)
«Das Spital sollte über die Bücher»
Die zunehmende Patientenzahl, vor allem auch von Personen mit einfacheren Krankheitsbildern und Verletzungen, und damit einhergehend die längeren Wartezeiten auf der Notfallstation stellen das Spital Uster vor eine Herausforderung. Das Warten kommt nicht bei allen Patienten gut an, wie der Fall eines Mannes zeigt, der vor rund einem Monat die Notfallstation nach einem Sturz aus seinem Rollstuhl aufsuchte.
Auf Züriost beschwerte er sich über die langen Wartezeiten nach der Einlieferung durch seine Frau. Es sei unzumutbar, dass niemand nachgefragt oder nach ihm geschaut habe, sagte der Mann. «Es hätte auch jemand anderen mit schlimmeren Verletzungen treffen können.» So etwas habe er noch nie erlebt: «Das Spital sollte über die Bücher». Jemand mit einer schlimmeren Verletzung hätte es laut dem Spital Uster aber eben nicht treffen können – wegen des Prioritätensystems.
«Hätte ich gewusst, dass ich fast drei Stunden warten muss, hätte ich ein Buch mitgenommen. Aber es gibt Schlimmeres»
Patient
Behandlung sofort oder verzögert
Die Triagierung, also die Einteilung der Patienten nach dem Schweregrad ihrer Erkrankung oder Verletzung in eine Dringlichkeitskategorie, bestimme den weiteren Behandlungsablauf und damit verbunden die Wartezeiten. «Auf der Notfallstation müssen Prioritäten gesetzt werden», sagt Gottsponer. Die Dringlichkeitszuordnung werde in einer sogenannten Triage durch eine Pflegefachkraft festgelegt, erklärt sie. In dieser wird der Patient befragt, sein Blutdruck und sein Puls werden gemessen. Das Konzept, in der Fachsprache wird es Manchester-Triage-System genannt, hat das Spital Uster eingeführt, um festzustellen, ob eine Behandlung sofort oder verzögert erfolgen oder ob ein Patient auf die Notfallpraxis überwiesen werden kann.
Um der wachsenden Anzahl Notfallpatienten gerecht zu werden, betreibt das Spital Uster seit Anfang 2013 eine Notfallpraxis. Abends und an Wochenenden behandeln hier Hausärzte aus der Region Patienten mit leichteren Erkrankungen und Verletzungen, erklärt Gottsponer.
Mann mit gebrochenen Beinen
Obwohl die Verhältnisse ruhig sind, müssen an diesem Mittwoch Leute warten. So auch der Junge mit dem verstauchten Handgelenk. Denn Patienten mit einer höheren Priorität gehen vor. Eine Frau beispielsweise hatte einen Autounfall und ein Mann liegt mit zwei gebrochenen Beinen auf der Notfallstation. Der Bub hat Verständnis dafür, dass er zurückstehen muss. «Ja, ich warte schon fast eine Stunde. Aber ich habe ja mein Handy dabei. Wenn jemand dringender Hilfe braucht als ich, verstehe ich das.»
Und auch der Mann mit dem gebrochenen Finger nimmt es locker. «Hätte ich gewusst, dass ich fast drei Stunden warten muss, hätte ich ein Buch mitgenommen. Aber es gibt Schlimmeres», sagt er mit einem Lächeln im Gesicht.
«Viele denken, dass Notfall Schnelligkeit bedeutet»
Die Gelassenheit der an diesem Tag anwesenden Patienten freut Marcus Goneo, Facharzt für Chirurgie/Traumatologie und Leiter Chirurgischer Notfall. Dass Leute mit leichteren Erkrankungen und Verletzungen Verständnis für die Wartezeiten zeigen, sei keine Selbstverständlichkeit. «Viele denken, dass Notfall Schnelligkeit bedeutet. Dem ist aber nicht so. Hier geht es um die Dringlichkeit der Behandlung.» Es sei aber Tatsache, dass wir in einer schnelllebigen Konsumgesellschaft leben würden, in der man alles schnell bestellen und erhalten könne.

Marcus Goneo, Facharzt für Chirurgie/Traumatologie und Leiter Chirurgischer Notfall. (Foto: Nathalie Guinand)
Goneo denkt zudem, dass viele Leute, die mit einer «Bagatelle» in den Notfall kommen, die Zeit als viel länger wahrnehmen. «Sie denken sich oft, dass sie es ja nur schnell zeigen kommen wollten.» Statt zum Hausarzt, würden die Leute vermehrt in den Notfall kommen.
Diese Entwicklung stellt auch Sabina Esposito, stellvertretende Leitende Ärztin Innere Medizin und Leiterin Medizinischer Notfall, fest. «Aber der Gang in die Notfallstation steht allen Patienten in jedem Fall offen.» Schliesslich liege es nicht in der Kompetenz eines Spitals zu bestimmen, wer in den Notfall kommen darf und soll. «Unsere Aufgabe ist es, jeden Patienten aufzunehmen und ihn zu betreuen», so Esposito. Es komme schon vor, dass Leute genervt auf die Wartezeiten reagieren. «Aber wenn man ihnen erklärt, warum das so ist, verstehen es die meisten auch.»

Sabina Esposito, stellvertretend Leitende Ärztin Innere Medizin und Leiterin Medizinischer Notfall. (Foto: Nathalie Guinand)
Auf der Notfallstation ist derweil Schichtwechsel. Auch Tatjana Gottsponer hat für heute Feierabend. Von den weissen Hosen und T-Shirt befreit, verabschiedet sie sich von ihren Kollegen, die die Schicht übernommen haben. Notfall heisst eben auch, rund um die Uhr in Betrieb zu sein. Für manche mit Wartezeiten, für manche ohne. Und es ist zu hoffen, dass man selbst nicht zu Letzteren gehören wird.