Orgeltalent: «Ich besitze den Schlüssel von mancher Kirche»
Flink gleiten seine Finger über die Tasten, seine Füsse in den schmalen schwarzen Lederschuhen mit Absatz über die Pedale. Benjamin Graf sitzt auf einer kleinen Holzbank vor der Orgel in der reformierten Kirche Volketswil und spielt konzentriert – die Musik ist mächtig und raumfüllend. «Man entwickelt als Organist schon ein bisschen ein Allmachtsgefühl», sagt er und lacht breit. «Andere finden Heavy Metal geil. Mir gefällt es, die ganze Kirche mit meiner Musik auszufüllen.»
Der 19-Jährige aus Madetswil studiert Chorleitung und Orgel an der Zürcher Hochschule der Künste. Seit einem Jahr ist er zu 20 Prozent als Organist bei der reformierten Kirche Volketswil angestellt. Der junge lebhafte Mann mit den wachen braunen Augen, der modernen Frisur, der in seiner Freizeit Turnschuhe trägt, begleitet auf der Orgel Gottesdienste und Beerdigungen. «Die Leute sind jeweils überrascht, dass jemand dasitzt, der so jung ist», erzählt er. «Oft freuen sie sich sehr und sagen „Oh so schön, endlich mal jemand ohne Falten.»
Praktikum in England
Zur Orgel kam Benjamin Graf über das Klavier, das er seit der Primarschule spielt. «Im Gymnasium konnte man ab der dritten Klasse Musikunterricht nehmen», erzählt er. «Da ich zu faul war, um ein neues Instrument zu lernen und den Unterricht bei meiner Klavierlehrerin beibehalten wollte, entschied ich mich für die Orgel.» Er habe gedacht, das sei nicht viel anders. «Doch ich musste merken, dass es doch um einiges schwieriger ist, weil noch die Fussarbeit dazukommt.» Aber das imposante Instrument fing an, ihm Spass zu machen und sehr bald spielte er lieber Orgel als Klavier.
Benjamin Graf spielt nicht nur klassische Stücke auf der Orgel. Hier präsentiert er ein Lied aus dem Disney-Film «Das Dschungelbuch». (Video: Annette Saloma)
Nach der Matura machte er ein Praktikum in der Kinder- und Jugendarbeit einer anglikanischen Dorfkirche in St. Albans, England. «Ich wollte vor dem Studium mal noch weg und Englisch lernen», sagt Graf. Seine inzwischen verstorbene Grossmutter war in den 50er-Jahren als Au-Pair in England gewesen, die Familien pflegen immer noch Kontakt. «Das Kind, das sie damals hütete, ist inzwischen eine 70-jährige Frau«, erzählt er. «Sie kannte über sieben Ecken die Pfarrfamilie der dortigen Kirche und konnte mir so etwas organisieren.» Auch in England konnte er in Chören mitsingen und Orgelstunden nehmen.
Kirche als vertrauter Ort
Zurück in der Schweiz schaffte er die Aufnahmeprüfung für das Studium an der Hochschule. Nur gerade er und eine Mitkommilitonin belegen den Doppelstudiengang Chorleitung und Orgel, insgesamt dauert es fünf Jahre bis zum Master. Seine Freunde fänden es toll, was er mache, sagt Graf und seine Freundin käme sonntags auch ab und zu in die Kirche, um ihn zu hören. Für ihn selbst sei es ein vertrauter Ort, wo er sich meist wohl fühle. Mit seiner Familie besuchte er schon immer die reformierte Kirche Russikon; der Glaube sei ihm wichtig und begleite ihn durch sein Leben. «Manchmal nerve ich mich aber auch über die Kirche als Institution», sagt er. «Ich vergesse dann manchmal, zu sehen, wie viel Gutes sie auch tut.»

Er könne auch verstehen, dass die Kirche für viele Leute negativ behaftet sei. «Aber wenn man das alles mal hinter sich lässt, dann ist die Orgel einfach ein tolles Instrument und man hat in der Kirche ein ganz spezielles Klangerlebnis.» Und Graf spielt bei weitem nicht nur Kirchenmusik, sondern auch Jazz, Pop und Rock. «Im Winter interpretierten wir Weihnachtslieder von Andrew Bond mit Band und Kirchenchor, die Kirche war brechend voll.» Und bei der nächsten Konfirmation plane er ein Projekt mit Saxophon, Schlagzeug und Orgel.
Passende Musik für jeden Anlass
«Für mich ist einfach wichtig, dass die Musik zum Setting passt.» So fände er es verfehlt, an Beerdigungen nur Bach-Choräle zu spielen, wenn diese Musik weder der Trauerfamilie noch dem Verstorbenen etwas bedeutet habe. «Als ich letzthin die Abdankungsfeier eines Piloten musikalisch begleitete, spielte ich «Über den Wolken» und «Somewhere over the Rainbow». Da spürte ich, dass das gut ankam.» Er habe sehr schöne Rückmeldungen erhalten. «Die Leute schätzen es, wenn man sich ein wenig mit dem Verstorbenen befasst hat und nicht irgend etwas spielt.»
«Ich studiere Chorleitung. Da ist es gut, wenn man nicht nur im Trockenen übt.»
Benjamin Graf
Aber nicht nur das Orgelspiel ist ein grosser Teil von Benjamin Grafs Leben, sondern auch der Gesang. Anfangs Jahr gründete er einen Chor mit 20 «Nicht-Musikstundenten», wie er es ausdrückt, und Gymnasiasten. Nach drei Monaten Üben gab der Chor zwei Konzerte mit britischen Folkssongs. Ende Jahr ist ein neues Projekt geplant. «Ich studiere Chorleitung. Da ist es gut, wenn man nicht nur im Trockenen übt.»
Stundenlanges Üben
Auf der Orgel übt der älteste von drei Geschwistern viele Stunden pro Woche, oft in der reformierten Kirche Pfäffikon aber auch in Russikon. «Ich besitze den Schlüssel von so mancher Kirche in der Umgebung.» Manchmal macht er auch Stellvertretungen. Doch die meiste Zeit ist er mit dem Studium, der Orgelstelle und den Chorprojekten beschäftigt.
Nicht immer sei er mit der gleichen Freude mit dabei. «Man ist in einem Musikstudium auch grossem Druck und Stress ausgesetzt», sagt er. «Das ist nicht immer nur lässig. Aber ich habe das gewählt und ziehe es durch. Weil es mir immer wieder Spass macht.» Manchmal fehle ihm das Sprachliche und Historische – er habe schon immer gerne Deutsch und Geschichte gehabt. Was er später einmal machen will, steht noch offen. «Vermutlich fliesst alles ein: Organist, Chöre leiten, vielleicht mache ich auch noch das Schulmusikdiplom, um unterrichten zu können.» Jetzt mache er zuerst sein Studium fertig. «Ich möchte mit Leidenschaft gute Musik machen, mit spannenden Menschen unterwegs sein und einfach schauen, was kommt.»