Von der Harfe übers Radio zum Gospelgesang
«Verstärkung für den Bass können wir immer brauchen!» Irmgard Keldany lächelt verschmitzt und zeigt auf einen Stuhl, dritte Reihe in der Mitte. «Am besten setzt du dich hier zum Röbi, der hat eine starke, sichere Stimme.»
Das war kurz vor den Sommerferien, wenige Tage nachdem mich eine Frau, der ich beim Spaziergang mit dem Hund regelmässig über den Weg laufe, beiläufig gefragt hatte, ob ich nicht Lust hätte, in einem Chor mitzusingen. «Ich kann nicht singen», hatte ich zu bedenken gegeben. Allenfalls am Heiligen Abend in der Kirche, «Stille Nacht» und «O du fröhliche», laut und aus voller Brust. «Jeder kann singen», hatte sie entgegnet. «Aber die Wenigsten wissen es. Komm doch einfach am Mittwoch an die Probe.»
20. Geburtstag steht an
Seither bin ich einer von sechs Bässen im Gospel-Chor; sechzig weitere Mitglieder der Gesangstruppe teilen sich auf in Sopran-, Tenor- und zwei Alt-Stimmlagen. Jeden zweiten Mittwochabend trifft man sich für zwei Stunden zur Probe, die bei einem Tschumpeli oder einem Herrgöttli in der «Trotte» gesellig ausklingt.
In letzter Zeit wird allerdings wöchentlich und auch länger geprobt, vor zwei Wochen ist gar ein ganzes Sing-Wochenende eingelegt worden. Der Grund steht im Kalender: Am Sonntag feiert «Do Lord Maur Gospel Power» seinen 20. Geburtstag mit einem grossen Jubiläumskonzert; fünf Star-Solisten sind eingeladen, die seit Jahren immer wieder mit diesem Chor auftreten.
Powerfrau Irmgard Keldany, die schon damals die treibende Kraft war und den Chor bis heute prägt und führt, lädt in die reformierte Kirche von Gossau ein. «Ich hoffe, dass möglichst viele Leute kommen», sagt die Dirigentin. Dabei denke sie weniger an die Einnahmen – der Eintritt kostet 35 Franken –, «die knapp die Unkosten decken»; es gehe ihr viel mehr um die Musik; denn das Publikum hat einen entscheidenden Einfluss – auch auf die Akustik: «Je mehr Menschen kommen, umso besser tönt es. Ausserdem entsteht in der vollen Kirche eine begeisterte Stimmung.»
Gänsehaut bei den Sängern
Das ist auch im Probesaal der Fall. Wenn Irmgard Keldany aufs Dirigenten-Podest steigt und die Arme hebt, wird es für einen Moment mucksmäuschenstill. Nicolas, der junge Pianist, schlägt einen Akkord an, Irmgard stimmt das an- und abschwellende «Hahaha-hahaha» an, die Tonleiter rauf und runter. Und wenn die Kehlen warm gelaufen sind und die ersten Töne von «The Storm Is Passing Over» anklingen, wiegen sich die Sänger im Rhythmus und der Sturm fährt so kraftvoll durch diesen vielstimmigen Klangkörper, dass das Zwerchfell bebt und ein Schauer über den Rücken läuft.
Gleichzeitig kämpfe ich als Bass-Debütant mit den Tücken der Materie. Welche Nummer hat das Lied schon wieder? Warum um Himmels Willen find ich das Notenblatt nicht in diesem vertrackten Ordner? Wo im Text sind wir eigentlich – und bei Takt? Ah da – aber die singen ja schon wieder was ganz anderes …
Ich leg das Notenblatt auf den Stuhl, spitze mein rechtes Ohr in Richtung Röbis Stimme und versuche, zwischen den Köpfen der Sänger die Dirigentin zu sehen.
Mit der Harfe angefangen
Irmgard Keldany ist der Rhythmus in Person – sie bewegt sich, als sei sie die kleine Schwester von Aretha Franklin. Jede Faser, jede Bewegung ihres Körpers ist Ausdruck ihrer Liebe zu dieser Musik. Mit Röbis Stimme im Ohr und Irmgards Dirigenten-Tanz vor Augen kommen die Töne wie von selbst aus mir heraus.
Geboren ist Irmgard Keldany im Berlin der Nachkriegsjahre, aufgewachsen in der Gegend um den Chiemsee, bevor sie in München Musikwissenschaft studierte. Dabei war sie stets bestrebt, musikalische Gegensätze zu überbrücken. Sie hatte gelernt, kunstvoll in die Saiten der Harfe zu greifen, das klassische Instrument schlechthin und eines der schwierigsten obendrein. Dann befasste sie sich für ihre Dissertation mit der Entstehung der Unterhaltungsmusik als soziokulturelles Phänomen des 19. Jahrhunderts. «Da ging es oft auch um Lieder, die man heute gerne als Kitsch abtut», sagt Keldany. Das entsprach ganz und gar nicht den akademischen Vorstellungen ihres Professors und so kehrte Irmgard Keldany kurzerhand dem Freistaat Bayern den Rücken und schrieb sich an der Universität Zürich ein, um neben der Musikwissenschaft auch Volkskunde und Sozialpsychologie zu belegen.
Versteckte Botschaften der Sklaven
Allerdings konnte sie damals – Mitte der Sechziger Jahre – noch nicht ahnen, dass ihre ethnologischen und soziologischen Studien das Verständnis für jene Musik schufen, die ihr drei Jahrzehnte später zum beruflichen Mittelpunkt werden sollte.
Der Gospel geht zurück auf die Not der Sklaven in den US-amerikanischen Südstaaten des vorletzten Jahrhunderts. «In den Liedern, die sie auf den Baumwollfeldern sangen, steckten sehr oft verborgene, doppeldeutige Botschaften», erklärt Irmgard Keldany. «Wenn etwa vom Jordan die Rede ist, den man überschreiten wird, ist dies nicht nur eine Metapher fürs Jenseits. Es konnte auch bedeuten: Nach Einbruch der Dunkelheit treffen wir uns unten am Mississippi – und versuchen, zu fliehen».
Später, als die Sklaven in die Städte reisen und in die Kirchen gehen durften, entwickelte sich aus ihren Liedern ein neues Genre: Die Gospelmusik gilt als Mutter des Jazz.
Inserat mit Sogwirkung
Nach der Uni führte die Musik Irmgard Keldany ins Radio-Studio: Für DRS, damals als Landessender Beromünster bekannt, gestaltete sie Sendungen, die zum ersten Mal alle musikalischen Stilrichtungen beinhalteten; sie trugen Titel wie «Musik macht munter» oder «Von Jacques Ibert zu Schaggi Bär».
Mittlerweile hatte sie einen ägyptischen Kommilitonen geheiratet, das Schweizer Bürgerrecht erworben, zwei Kinder zur Welt gebracht und am Greifensee Wohnsitz genommen. Sie übernahm die Leitung des katholischen Kirchenchors, später auch einer liturgischen Singgruppe – und aus dieser Arbeit heraus erwuchs eine Idee, die alsbald zu einem Inserat in der «Maurmer Post» führte. «Der Erfolg war überwältigend», erinnert sich Irmgard Keldany: «Das Telefon glühte; wir hatten über hundert Interessenten!»
Und so kam es am 22. Oktober 1997 zur ersten Gospel-Probe – es war die Geburtsstunde des «Do Lord Maur Gospel Power», der am Sonntag sein 20-jähriges Bestehen feiert. Eigentlich würde ich dann gerne in den Do Lord-Farben Schwarz und Rot zwischen meinen neuen Freunden in der Kirche stehen und mitsingen. Aber ich weiss natürlich, dass ich als Bass-Neuling noch viel üben muss, bis ich konzertreif bin. (Daniel Schüz)
Am 26. November 2017 um 17 Uhr gibt der Chor «Do Lord Maur Gospel Power» in der reformierten Kirche von Gossau sein grosses Jubiläumskonzert. Reservation: www.gospelpower.ch