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Politik

Essen und Sterben im Altersheim

Das Rütner Alterszentrum Breitenhof ist für viele Bewohner die letzte Station in ihrem Leben. Mahlzeiten spielen im Alltag eine zentrale Rolle. Aber wer geselliges Beisammensein erwartet, irrt.

Im Alterszentrum Breitenhof in Rüi spielt das Essen eine zentrale Rolle. (Bild: Seraina Boner), Besonders Freude haben die Bewohner am Salatbüffet. (Bild: Seraina Boner), Die Bewohner sitzen meist an Einzel- oder Zweiertischen. (Bild: Seraina Boner)

Essen und Sterben im Altersheim

Essen ist der Sex des Alters. So heisst es. Doch was ist dran an der Redensart? Im Alterszentrum Breitenhof in Rüti bricht auf diese Frage schallendes Gelächter aus. Elfi Rüegg-Durscher, Leiterin Pflege und Betreuung, überlegt dann aber doch einen Moment. Sie sitzt auf der grossen Terrasse an einem Tisch und blickt ins Grüne. «Sagen wir es so: Essen spielt hier eine wichtige Rolle. Aber vor allem deshalb, weil es dem Tag Struktur gibt.» 

Andrea Voser, Leiterin Hotellerie, schmunzelt noch immer. «Ja, die Essensangelegenheit ist ein schwieriges Thema.» Anregend ist es aber offenbar nicht. Im Gegenteil: Viele Bewohner hätten nur noch wenig Appetit. Bei manchen sei es sogar eine Herausforderung, sie überhaupt zur Nahrungsaufnahme zu animieren.

Direkt zurück ins Zimmer

Das Rütner Alterszentrum Breitenhof ist eines der grösseren Heime in der Region. Es beherbergt 95 Menschen. Eine Gemeinschaft von Leuten derselben Generation. Aber wer eine Gemeinschaft erwartet, Geselligkeit, gemütliches Beisammensein mit Geschichten aus den «guten alten Zeiten», Jass-Abende oder Bingo-Spiele, Vierertische mit einer Buddel Wein in der Mitte und fröhliche Senioren – der täuscht sich. Das romantische Bild hat mit der Realität wenig gemein.

Individualismus prägt den Tag der Bewohner. Einige wollten beispielsweise an Zweiertischen oder noch lieber alleine sitzen, sagt Voser. «Nach dem Essen gehen die meisten direkt in ihre Zimmer zurück. Dort sehen sie Fern, lesen oder empfangen Besuche.» Für sie sei es wie die eigene kleine Wohnung. 

Besondere Bedürfnisse

Mit ein Grund: Für viele Bewohner steht Pflege und Betreuung im Vordergrund. «Der Grossteil ist zwischen 85 und 95 Jahre alt», sagt Rüegg-Durscher. Gewisse Beschwerden zeigten sich auch beim Essverhalten. Einige hätten Allergien gegen Milch, andere verweigerten Tomaten aller Art, die nächsten hätten etwas gegen Zwiebeln, wieder andere verlangten ihr Gemüse gewürfelt oder püriert. Es gebe auch solche, die nur einen Bruchteil der Portion wollten.

«Das schränkt die Gestaltung der Gerichte natürlich ein», sagt Voser. Sie versuchten aber so gut wie möglich auf die unterschiedlichen Bedürfnisse einzugehen. Im Gegensatz zu einem Hotel reisten die Gäste nicht nach ein paar Tagen wieder ab. «Hat hier jemand einen speziellen Wunsch an unsere Küche, müssen wir eine Lösung finden.» Meist gelinge dies auch.

Mann stirbt während Gespräch über Tod

Die Essenslust sei ein Massstab für die Lebensfreude der Menschen, sagt Rüegg-Durscher. «Jene, die gerne zugreifen und nach einer zweiten Portion verlangen, sind meist zufrieden.» Einzelne Bewohner kompensierten aber mit extra grossen Portionen auch etwas. Trauer beispielsweise bestimme bei manchen über längere Zeit ihren Gemütszustand. «Ein Grossteil ist verwitwet.» Der Tod des Ehepartners sei nicht selten der Grund für die Appetitlosigkeit. 

Das Thema Sterben ist allgegenwärtig. «Viele Menschen verbringen hier ihren letzten Lebensabschnitt», sagt Rüegg-Dürscher. Just in diesem Moment klingelt das Telefon auf dem Tisch vor ihr. Sie hält es sich ans Ohr und schweigt lange. Wie sich nachher herausstellt, ist in den Minuten, in denen die beiden Frauen über den Tod im Altersheim gesprochen haben, ein Bewohner gestorben. «Das ist traurig, aber es gehört zum Leben in einem Alterszentrum», sagt die Pflegefachfrau.

Hans Rudolf Gmür: «Ich habe meine Geschmacksnerven praktisch verloren.»

Es ist 11 Uhr, vor dem Speisesaal stehen bereits die ersten Wartenden. Um viertel nach öffnen sich die Türen. Das Salatbüffet ist bereits aufgebaut. Hans Rudolf Gmür sitzt noch draussen vor dem Zentrumseingang an einem kleinen, runden Tisch und zündet sich einen Zigarillo an. Auf die Frage, wie alt er sei, antwortet er in militärischem Tonfall: «1935». 82 also.

Niemand spricht

Mit dem Essen im Alterszentrum sei er sehr zufrieden. Er freue sich jeden Tag darauf. «Am liebsten mag ich Café complet.» Dazu nehme er manchmal noch etwas ab dem Wagen, eine Käsewähe zum Beispiel. Lasagne hingegen müsse er nicht die ganze Zeit haben. «Ich esse aber, was es gibt.» Er habe ohnehin nur Appetit auf einen Achtel der Portion. «Wegen einer Operation habe ich meine Geschmacksnerven praktisch verloren.» Deswegen seien ihm die Sauce sehr wichtig, sei sie würzig, schmecke er noch ein bisschen etwas davon.

Gmür war Metzger von Beruf. Fleisch sei aber mittlerweile zu deftig für ihn. «Zu einem panierten Kotelett würde ich aber nie Nein sagen», er schmunzelt erstmals und verliert kurz seine autoritäre Ausstrahlung. Dann rückt er auf seinem Stuhl nach vorne und drückt seinen Zigarillo aus. Strammen Schrittes macht es sich auf den Weg zum Speisesaal. Dort stehen jetzt noch mehr Leute und warten still. Niemand spricht. 

Das Alterszentrum ist von hellen Farben geprägt. Weiss, gelb und orange dominieren die Eingangshalle und Cafeteria. Die Tische und Stühle sind hölzern. Kleine Dekorationen lockern die eher sterile Umgebung im Speisesaal auf. Blumenarrangements stehen auf den Tischen, Sterne und Herzen baumeln von einem Holzbaum. Der Eingangsbereich ist gesäumt mit grossen und kleinen Pflanzen. Vor dem Speisesaal stehen einige Stühle in einer Reihe.

«Freundinnen habe ich keine»

Ein Gespräch durchschneidet die Stille. Eine Frau zeigt ihrer Mutter Fotos auf ihrem Smartphone. Die ältere Frau sitzt im Rollstuhl und lächelt leise, wirkt aber abwesend. «Schau mal, hier waren wir in der Badi. Und das ist beim Wandern», sagt die Tochter. Hans Rudolf Gmür setzt sich dazu. «Das ist meine Frau», sagt er trocken und deutet auf die Frau im Rollstuhl. «Es ist schön, dass sie auch hier ist», sagt Gmür. Die Türe zum Speisesaal geht auf, Gmür erhebt sich und marschiert hinein.

Olga Bosshard: «Kutteln kann ich nicht mehr sehen»

Olga Bosshard (88) sitzt mit Emma Klee (89) an einem Tisch im Eingangsbereich. Sie lesen Zeitung. «Freundinnen habe ich keine hier, ausser vielleicht Emeli.» Bosshard nickt in Richtung ihrer Gesellschaft. Sie sei ihre Tischnachbarin, da komme man gezwungenermassen ins Gespräch. Die Mahlzeiten im Zentrum schmeckten ihr, besonders das Salatbüffet finde sie toll. Sie sei aber ohnehin unkompliziert. «Meine Mutter hat immer gesagt: ‹Man kann alles essen, auch wenn es nur ein Löffel ist›.»

Ohne Partner im Altersheim

Das einzige, was sie verweigere, seien Kutteln, sagt Bosshard. «Ich habe im Service gearbeitet und in einem der Restaurants gab es jeden Tag einen ‹Chuttle-Blätz›.» Seither könne sie die Innereien nicht mehr sehen. Bosshard ist seit 2012 im Alterszentrum Breitenhof. Vorher war sie 22 Jahre lang in einer Alterssiedlung. «Am Anfang war ich hier ein bisschen einsam, ich habe meinen Mann vermisst. Er ist 1995 gestorben.» Nun aber komme die Trauer nur noch sporadisch.

«Ein Wurstsalat schmeckt einfach besser mit einem Bierchen.»

Emma Klee hat die ganze Zeit aufmerksam zugehört und hie und da genickt. «Mein Mann ist erst vor zweieinhalb Jahren gestorben», sagt sie jetzt. Sie sei wegen ihm hier her gekommen. «Er hat so gestürmt, dass ich nicht Nein sagen konnte.» Er war bereits 91 Jahre alt und hörte nur noch schlecht, sagt Klee. «Deswegen konnten wir auch nicht telefonieren.» Kurz nach ihrem gemeinsamen Eintritt starb ihr Mann.

«Manchmal bekomme ich den Melancholischen»

«Jetzt bereue ich es manchmal, dass ich so früh schon hier her gekommen bin.» Sie könnte wohl auch noch selbständig wohnen, sagt sie und schweigt gedankenverloren. Leider habe sie aber ihre Wohnung  und alle Habseligkeiten verkauft. Sie wisse nicht, ob sie die Energie habe, noch einmal neu anzufangen. Sie sei eben auch die fitteste Bewohnerin im Zentrum. «Ich muss immer alleine spazieren gehen, weil sonst niemand mehr mag.» 

Wieder schweigt sie und überlegt. Dann gibt sich Klee einen Ruck: «Ich habe es aber gut und recht hier.» Sie wolle sich wirklich nicht beklagen. «Ich vermisse meinen Mann einfach sehr.» Sie lächelt entschuldigend. 

Aber ihr Sohn besuche sie einmal in der Woche und das sei ja auch schön. Er führe sie ab und zu auch zum Essen aus. «Hier im Zentrum freue ich mich jeweils am meisten auf die Gipfeli am Sonntag morgen», sagt Klee. Das Bier am Samstag sei auch ein Höhepunkt. «Ich trinke nicht viel, aber ganz ehrlich: Ein Wurstsalat mit einem Bierchen schmeckt einfach besser.» Sie zwinkert schelmisch. 

Die beiden Frauen stehen auf und schlendern ebenfalls in den Speisesaal. Die Tische füllen sich langsam. Die meisten sitzen alleine. 

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