Abo

Politik

Der Roboter ist keine Konkurrenz zum Mensch

Im Interview spricht Gery Colombo, CEO des Medizintechnikunternehmens Hocoma AG, über Fortschritte im Therapiewesen, über die zukünftigen Aufgaben von Therapeuten und warum es für Hocoma ein Kompliment ist, wenn ihre Produkte kopiert werden.

Der Hocoma-CEO Gery Colombo im Showroom in Volketswil wo bald auch Patienten therapiert werden.

Der Roboter ist keine Konkurrenz zum Mensch

Herr Colombo: Was hat Sie Mitte der 1990er-Jahre dazu bewogen mit zwei Studienkollegen ein Start-up zu gründen, um fortan automatisierte Therapiegeräte zu entwickeln?

Gery Colombo: In der Forschung war es damals unsere Aufgabe nach Lösungen zu suchen, wie Patienten nach einer neurologischen Schädigung schneller respektive besser wieder ihre Funktionen erlernen können. Dafür ist Training nötig und ein solches beinhaltete in früheren Jahren sehr viel manuelle Arbeit. Schnell fanden wir dabei heraus, dass der limitierte Faktor nicht der Patient ist, sondern der Therapeut, dem nach einer gewissen Zeit die Kräfte ausgehen. Im Rahmen unserer Forschungsarbeit, die dann gleichzeitig auch meine Doktorarbeit war, haben wir den Gang-Roboter Lokomat entwickelt, um einerseits das Training für Patienten zu verbessern und andererseits den Therapeuten von körperlicher Arbeit zu entlasten. Unser Prototyp funktionierte und wir orteten Potenzial für einen weltweiten Einsatz. Also gründeten wir eine Firma und begannen fortan den Lokomat zu vermarkten.

Wie erklären Sie einem Laien den Begriff neurologische Rehabilitation?

Unfall- oder krankheitsbedingt kann es vorkommen, dass Teile des Zentralnervensystems dauerhaft geschädigt werden. Aber aufgrund der so genannten Neuroplastizität ist es möglich, dass gesunde Teile des Gehirns die Funktionen des geschädigten Teils übernehmen können. Voraussetzung dafür ist ein sehr intensives Training.  Mittels unserer robotergesteuerten Therapiegeräten erlernen Patienten auf spielerische Weise das, was sie früher schon einmal konnten, wie zum Beispiel das Gehen oder das Greifen.

Was können Roboter besser als menschliche Therapeuten?

In den meisten Fällen kann es der Roboter nicht besser aber länger, weil dem Therapeuten irgendwann einmal die Kräfte ausgehen. Der Therapeut ist im Anfangsstadium aber nach wie vor wichtig, um dem Patienten zu sagen, wie er was bewegen muss. Bei den ersten 100 Repetitionen einer Übung ist eine Begleitung und Unterstützung unabdingbar. Aber ab der 101. Repetition, wenn es um die Masse geht, macht der Einsatz einer Maschine Sinn.  

Wird der menschliche Therapeut irgendwann einmal obsolet?

Ich glaube, dass der menschliche Therapeut eine andere Funktion erhält. Wir wissen, dass zum Beispiel die Motivation und das ganze Soziale bei einer Therapie auch eine sehr wichtige Rolle spielt. Der Physiotherapeut ist nicht nur da, um zu bewegen. Das Coaching eines Patienten gehört ebenfalls dazu. Diese Funktion übernimmt der Roboter nicht. Das Ziel ist, den Therapeuten vermehrt dort einzusetzen, wo es ihn wirklich braucht, unter anderem im mentalen Bereich oder bei der Ausarbeitung von Therapieplänen. Man muss sich vor Augen halten: Jeder neurologische Patient ist anders, es gibt keinen Hirnschlag der gleich ist wie der andere. Die Individualität kann der Mensch sehr gut reflektieren. Der Roboter ist eine Ergänzung, aber keine Konkurrenz.

Zu den Kosten: Ab wann lohnt sich der Einsatz von robotergesteuerten Therapiegeräten auch finanziell?

Im Idealfall erhält der Patient eine bessere Therapie. In manchen Fällen kann ein Patient anstatt im Rollstuhl wieder zu Fuss nach Hause gehen. Und im Idealfall können wir auch die Kosten senken anstatt zu steigern. Für das gesamte Gesundheitssystem kostet jeder Patient, der zu Fuss nach Hause geht, fortan weniger als ein Patient, der an den Rollstuhl gefesselt bleibt. Studien belegen, dass sich die Gehfähigkeit für Hirnschlag-Patienten um 20 Prozent erhöht, wenn sie mit solchen Geräten trainiert werden. Eine «win-win-win»-Situation ist aber nur möglich, wenn alle Player zusammen arbeiten und diese Systeme auch effizient einsetzen. Hocoma entwickelt im Übrigen nicht nur Geräte, sondern hilft auch mit, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Ein Beispiel: Demnächst werden wir in unserem Showroom in Volketswil auch Patienten therapieren. Wir als Hersteller sind an vorderster Front mit dabei, wenn es darum geht, Lösungen für kostengünstigere Modelle zu bieten.  

Es wurde klinisch mehrfach nachgewiesen, dass eine roboterunterstützte Therapie zu besseren Resultaten führt. Ist eine
vollständige Rehabilitation von Patienten realistisch?

Es gibt den Hirnschlag, den man kaum spürt und dann gibt den Hirnschlag, bei dem man sofort tot ist – und dazwischen ist alles möglich. Aber es gibt immer mehr Patienten mit einem höheren Schweregrad, die immer mehr Funktionen erlernen. Man muss ferner sicherstellen, dass die Reha nicht nur in der Klinik stattfindet. Nach der Erstentlassung sollte die Therapie in ambulanten Settings und zu Hause weitergeführt werden. Ich glaube, dass das Verbesserungspotenzial bei Patienten noch lange nicht ausgeschöpft ist.

Schlaganfälle waren vor 20 Jahren noch viel weniger ein Thema. Statistisch gesehen nimmt die Anzahl der Schlaganfallpatienten stetig zu. Haben Sie diese Entwicklung so erwartet?

Die Hauptursachen für mehr Schlaganfälle sind unter anderem auf schlechte Ernährung und mangelnde Bewegung zurückzuführen. Der Hirnschlag ist zu einer Zivilisationskrankheit geworden. Eine solch starke Zunahme hatte ich damals weder erwartet noch erhofft. Auch wenn ich letzten Endes damit Geld verdiene, gefällt mir diese Entwicklung nicht.

Der Begriff Digitalisierung ist heute allgegenwärtig. Für die Hocoma AG ist die vierte Revolution seit 1996 Alltag.
Hat Ihr Unternehmen durch diesen Vorsprung einen Wett­bewerbsvorteil?

Als Pioniere auf diesem Gebiet haben wir sicher einen Wettbewerbsvorteil. Mittlerweile sind wir auch Weltmarktführer. Es ist aber nicht so, dass wir die Digitalisierung in unserem Unternehmen schon voll umgesetzt haben. Die bessere Verknüpfung unserer Geräte untereinander oder die Verfügbarkeit von Patienten-Daten in der Cloud sind Projekte, an denen wir noch arbeiten. Der nächste technologische Meilenstein heisst künstliche Intelligenz. In Zukunft kommt also noch einiges auf uns zu.

Mit seinen Innovationen ist Hocoma erfolgreich, so erfolgreich sogar, dass sie schon oftmals kopiert wurden – unter anderem im Wachstumsmarkt China. Was können Sie dagegen tun?

Grundsätzlich muss man es als Kompliment anschauen, wenn man kopiert wird. Es spricht dafür, dass unsere Produkte eine gewisse Qualität haben. Das ist positiv. Die Zeiten, in denen sich Firmen komplett schützen konnten, sind vorbei. Natürlich machen wir Patente und betreiben Markenschutz. Jedoch die beste Strategie, so glauben wir, ist immer einen Schritt voraus zu sein, dann dürfen uns unsere Konkurrenten auch kopieren. Wenn sie stets zwei Schritte hintennach sind, bis sie unsere Innovationen kopiert haben, können wir damit leben. Eine gewisse Konkurrenz macht einen auch schneller. Schauen Sie: Usain Bolt wäre auch nicht so schnell auf 100 Metern, wenn ihm niemand hinterherrennen würde…

Hocoma hat ihren Hauptsitz von Beginn an in Volketswil, verfügt mittlerweile aber über Filialen in Singapur, Slowenien, Chile und in den USA. Welche Vorteile bietet der Standort Volketswil?

Viele. Der Standort Schweiz bietet ein sehr gutes Umfeld für Innovation. Mit den Zürcher Hochschulen und Universitäten haben wir wichtige Partner. Wir finden in der Schweiz auch gut ausgebildete Leute, darin ist unser Land nach wie vor stark. In Volketswil im Spezifischen sind wir aus verschiedenen Gründen glücklich: Wir hatten das Glück eine Liegenschaft zu finden, in die wir flexibel hineinwachsen konnten. Mit 13 Leuten haben wir hier angefangen. Heute sind es rund zehnmal so viele. Wir sind nahe an den öffentlichen Verkehrsmitteln und haben für unsere Mitarbeitenden in Gehdistanz verschiedene Verpflegungs- und Einkaufsmöglichkeiten. Summa summarum ist Volketswil eine hervorragende Lokalität: In zehn Minuten bin ich «Downtown» oder in fünf Minuten am Greifensee. Wenn man uns nicht vertreibt, werden wir noch lange hier bleiben.

Wo liegen die Nachteile?

Als ein international tätiges Unternehmen wie die Hocoma – 97 Prozent unserer Produkte gehen in den Export – ist man massiv abhängig vom Phänomen Hochpreis-Land Schweiz. Das ist sicher auch ein Grund dafür, dass wir auf Filialen im Ausland angewiesen sind, um gewisse Produkte in der heutigen Zeit dort zu produzieren, wo es günstiger ist. Am Standort Volketswil an sich haben wir bis anhin noch keinen Nachteil ausmachen können.

Der Gemeindepräsident Jean-Philippe Pinto hofft, in Volketswil einen «Cluster» für Firmen aus dem medizin- und biotechnischen  Bereich zu bilden. Wie schätzen Sie das Potenzial für ein solches Vorhaben ein?

Grundsätzlich finde ich «Cluster»-Bildungen eine gute Sache. Aber der Aufwand, wenn man es wirklich will, ist nicht zu unterschätzen. Man muss sich bewusst sein, dass sich viele Regionen darum bemühen, moderne und Wachstum versprechende Branchen anzuziehen. Die MedTech-Branche ist übrigens der am stärksten wachsende Zweig in unserem Land mit einem sehr hohen Exportüberschuss. Ich werde die Idee «Cluster»-Bildung auf alle Fälle unterstützen. Voraussetzung dafür ist eine grossräumige und gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen Politik und Industrie. Man muss diesbezüglich auch sehr viel investieren. Mit einem Wunsch allein ist es noch nicht getan.

Was glauben Sie, in welche Richtung wird sich der Wirtschaftsstandort Schweiz in den nächsten Jahren entwickeln?

Wir haben sehr gute Karten. Einer unserer Trümpfe ist das liberale Arbeitsgesetz, das den Unternehmen viele Freiheiten einräumt. Das ist sicher eine Stärke. Um diese Freiheiten zu behalten und trotzdem die strategisch richtigen Entwicklungen zu machen, ist es aber unabdingbar, dass sich Politik und Industrie nochmals einen Schritt näher kommen und gut miteinander kooperieren. Ich bin zuversichtlich, dass das passieren wird. Aber es muss passieren, sonst werden wir von Anderen links überholt werden.

Was kommt nach der Robotik?

Wir investieren nebst in die Robotik auch in Sensor-basierte Technologien. Roboter braucht man in der Regel in der Frühphase, wenn der Patient viel Unterstützung benötigt.  Wenn sich der Patient aber zu Hause weiter therapieren soll, braucht er günstigere, leichtere Geräte. Der Trend geht klar in Richtung Miniaturisierung. Für uns wird es auf alle Fälle spannend bleiben.

Statt Verkaufsingenieur Firmengründer geworden

Die Hocoma AG entwickelt und produziert robotische und sensorbasierte Rehabilitationslösungen. Das Medizintechnik-Unternehmen mit Sitz an der Volketswiler Industriestrasse wurde 1996 von den Elektroingenieuren Gery Colombo und Matthias Jörg und dem Ökonom Peter Hostettler gegründet. Aus diesen drei Namen leitet sich auch der Firmenname ab: Ho-Co-Ma. Heute arbeiten über 150 Mitarbeitende in der Firma und weltweit erwirtschaftete das Unternehmen im letzten Jahr einen Umsatz von rund 30 Millionen Franken. Ihr CEO, der mittlerweile 51-jährige Gery Colombo, wohnhaft in Uster, suchte nach seinem Studium an der ETH eine Stelle als Verkaufsingenieur, wurde aber stattdessen Forschungsmitarbeiter in der Uniklinik Balgrist, wo er die Aufgabe erhielt, unter Professor Volker Dietz eine Forschungsabteilung im Bereich der Neuroehabilitation aufzubauen. Mit dem Erfolg der seit 2001 auf dem Markt erhältlichen Lokomaten ist Colombo zum Inbegriff des Jungunternehmers geworden, dessen Seltenheit in der Schweizer Wirtschaft so oft beklagt wird. Colombo ist verheiratet und ist seit 2014 Präsident des Industrievereins Volketswil und Umgebung. 

Abo

Möchten Sie weiterlesen?

Liebe Leserin, lieber Leser

Nichts ist gratis im Leben, auch nicht Qualitätsjournalismus aus der Region. Wir liefern Ihnen Tag für Tag relevante Informationen aus Ihrer Region, wir wollen Ihnen die vielen Facetten des Alltagslebens zeigen und wir versuchen, Zusammenhänge und gesellschaftliche Probleme zu beleuchten. Sie können unsere Arbeit unterstützen mit einem Kauf unserer Abos. Vielen Dank!

Ihr Michael Kaspar, Chefredaktor

Sie sind bereits Abonnent? Dann melden Sie sich hier an

Digital-Abo

Mit dem Digital-Abo profitieren Sie von vielen Vorteilen und können die Inhalte auf zueriost.ch uneingeschränkt nutzen.

Sind Sie bereits angemeldet und sehen trotzdem nicht den gesamten Artikel?

Dann lösen Sie hier ein aktuelles Abo.

Fehler gefunden?

Jetzt melden.