Mit dem Velo die Welt erfahren
Urs Egli hat Mühe, still zu sitzen. Seine Beine unter dem Tisch im Wohnzimmer seines Einfamilienhauses in Wetzikon wippen unentwegt, immer wieder ändert er die Sitzposition. «Ich bin ein Bewegungsmensch», sagt der 71-Jährige. «Wenn ich lange herumsitze, werde ich unruhig.»
Gerade ist der Wetziker von seiner zehnten Veloreise zurückgekehrt. Er fuhr von Bangkok über Phuket und Singapur bis nach Bali, legte rund 6000 Kilometer zurück. «Ich habe wieder einmal sehr viel erlebt», erzählt Egli. «Neun Wochen war ich allein in einer mir völlig unbekannten Welt. Ich bin nach jeder Reise unendlich dankbar dafür, dass ich wieder gesund heimkehren darf.»
Alles kommt anders
Lange war Eglis Leben von der Arbeit geprägt. Sein Vater gründete die Jules Egli AG in Wetzikon, eine kleine Firmengruppe im Bereich Strassen- und Tiefbau. Urs Egli hatte Maschinenmechaniker gelernt und danach Automobil-Ingenieur in Biel studiert. Er träumte von einer internationalen Karriere, lernte Englisch, Französisch und Spanisch. Doch es kam alles anders. «Als mein Vater mit 61 plötzlich starb, war die Frage, wer nachfolgt. Als Ältester von sechs Kindern übernahm ich die Führung der Firma.»
Egli war zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt. «Auf gut Deutsch gesagt, hatte ich von Tuten und Blasen keine Ahnung. Ich wurde ins kalte Wasser geworfen, war plötzlich Chef von über 100 Angestellten.» Doch Egli ist kein Mensch, der mit seinem Schicksal hadert. «Ich bin ein Optimist und mache aus jeder Situation das Beste.» Der vierfache Vater und fünffache Grossvater sass ausserdem für die FDP acht Jahre lang im Wetziker Gemeinderat und war 15 Jahre lang Vizepräsident des GZO-Spitals Wetzikon.
Mit 65 war Schluss
2010, im Jahre seiner ordentlichen Pensionierung, gab es einen Bruch in seinem Leben. «Ich war 65 und sagte mir, jetzt ist fertig, ich steige aus allem aus», erzählt er. «Die operativen Firmen wurden an die bestehenden Manager verkauft. Und plötzlich stand ich da, und niemand interessierte sich mehr für mich.»
Stefan Würsch, Direktor des Spitals Wetzikon, und laut Egli Freund und Seelenverwandter, erzählte ihm von einer geplanten Velotour entlang dem Mekong. «Er sagte, er fände niemanden, der mitkommt.» Egli, der zwar seit 40 Jahren konsequent zweimal die Woche um den Pfäffikersee rennt und schon viele Bergtouren, Wanderungen quer durch die Schweiz gemacht und Trekkingreisen durch die Welt geleitet hatte, aber kein grosser Velofahrer war, sagte zu. «Vorher machte ich noch eine Trainingsreise von Wetzikon bis Lissabon, um zu schauen, ob mein Füdli das aushält – und es hielt.»
Das Velo als Freund
Nach der Reise hatte sein Freund für eine Zeit lang genug, Egli zog es den Ärmel rein. Mittlerweile ist das Fahrrad zu einem lieb gewordenen Freund geworden, sagt er. 54’000 Kilometer hat er in den letzten fünf Jahren unter die Räder genommen, 63 Länder bereist. Jeweils im Frühsommer ist er in Europa unterwegs, im Herbst zieht es ihn nach Übersee. Egli war unter anderem in den USA, Pakistan, Indien, China, Laos, Kambodscha, Sri Lanka und Nepal. Wenn möglich vermeidet er es, zweimal das gleiche Land zu bereisen.
Egli ist keiner, der seine Reisen durchplant. Ausser dem Packen seiner Ausrüstung, dem Buchen seines Hin- und Rückflugs und dem Organisieren von Visa, falls dies nötig ist, trifft er keine Vorbereitungen. «Wenn ich morgens losfahre, weiss ich nie, wo ich am Abend übernachte.»
So fuhr er schon weit in die Nacht hinein, weil er keine Möglichkeit zum Schlafen fand. Pro Tag legt er durchschnittlich 120 bis 130 Kilometer zurück. «Das ist viel. Aber nicht, weil ich schneller fahre als andere, sondern weil ich länger fahre.»
Online-Tagebuch
Obwohl er nicht plant, ist ihm ein fester Tagesablauf, eine Struktur wichtig. Er steht sehr früh auf, sitzt in tropischen Ländern bei Morgendämmerung im Sattel. Alle sieben Tage schaltet er einen Ruhetag ein. Jeweils um 21 Uhr Ortszeit ist sein Tagebuch auf seiner Website online. So lässt er seine Familie und seine Freunde an seiner Reise teilhaben.
«Meine Frau Katharina weiss genauer Bescheid über mein Leben, wenn ich unterwegs, als wenn ich zu Hause bin», sagt er und lacht. Seit 43 Jahren ist er mit ihr verheiratet, die Leidenschaft fürs Reisen teilen sie nicht. «Sie ist völlig anders als ich. Aber wir ergänzen uns perfekt», sagt Egli. «Meine Frau sagte einmal, dass ich wie eine Taube sei. Wenn man sie einsperrt, geht sie ein, wenn man sie loslässt kommt sie immer wieder zurück. Das trifft zu.»
Auf seinen Reisen hat Urs Egli schon viel erlebt. Er fuhr durch strömenden Regen, in Gluthitze und Eiseskälte, durch hohe Berge und weite Sümpfe, litt unter Durchfall und Erbrechen. In Haiti sei er von drei Typen angehalten worden, die Geld von ihm verlangten. «Aber ich drückte einem von ihnen meinen Fotoapparat in die Hände damit er einige Fotos von mir macht.
Danach gab ich den Männern etwa fünf Franken in haitianischer Währung», erzählt Egli. «Die drei bedankten sich überschwänglich, denn ich hatte ihnen die Chance gegeben, Geld nicht erpresserisch und durch Androhen von Gewalt, sondern mit ‹ehrlicher Arbeit› verdient zu haben.»
«Ich werde richtig zelebriert»
Etwas vom Eindrücklichsten sei aber, wie er wie in manchen Ländern empfangen werde. «Menschen scharten sich um mich, wollen sich mit mir fotografieren lassen. Ich werde richtig zelebriert. In Pakistan hätte man meinen können, ich hätte die Tour de France gewonnen. Wenn sie mein Alter erfahren, fassen sie mich ehrfürchtig an, vor allem im hinduistischen Indien. Ich werde teilweise wie ein Gott gefeiert.»
Und wie lange wird er diese Reisen noch machen? «Das frage ich mich auch. Aber körperlich nimmt meine Leistung bis jetzt nicht ab. Und ich bin kein Typ, der sich Vorschusssorgen oder viele Gedanken um die Zukunft macht. Ich mache weiter, so lange es geht. Auf der Veranda sitzen kann ich noch lange.»