Politik

Auf dem Sozialamt der Scham begegnen

Ein Tag bei der Arbeitsvermittlung auf dem Sozialamt Dübendorf: Redaktorin Manuela Moser begegnete zwei Jobcoaches, die Langzeitarbeitslose individuell beraten.

Auf dem Sozialamt der Scham begegnen

Mit einem Brief vom Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) beginnt es meistens. Darin wird mitgeteilt, dass man nach zwei Jahren erfolgloser Arbeitssuche kein Geld mehr bekommt. Dazu die Empfehlung, man möge sich beim Sozialamt melden. «Für die meisten Betroffenen ist dieser Moment ein Schock», weiss Robert Scherf.

Zusammen mit seinem Kollegen Olaf Irrgang führt er seit drei Jahren die Arbeitsvermittlung auf dem Sozialamt Dübendorf. «Bis zum Ende der RAV-Zeit haben die Arbeitslosen einen guten Teil ihres Lohn weiter bezahlt bekommen, ab diesem Moment müssen sie ihr Budget drastisch einschränken.» Gedeckt wird aus öffentlicher Hand nur noch der Grundbedarf – viele müssen als Konsequenz in eine billigere Wohnung ziehen, auf das Auto und die Ferien verzichten. Hinzu kommt die Scham.

Betroffenen aus Dübendorf geht es in einem Punkt besser: sie müssen sich nicht ausstellen lassen. Denn im Frühling 2013 ist das Sozialamt aus dem Stadthaus ausgezogen und hat sich in separate Räume an der Bettlistrasse 22 eingemietet. «Es ist wichtig, dass wir weggezügelt sind», sagt Scherf. Gut auch für die Dübendorfer Langzeitarbeitslosen, dass sie hier nicht nur von Sozialberatern betreut werden, sondern zusätzlich von zwei Jobcoaches – eben Scherf und Irrgang. Beide sind aus Deutschland und haben zur gleichen Zeit angefangen zu arbeiten. Ein Zufall. Man könnte es auch Glücksfall nennen.

Denn die Coaches sind sich in ihrer Beraterphilosophie einig: der Mensch muss im Vordergrund stehen. «Ich hätte den Job nie angenommen, wenn wir Vorgaben bezüglich der Länge eines Beratungsgesprächs oder der Massnahmen gehabt hätten», so Scherf. Beide wollen individuell beraten, und nicht einfach vorgeschriebene Programme anordnen.

Im Team sitzt auch ein Psychologe. Wenn nötig, kann er beigezogen werden. Er hat sein Büro auf dem gleichen Gang. Ausgelagert hingegen ist Dübi-Jobs. Vor einem halben Jahr ist die Jobbörse (siehe Box) in das leer stehende Haus der Stadt an die Wilstrasse 93 gezogen.

«Tüüf dureschnuufe» steht an der Tür zum Besprechungsbüro von Dübi-Jobs. Drei Stellensuchende sind an diesem Nachmittag schon hier, so auch Nabid F.* aus Afrika. Er wirft gerade einen Blick auf die Stellenbörse – eine Pinnwand mit ausgedruckten Jobs, die für die Stellensuchenden interessant sein könnten. Das Jobcoach-Team sucht jeweils passend nach dem Profil der aktuellen Klientel.

Nabid F. will eine Arbeit als Kranführer. «Seit elf Jahren arbeite ich in diesem Bereich auf Temporärjobs», erzählt er. Es sei ihm bisher gelungen, sich lückenlos von einem zum andern zu hangeln. Doch seit ein paar Monaten sind die Angebote ausgeblieben. Nabid ist jetzt über 50 – ob die Misere mit seinem Alter zu tun hat? Das fragt er sich auch.

Neben ihm steht Kathrin M.* Auch sie ist um die 50, sucht seit neun Jahren eine Arbeit im Verkauf, am liebsten in einem Lebensmittelgeschäft. Angesprochen auf ihre frühere Tätigkeit, verfinstert sich ihr Gesicht. «Ich bin gemobbt worden und hatte es mit meiner Chefin nicht mehr gut.» Dann schaut sie zu Boden. Ob das Gegenüber ihr glaubt, dass es nicht ihre Schuld war?

«Machbar wird Undenkbares, wenn wir uns etwas zutrauen», lautet der Spruch an der nächsten Tür. In diesem Zimmer hat Romana F.* Platz genommen. Auffällig adrett frisiert und geschminkt, drapiert sie nun ihr farbiges Foulard. Gleich wird der Fotograf, selbst ein Stellensuchender, ein Bewerbungsfoto von ihr machen. Romana F. sucht eine Stelle als Verkäuferin in einem Modegeschäft.

Das Foto zeigt schliesslich eine schöne Frau mit einem kecken Lächeln, den Kopf hat sie leicht schräg ins Bild gedreht. Es gibt eine kurze Diskussion darüber, ob sich für eine Bewerbung in der Modebranche farbige oder schwarz-weisse Bilder besser machen.

Romana F. trifft nach dem Fototermin ihren Coach Olaf Irrgang. Es geht um die Besprechung der neuen Situation. Als Modeverkäuferin hat sie eine Stelle zu 50 Prozent gefunden. Eigentlich wollte sie mehr arbeiten, und wie sie durchblicken lässt, braucht sie das Geld. Der neue Arbeitgeber will sie auf Abruf einstellen, sodass sie blockiert ist für andere Jobs. «Soll ich trotzdem zusagen?» fragt sie.

Irrgang geht nochmals geduldig alle Punkte aus früheren Gespräche durch, zählt Vor- und Nachteile auf, und weist auf die Chance hin, die sie mit diesem Job bekommt. «Und wenn Sie eine besser Stelle finden, dann kündigen Sie wieder.»

Romana F. schaut ihn verunsichert an. Diese Möglichkeit hat sie offensichtlich nicht in Betracht gezogen. Schliesslich, sagt sie, habe der neue Chef ausdrücklich gesagt, er wolle sie nicht schon wieder nach drei Monaten verlieren. Der Coach redet ihr erneut gut zu: «Wenn Sie etwas Besseres finden, dann bedanken Sie sich höflich für die Chance und gehen wieder.»

«Das Selbstvertrauen ist bei Arbeitslosen oft am Boden zerstört», sagt Irrgang später. Für sich einzustehen und die eigenen Blockaden zu lösen, sei bei vielen ein Thema. Gerade da setze das Coaching an. Zu früh könne man einen Menschen aus diesem Grund nicht auf den Arbeitsmarkt zurückschicken. Ein Fall wie Romana F. werde deshalb die erste Zeit weiter begleitet.

Erfolgsgeschichten auf dem Sozialamt gibt es aber auch. Ein Beispiel ist der 34-jährige Beat S.* Früher sehr scheu, mit abgebrochener KV-Lehre und vielen Problemen, sitzt er heute zum letzten Mal bei seinem Coach Robert Scherf. Er antwortet höflich, blickt dem Gegenüber direkt in die Augen. «Aber es brauchte Zeit», sagt er selbst, «als ich das erste Mal auf das Sozialamt kam, war ich total abgestürzt.»

Geordnete Tagesstruktur seien am Anfang das Wichtigste gewesen. In einem Naturschutzprogramm lernte er Teamarbeit. Im Sportprogramm Pünktlichkeit und Verlässlichkeit. Und in den Gesprächen mit dem Coach wurde ihm bewusst, dass sich jede Situation ändern lässt. Bei einem Praktikum im Pflegeheim lernte Beat S. seine hilfsbereite Seite kennen, und bewährte sich. Im Sommer beginnt er nun seine Lehre als Pflegefachmann.

*Namen der Redaktion bekannt

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