«Man hört so nichts»
Wer hinhört, entdeckt Geschichten, Ideen und Chancen. Das trifft für «Standpunkt»-Autorin Viviane Kägi nicht nur auf die Schule zu, sondern auch auf das Weltgeschehen.
«Was habt ihr heute in der Schule gemacht?» – «Nichts.»
Und doch: Sie haben Insekten probiert. Sie haben einen Airbag für ein Ei gebaut, aus vier Metern Höhe getestet – und sich mit der besten Freundin gestritten.
Als Lehrerin und aus dem Umfeld höre ich teilweise: «Man hört so nichts aus der Schule.» Vielleicht liegt es an den Fragen, vielleicht auch daran, dass Kinder nicht jedes Erlebnis sofort teilen. Aber gerade dieses Schweigen zeigt: Es steckt viel mehr dahinter, als man auf den ersten Blick sieht.
So ist es auch in unserer Gesellschaft. «Man hört so nichts», sagen viele, wenn es um Politik geht. Und doch passiert eine Menge – nicht immer im Rampenlicht, aber mitten im Alltag. Schlagzeilen erzählen von Krisen oder Wahlen. Die eigentliche Arbeit aber geschieht in Kommissionen, an Sitzungen, beim Sammeln von Unterschriften und im Ringen um Lösungen. Diese Prozesse sind vielleicht unspektakulär, aber genau sie tragen dazu bei, dass wir gemeinsam weiterkommen.
Wer genauer hinhört, entdeckt die leisen Töne: die kleinen Fortschritte, die Kompromisse, die neuen Ideen. Politik ist mehr als das Echo der Empörung. Sie lebt von Beharrlichkeit – und davon, dass Menschen sich einbringen.
Noch 2016 nutzten fast neun von zehn Menschen in der Schweiz wöchentlich Fernsehen, Radio oder Print. Heute sind es nur noch sieben von zehn. Viele wenden sich ab, weil die Informationsflut überwältigend wirkt oder weil sich das Gefühl einschleicht, es sei ohnehin immer dasselbe. Das ist eine Herausforderung – aber auch eine Chance. Denn jede und jeder von uns hat die Möglichkeit, bewusst hinzuschauen und sich ein differenziertes Bild zu machen, das über Schlagzeilen hinausgeht. Sonst heisst es schnell auch hier: «Man hört so nichts.»
So wie Kinder nach einem langen Schultag viel erlebt haben, auch wenn sie «nichts» erzählen, so passiert politisch wie gesellschaftlich weit mehr, als man auf den ersten Blick erkennt. Wer hinhört, entdeckt Geschichten, Ideen und Chancen.
Denn «man hört so nichts» heisst nicht, dass nichts da ist – sondern, dass wir die Wahl haben, wie genau wir zuhören. Und genau darin steckt etwas Ermutigendes: Eine lebendige Gesellschaft lebt nicht von Schlagzeilen, sondern davon, dass wir alle hinhören – und mitreden.
Viviane Kägi ist in Neubrunn, Turbenthal, aufgewachsen. Sie ist Präsidentin der GLP Tösstal und arbeitet als Sekundarlehrerin.