«Der Bauplan für ein komplettes Örgeli existiert nur in meinem Kopf»
Schwyzerörgeli made in Wald
Sergio Theiler baut seit 13 Jahren leidenschaftlich Schwyzerörgeli. Wir haben ihn in seiner Werkstatt in Wald besucht.
In einem ehemaligen Abstellschuppen in Wald schlägt das Herz von Sergio Theiler – zumindest die meiste Zeit. Denn mehr als 40 Stunden pro Woche verbringt der Schwyzerörgelibauer in seiner Werkstatt. Das Praktische: Sie liegt direkt neben seinem Wohnhaus. Sein Arbeitsweg? Rund zehn Sekunden.
Die Nähe zu seinem Arbeitsort erleichtert ihm auch den Familienalltag. Wenn er unter der Woche eines seiner drei Kinder zum Arzt bringen müsse, könne er sich das problemlos einrichten. «Wer kann das sonst einfach so?»
Seine Selbständigkeit weiss er zu schätzen. Seit dem Abschluss seiner Schreinerlehre steht Theiler beruflich auf eigenen Beinen. «Etwas anderes könnte ich mir gar nicht vorstellen.»
Während der vierjährigen Lehre baute er als Projektarbeit sein erstes Örgeli. Dazu nahm der leidenschaftliche Örgelispieler sein eigenes Instrument als Vorlage, studierte es genau und baute es Schritt für Schritt nach. «Ich hätte keinen Örgelibauer um Hilfe fragen müssen, die hätten ihr Know-how sowieso nicht geteilt.» Wieso, erklärt er später.
Mit seiner selber hergestellten Ziehharmonika war er jedoch nicht zufrieden und gab das Bauen dieser vorerst auf. Doch zwei Jahre später packte ihn der Ehrgeiz erneut, und sein zweites Örgeli entstand. Von da an baute er die Instrumente in seiner Freizeit.
Sein Hobby sprach sich schnell herum. Erste Anfragen für den Bau einer Handharmonika zum Privatgebrauch erreichten ihn kurz darauf. Parallel zu seinem 50-Prozent-Pensum als Schreiner arbeitete er also plötzlich ebenso viel als Örgelibauer.
2012 wagte er den Schritt in die Selbständigkeit als Handörgelibauer: zuerst in Innerthal im Kanton Schwyz, «der Örgelihochburg schlechthin», ab 2015 dann im Zürcher Oberland. «Meine Frau ist aus Wald», erklärt der gebürtige Dübendorfer den Umzug.
Seine Wahlheimat Wald hat bereits Spuren in seinem Schaffen hinterlassen. «Ich hatte die Idee, die Tannen aus dem Walder Wappen in die Holzrahmen an den Enden des Balgs einzuarbeiten.» Gefallen hat ihm das Ergebnis nicht. Also auf zum nächsten Projekt.
Das liebt er: ausprobieren, tüfteln, perfektionieren. Neue Materialien, neue Dekorationen, neue Ideen. «Wenn ich nicht mehr wüsste, was ich verbessern könnte, würde ich mit dem Örgelibau aufhören.» Doch davon ist er weit entfernt. Seine Experimentierfreude ist schweizweit bekannt. Immer wieder kommen Kundinnen und Kunden mit ausgefallenen Wünschen zu ihm.
Ein Plexiglas-Örgeli? Oder ein Instrument, bei dem wirklich jede die Haut berührende Stelle aus Karbon ist? Beides setzte er um.
Rund 200 Stunden brauche er für ein so anspruchsvolles Örgeli. «Aber ich zähle die Stunden nicht.» Wenn man mit Leidenschaft dabei sei, spiele die Zeit keine Rolle. Er möchte als Handwerker mit seinen Produkt zufrieden sein. «Und dafür arbeite ich, bis das Ergebnis für mich stimmt.»
Theiler baut Örgeli auf Bestellung, manchmal auch ein paar wenige auf Vorrat. Die seien immer so schnell weg. Kaum fertiggestellt, gingen sie bereits zum neuen Besitzer, zur neuen Besitzerin. «Das tut manchmal schon etwas weh», sagt er. «Aber von etwas muss ich ja leben», und ausserdem habe er dann wieder Platz, ein neues zu bauen.
Bis heute hat Theiler 62 Instrumente unter seinem eigenen Label gebaut, allein in diesem Jahr bereits sechs. Die mit seinem Namensschild versehenen Schwyzerörgeli beginnen preislich bei 8000 Franken, während Standardausführungen ab 4800 Franken erhältlich sind.
Spezialgebiet Bälge
Seine Hauptarbeit besteht heute nicht mehr aus dem eigentlichen Örgelibau. Rund zwei Drittel seiner Zeit wendet er für die Herstellung von Bälgen auf – den flexiblen, faltbaren Mittelteilen von Akkordeons. Und meist baut er diese nicht für seine eigenen Örgeli, sondern als Dienstleistung für andere Instrumentenbauer und Instrumentenbauerinnen.
Dass Sergio Theiler heute auf das Herstellen von Bälgen spezialisiert ist, hat eine etwas ungewöhnliche Vorgeschichte: Früher bezogen fast alle Örgelibauer ihre Bälge von einem älteren Handwerker aus Bern, so auch Theiler. Als dieser jedoch krank wurde und keine Bälge mehr liefern konnte, musste der 40-jährige Walder selbst herausfinden, wie man sie herstellt. Nach diversen Versuchen und der Suche nach den geeigneten Materialien gelang es ihm, ein ebenbürtiges Produkt herzustellen.
«Das hat sich herumgesprochen, und plötzlich kam die ganze Kundschaft des Berners zu mir.» Der alte Mann reagierte gekränkt und brach den Kontakt zu Theiler ab. Der Berner habe sein Wissen wie einen Schatz gehütet und mit niemandem geteilt, sagt Theiler, «und am Ende hat er seine Sachkenntnisse mit ins Grab genommen».
Bei Theiler gilt die Devise nomen est omen. «Ich teile mein Wissen gerne», sagt er. «In unserem Handwerk sollte das Wissen weitergegeben werden.» Aber viele täten das nicht, das sei in der Handzuginstrumentenbranche einfach so.
Gehirn als Festplatte
Obwohl er sich seit der Erkrankung des Berners auf die Herstellung von Bälgen spezialisiert hat, schätzt Theiler nach wie vor fast alle Arbeitsschritte rund um den Entstehungsprozess eines Örgeli. «Abwechslung ist mir wichtig», betont er.
Nur zwei Bereiche liegen ihm weniger: Organisation und Administration. «Ich bin organisatorisch nicht der Beste.» Bürokram schiebe er gerne vor sich her. So komme es vor, dass er vergesse, seine Bestellliste zu aktualisieren, «und irgendwann habe ich halt keinen Leim mehr», sagt er lachend.
Aus demselben Grund existieren auch seine Baupläne nicht auf Papier. «Der Bauplan für ein komplettes Örgeli existiert nur in meinem Kopf.»
Inzwischen Zuhörer statt Spieler
Mittlerweile auch nur noch als Erinnerungen in seinem Kopf gespeichert, existieren die Zeiten, in denen Theiler mit dem Schwyzerörgeliduo Turbo-Örgeler während 14 Jahren bis zu 100 Auftritte pro Jahr absolvierte.
Später war er zusammen mit zwei weiteren Musikern unter dem Namen Zwiirnis unterwegs. Heute greift er nur noch gelegentlich zum Handörgeli – manchmal gemeinsam mit Kundinnen und Kunden, wenn diese ihr Instrument in seiner Werkstatt abholen.
«Ich vermisse die vielen Auftritte nicht», sagt er. «Es war eine tolle Zeit, aber jetzt liegt der Fokus auf der Familie.» Vielleicht, wenn die Kinder einmal älter seien, könne er sich eine Bandmitgliedschaft wieder vorstellen.
Obwohl er kaum noch selbst auftritt, besucht er gerne die Konzerte seiner Kundinnen und Kunden, besonders dann, wenn diese mit einem Instrument spielen, das er gebaut hat. «Es erfüllt einen schon mit Stolz, wenn man weiss: Dieses Örgeli konnte ich genau nach ihren Vorstellungen bauen.»