Werner Bärtschi prägt die klassische Musik im Oberland seit Jahrzehnten
75 Jahre Leidenschaft
Mit seiner Expertise stellt er das Programm für klassische Musik im Oberland zusammen. Doch der Intellekt ist nur ein Teil der klassischen Musik. Werner Bärtschi überzeugt lieber mit Gefühl.
Mit seinem ersten Anschlag vibriert ein Ton im stillen Raum. Sein Oberkörper wippt zur dramatischen Melodie, während seine Hände sanft über die Tasten gleiten.
Werner Bärtschi ist Pianist, Komponist und künstlerischer Leiter von Top Klassik Zürcher Oberland. Seine Leidenschaft für klassische Musik ist so ansteckend, dass sie selbst jene erreicht, die wenig mit dem Musikgenre anfangen können.
Top Klassik Zürcher Oberland
Top Klassik Zürcher Oberland wurde 1962 als Musikkollegium Zürcher Oberland gegründet und bietet seither hochwertige klassische Musik. An etwa 18 Konzerten pro Jahr treten internationale Künstlerinnen und Künstler in der Region auf, oft auch in kleineren Gemeinden. Ziel ist es, klassische Musik einem breiten Publikum zugänglich zu machen und die Nähe zwischen Musizierenden und Zuhörenden zu fördern.
Es sind nicht allein die Werke von Bach oder Beethoven, die faszinieren, wenn Bärtschi über klassische Musik spricht. Es ist vielmehr seine Fähigkeit, die Geschichten hinter den Komponisten lebendig werden zu lassen: von Beethovens aufbrausender Persönlichkeit bis zu Wagners spitzer Zunge, mit der er sich über Verdi lustig machte.
Wenn Bärtschi über die Kraft der Musik spricht, funkeln seine Augen – als würde er all die Gefühle, die eine einzelne Note auslösen kann, immer wieder neu erleben. Vor Kurzem hat der Musiker seinen 75. Geburtstag gefeiert. Und zurückgegangen ist die Leidenschaft nicht. Ganz im Gegenteil.
Musikunterricht in einer gutbürgerlichen Familie
Alles begann am 1. Januar 1950 in Zürich. Bärtschi wurde als das jüngste von vier Kindern geboren. Er folgte auf eine ältere Schwester und auf zwei noch ältere Brüder. «Das jüngste Kind wird ja bekanntlich nicht erzogen, das bekommen alles die älteren ab. Das letzte Kind schleift einfach so durch», bemerkt der Pianist schmunzelnd.
Seine Freiheiten konnte Bärtschi stets geniessen: Er spielte im Wald, rannte mit seinen Freunden durch die ganze Nachbarschaft und erfreute sich an seiner autonomen Kindheit.
Bärtschis Vater war Wirt. Er führte ein erfolgreiches Restaurant mitten in der Stadt. «Gut 100 Plätze hatte es», erinnert sich Bärtschi. Deswegen konnte sich die Familie ein Einfamilienhaus leisten, sogar einen Mercedes. Und was ebenfalls zu einer gutbürgerlichen Familie gehörte: Musikunterricht für die Kinder.
Musikunterricht gehörte einfach dazu.
Werner Bärtschi
Künstlerischer Leiter von Top Klassik Zürcher Oberland
«Meine Eltern selbst hatten mit Musik nicht so viel am Hut. Sie hatten auch keinerlei musikalischen Pläne oder Ambitionen mit uns Kindern. Musikunterricht gehörte einfach dazu.» Seine zwei älteren Brüder spielten Klavier. Die Schwester spielte Geige.
Liebe auf den ersten Ton
Noch bevor er selbst Unterricht nahm, lauschte der junge Werner seinen Geschwistern beim Musizieren. Auch sein Vater verschaffte ihm ein Ohr für Klassik. Wohl eher unbewusst.
Denn die Bärtschis besassen ein Möbel mit Radio, Schallplattenspieler und sogar einem integrierten Tonband. «Das war in den Fünfzigern nicht selbstverständlich.»
Klassische Musik fand ich aufregend.
Werner Bärtschi
Künstlerischer Leiter von Top Klassik Zürcher Oberland
Wenn sein Vater in der Zimmerstunde ein Nickerchen machte, bevor er sich wieder dem Trubel der Küche verschrieb, liess er Platten auf dem Musikmöbel abspielen. Manchmal Beethoven, manchmal Bach, oft döste er dabei ein. Für den Buben Werner war das unverständlich.
«Ich fand die Musik aufregend. Wie man dazu schlafen kann, ist mir bis heute ein Rätsel», sagt Bärtschi. Klassik war Liebe auf den ersten Ton.
Das grosse Saxofon
Besonders angetan hatte dem jungen Bärtschi ein ganz bestimmtes Instrument: das Basssaxofon. Sein ältester Bruder hatte eine Sammlung von Jazzplatten. Saxofone in verschiedensten Grössen zierten eines der Cover. Bärtschi wollte wissen, wieso.
Er habe ihm erklärt, wie die kleineren Saxofone höhere Töne spielten, die grösseren tiefere. Das grösste Saxofon, das Basssaxofon, spiele demnach die tiefsten Töne. Das imponierte dem Buben.
Also wollte er Basssaxofon spielen. Aus dem Wunsch wurde jedoch nichts. Die Eltern schickten ihn in den Klavierunterricht.
Auch hier verliebte sich Bärtschi gleich beim ersten Ton. «Das Klavier hat mir sofort gefallen. Die Hände bewegen sich flink über die Tasten, das mochte ich.»
Der Klavierunterricht fühlte sich für Bärtschi richtig an. Allgemein war er ein eifriger Junge. Bloss für die Schule hatte er nicht viel übrig. Erst recht nicht für Hausaufgaben. Dafür genoss er den Freiraum, den er sich nehmen konnte.
In seiner Klasse im Gymnasium gab es noch andere Musizierende, mit denen er Miniorchester gründete und sich in der Musik entfaltete. «Aus unserer Klasse von 19 Maturanden sind immerhin vier klassische Musiker geworden. Ein ansteckendes Virus», witzelt er.
Mit 14 Jahren sei ihm bewusst gewesen: «Ich will Musiker werden.» Während zuvor seine Musik kaum Thema war, formte sich ab da ein Widerstand.
«Meine Mutter und andere, die es gut meinten, wollten, dass ich etwas ‹Anständiges› lerne.» Sein Vater war gestorben, als er zwölf war. Mit Beharrlichkeit setzte Bärtschi sich aber durch.
Vom Schüler zum Musiker
Sein Klavierlehrer fragte ihn eines Tages, ob er für einen Chor spielen möchte. Als Korrepetitor – ein Musiker, der Solisten oder Ensembles bei Proben begleitet und unterstützt. «Ich kannte das Wort damals nicht, aber wenn man jung ist, sagt man sowieso Ja.»
So gelangte er zu seinem ersten Meilenstein. Denn der Dirigent des Chors war Edmond de Stoutz, Gründer des Zürcher Kammerorchesters. Eine sehr bedeutende Musikerpersönlichkeit, wie Bärtschi findet.
«Es denken vielleicht nicht alle gleich über ihn, aber ich habe in meinem Leben selten jemanden kennengelernt, der so umfassend über Musik Bescheid wusste. Vor allem emotional, nicht nur intellektuell.»
Das war etwa zwei Jahre vor seiner Matur. Bärtschi konnte sich also schon als Musiker bezeichnen, bevor er jene überhaupt bestanden hatte.
Durch seinen Eifer machte er sich bald einen Namen in der Musikszene und wirkte in den verschiedensten Projekten mit – als Pianist wie auch als Dirigent und Komponist.
Seit Jahrzehnten im Oberland
1988 fragte ihn René Müller, Gründer des Musikkollegiums Zürcher Oberland, das später zu Top Klassik Zürcher Oberland wurde, ob er als Partner bei der Programmgestaltung mitmachen wolle. Bärtschi sagte Ja – eine Anfrage zehn Jahre zuvor hatte er noch abgelehnt. Seither ist Bärtschi im Oberland verankert und versucht der Region mit klassischer Musik zu dienen.
Das Genre gilt bisweilen als etwas intellektuell. Für Bärtschi ist die emotionale Komponente essenziell. «Man kann das Intellektuelle der Musik natürlich nicht absprechen. Doch die Gefühle, die übermittelt werden, versteht jeder, auch ein Kind», findet Bärtschi.
Denn Musik kenne keine Zensur und gehe auch die Wege, die für die Sprache zu komplex seien. «Musik ist ein Motor für die, die spielen, aber auch für die, die zuhören.» Dann schwärmt Bärtschi über Beethovens 5. Sinfonie. Von Herzen, wie er schon seit Dekaden über Musik spricht.