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Gesundheit

30 Jahre Gebären ohne Doktor

Das Geburtshaus Bäretswil feiert Jubiläum. In den vergangenen Jahrzehnten gab es aber Höhen und Tiefen.

Das Geburtshaus Zürcher Oberland feiert sein 30-Jahr-Jubiläum.

Foto: Annette Saloma

30 Jahre Gebären ohne Doktor

Geburtshaus in Bäretswil

Im Geburtshaus Zürcher Oberland haben in drei Jahrzehnten über 5500 Babys das Licht der Welt erblickt. In der Geschichte gab es aber auch schwierige Zeiten.

Das Geburtshaus in Bäretswil hat etwas von einer familiären Pension. Im Haus riecht es dezent nach Essen. Vom Eingangsbereich geht es die Treppe rauf in zwei Geburtsräume. In diesen stehen je eine Badewanne und ein Bett, ein Tuch mit einem Knoten hängt von der Decke.

Die Treppe rauf geht es zu den Wochenbettzimmern. Zuoberst befindet sich das sogenannte Nest, ein Aufenthaltsraum für Familien. Die Wände, Sofa- und Bettbezüge sind in warmen Farben gehalten: Violett, Blau, Orange und Gelb.

Das erste Kind kam im Juni

Das Gebäude ist ein ehemaliges Hotel und eignet sich laut den Verantwortlichen perfekt als Geburtshaus. «Wir wollten zentral und gut erreichbar sein», erzählt Karin Lietha-Kapp, Vorsitzende der Geschäftsleitung.

Diese besteht aktuell aus vier Frauen, die an diesem Morgen alle um einen Tisch im obersten Stock sitzen. «Auch die Nähe zum Spital spielte eine Rolle.»

Vier Frauen sitzen vertraut auf einem Sofa und lächeln in die Kamera.
Die vier Geschäftsleiterinnen des Geburtshauses (von links): Sue Barratt, Gabriela Sutter, Karin Lietha-Kapp und Petra Gebert.

Am 1. Juni 1993 wurde das Geburtshaus Zürcher Oberland eröffnet, zwei Tage später kam das erste Kind – Andrea – zur Welt. Damals war es in Wald stationiert. Die ehemalige, sehr bescheidene Herberge für Pilger hatte ein Geburtszimmer, vier kleine Wochenbettzimmer, einen Wickeltisch und ein einziges Bad auf dem Korridor.

16 Jahre lang wurde in dieser Umgebung geboren, bis das Geburtshaus 2009 in das komfortablere und grosszügigere Haus an der Schürlistrasse am Ortsrand von Bäretswil zog. Aus dem Verein wurde eine AG. Das Team besteht heute aus 45 Mitarbeiterinnen, die Hälfte davon sind Hebammen.

In den vergangenen 30 Jahren sind rund 5500 Kinder im Geburtshaus Zürcher Oberland zur Welt gekommen. Durchschnittlich sind es 250 Geburten pro Jahr, im Spitzenjahr 2018 waren es 310.

Man sieht ein Haus, darunter steht «Liebe Grüsse aus dem Geburtshaus Wald».
Eine Postkarte aus dem Jahr 1995 vom Geburtshaus Wald. Dieses war in einer ehemaligen Pilgerherberge stationiert.

«Unsere Vision ist immer noch die gleiche wie vor 30 Jahren», sagt Gabriela Sutter von der Geschäftsleitung. «Wir wollen Raum schaffen für Familien, damit sie in Sicherheit und Geborgenheit eine kraftvolle und selbstbestimmte Geburt erleben können.»

Dazu gehört beispielsweise, dass es während der Geburt eine Eins-zu-eins-Betreuung durch eine Hebamme gibt. Der Fokus liegt auf einer natürlichen Geburt. Man verzichtet bewusst auf Interventionen wie Wehenmittel, Wehenhemmer oder herkömmliche Schmerzmittel.

Erstgebärende machen rund die Hälfte aller Geburten aus.

Karin Lietha-Kapp, Vorsitzende der Geschäftsleitung

«Wir setzen auf Entspannung durch Massage, empathische Begleitung und die Schmerzlinderung durch das warme Wasser im Geburtspool», erzählt Sutter.

«Ausserdem verfügen wir über so viele Mitarbeiterinnen, dass sowohl während der Geburt als auch im Wochenbett eine sehr persönliche, individuelle Betreuung gewährleistet ist.» Die Frauen bleiben nach der Geburt durchschnittlich vier Nächte in Bäretswil.

Ansonsten hat sich in den vergangenen 30 Jahren einiges verändert. «Die Frauen sind viel besser informiert und vertrauen mehr in ihre Kräfte», sagt Sue Barratt, Mitglied der Geschäftsleitung. Sie selbst hat drei ihrer vier Kinder im Geburtshaus geboren. «Auch die Väter nehmen eine viel aktivere Rolle ein.»

Seit elf Jahren auf Spitalliste

Seit 2012 steht das Geburtshaus auf der Spitalliste des Kantons Zürich. Dafür hatten die Verantwortlichen mit grossem Einsatz gekämpft. Auf der Spitalliste zu sein, bedeutet, dass klare Kriterien und Auflagen erfüllt werden müssen.

«Es heisst aber auch, dass die Frauen eine echte Wahlfreiheit haben, da alle Leistungen aus der Grundversicherung übernommen werden», erklärt Barratt. Früher mussten die Familien den Wochenbettaufenthalt selber berappen.

Wählten in den ersten Jahren vor allem alternativ eingestellte Menschen eine Geburt im Geburtshaus, hat auch die Bandbreite des Publikums zugenommen. Erstgebärende sind mehr vertreten als früher. «Sie machen mittlerweile rund die Hälfte aller Geburten aus», erzählt Karin Lietha-Kapp.

Die Verlegungsrate liegt heute bei 20 Prozent. Das heisst konkret, dass jede fünfte Frau während der Geburt ins Spital gebracht wird – meistens ins GZO-Spital Wetzikon. Diese Praxis musste das Geburtshaus nach einem Aufsichtsverfahren der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich anpassen.

Frauen, die Mehrlinge erwarten, die einen Kaiserschnitt hatten, deren Kind in Steisslage liegt oder bei denen ein insulinpflichtiger Schwangerschaftsdiabetes besteht, werden gar nicht erst zum Gebären aufgenommen. Sie können aber das Wochenbett im Geburtshaus verbringen.

Schwierige Zeiten

Trotz dem grossen Erfolg hat das Geburtshaus auch schwierige und herausfordernde Zeiten durchgemacht. Nach der Verlegung einer Gebärenden im Januar 2018 wurde nach einem Kaiserschnitt nur noch der Tod des Kinds festgestellt.

Im Mai 2019 eröffnete die Staatsanwaltschaft gegen drei Hebammen des Geburtshauses ein Verfahren. Die Untersuchung des Falls wurde bis heute noch nicht abgeschlossen.

Das Geburtshaus wurde daraufhin durch die Gesundheitsdirektion Zürich im oben genannten Aufsichtsverfahren auf seine Qualität überprüft und zu verschiedenen Verbesserungsmassnahmen verpflichtet. Letztes Jahr wurde das Verfahren zugunsten des Geburtshauses abgeschlossen.

2019 kritisierte der Regierungsrat die mangelnde Kooperation mit den umliegenden Spitälern. Nachdem auch dies verbessert worden war, wurde der Leistungsauftrag erneuert.

Statistik.
Statistik der Anzahl Geburten in Schweizer Geburtshäusern über die letzten 30 Jahre.

Auch Spitäler setzen mittlerweile auf Geburtshäuser. So hat das Spital Zollikerberg vor einem Monat angekündigt, sein Angebot um ein Geburtshaus zu erweitern.

Die Konkurrenz macht den Betreiberinnen des Geburtshauses Zürcher Oberland keine Sorgen. «Konkurrenz belebt das Geschäft», sagt Sue Barratt. «Ausserdem zeigt es, dass es ein Bedürfnis ist, und macht auch unser Angebot wieder bekannter.»

Zwei bis fünf Prozent aller Kinder kommen in der Schweiz in einem Geburtshaus zur Welt – Tendenz steigend.

Kein öffentliches Fest

Sorgen machen den Geschäftsführerinnen der Fachkräftemangel und die sinkende Geburtenrate. «Da sind wir gespannt, wie sich das weiterentwickelt», sagt Gabriela Sutter.

Freude hingegen machten ihnen ihr stabiles, hoch motiviertes Team sowie die gute Zusammenarbeit mit den verschiedenen Partnern.

Auf ein öffentliches Fest verzichten die Frauen aus Ressourcengründen. «Intern werden wir aber am 1. Juni anstossen», sagt Karin Lietha-Kapp. «Das Jubiläum und unseren Erfolg werden wir zu einem späteren Zeitpunkt mit dem ganzen Team gebührend feiern.»

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