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Gesundheit

Hausarzt Res Kielholz aus Uster spricht im Interview über Long Covid

Auch im Oberland klagen zahlreiche Corona-Patienten noch Monate nach ihrer Erkrankung über schlimme Beschwerden. Sechs davon behandelt der Ustermer Ärztepräsident Res Kielholz. Am meisten erstaunt hat ihn dabei das Alter der Betroffenen.

Behandelt Patienten mit Long Covid: Der Hausarzt Res Kielholz in seiner Praxis in Uster.

Fotos: Christian Merz

Hausarzt Res Kielholz aus Uster spricht im Interview über Long Covid

Res Kielholz, Ustermer Ärztepräsident, behandelt in seiner Praxis auch Long-Covid-Patienten. Wie viele Menschen im Oberland vom Syndrom, das auch Post Covid genannt wird, betroffen sind, ist nicht klar. Schätzungen gehen schweizweit von 10’000 bis 100’000 Erkrankten aus. Eine Studie des Zürcher Instituts für Epidemiologie, Bioistatistik und Prävention liefert erstmals Zahlen dazu. 

Herr Kielholz, wie würden Sie einem Fünfjährigen Long Covid erklären?
Res Kielholz: Die Abwehrzellen im Immunsystem – für einen Fünfjährigen würde ich jetzt von Soldaten sprechen – funktionieren bei jungen Menschen wie Scharfschützen, die das Coronavirus genau im Visier haben und dieses sehr zielgerichtet unschädlich machen können. Es gibt nun aber Menschen, deren Abwehrzellen aufgrund ihres Alters, wegen Vorerkrankungen oder eines unbekannten Gendefekts nicht in der Lage sind, das Virus zu treffen. Stattdessen schiesst deren Immunsystem blindwütig um sich. Dabei gelingt es ihm nicht, das Virus abzutöten, es richtet aber einen grossen Kollateralschaden in diversen Organen an, so dass die Beschwerden auch nach drei Monaten noch nicht abgeklungen sind.

Und diesen Kollateralschaden bezeichnet man als Long Covid?
Davon geht man aus: Die übereifrigen, aber ungeschickten Abwehrzellen geraten ausser Kontrolle. Sie sind unter anderem verantwortlich für die Symptome, über die viele Long-Covid-Patienten klagen: Müdigkeit, Atemnot, Herzrhythmusstörungen, Erschöpfung, Gedächtnisprobleme etc.

Wieso führt Long Covid bei gewissen Personen zu Langzeitschäden und andere erholen sich nach wenigen Monaten wieder komplett?
Es ist bekannt, dass das Coronavirus alle Organe befallen kann: Lunge, Nieren, Herz und Blutgefässe. Laut einer deutschen Autopsie-Studie konnte bei über der Hälfte der Personen, die an Covid gestorben sind, Viruspartikel in den Nervenzellen nachgewiesen werden. Es ist ein Beweis, dass das Virus auch ins Hirn geht. Sind die Blutgefässe im Hirn betroffen, kann es durch Arterienverschlüsse zu irreversiblen Schäden führen. Ich habe ein Bild einer Patientin gesehen, die lange auf der Intensivstation gelegen und Dutzende von Hirninfarkten und Hirnblutungen erlitten hat. Sie wird dadurch ihr Leben lang behindert sein. Die meisten Long-Covid-Fälle sind aber glücklicherweise weniger schwerwiegend.

Von 50 Ihrer Covid-Patienten haben sechs Long Covid entwickelt. Mit welchen Symptomen hatten sie zu kämpfen?
Zwei meiner Patienten litten vorwiegend an Lungenproblemen und an Atemnot. Bei den anderen vier hatte das Virus das Hirn angegriffen. Da dieses für viele Funktionen zuständig ist, auch für das vegetative Nervensystem, ist die Palette an Symptomen riesig: Vergesslichkeit, Gleichgewichtsstörungen, Kopfweh, Müdigkeit, Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen, viele klagten auch über ein Kribbeln in den Fingern. Alle sprachen unisono von einem schwankenden Verlauf. Die Symptome verschwanden teilweise komplett und sie freuten sich über ihre Genesung. Am nächsten Tag waren aber alle Beschwerden wieder zurück.

Wie alt sind Ihre Patienten? 
Das hat mich am meisten erstaunt: Sie sind zwischen 20 und 60 Jahre alt. Ihr Durchschnittsalter liegt bei 43. Die jüngste Person ist erst Mitte 20 – sie litt Monate nach der Infektion noch an Atemnot. Auch ein Lungenspezialist konnte ihr nicht helfen. Ihr fehlte nicht nur die Energie für Sport, sondern die Person hatte bereits Mühe beim Treppensteigen. Die älteste Person bringt Risikofaktoren mit. Sie hat es am schwersten erwischt; leidet seit vier Monaten an Lähmungen, kann nicht mehr richtig gehen und ist zeitweise auf den Rollstuhl angewiesen. Ausserdem kämpft sie mit Wortfindungsstörungen. Die anderen fünf waren vor der Erkrankung kerngesund, tüchtig, zwei sogar extrem sportlich, einer ist sogar den Greifensee-Lauf gerannt. Sie wiesen keinerlei Risikofaktoren auf und erkrankten völlig unerwartet und unvorhersehbar an Long Covid. Das macht die Krankheit unheimlich.

Wie geht es Ihren Patienten heute?
Bei fünf von sechs ist es zu einer weitgehenden bis vollständigen Erholung gekommen. Zwei waren bereits nach drei Monaten wieder komplett genesen. Andere leiden auch sechs Monate nach der Infektion immer noch an Symptomen. Meine älteste Patientin ist noch sehr eingeschränkt zu Hause und kommt nur mit Ach und Krach im Haushalt zurecht.

Die Uni Zürich hat die erste Schweizer Studie zu Long Covid durchgeführt. Was den Studienleiter erstaunte, war vor allem, dass auch Personen mit leichtem Krankheitsverlauf betroffen waren. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?
Absolut. Einer meiner Patienten hatte während einer Woche leichte Erkältungssymptome. Danach dachte er, er sei wieder gesund. Erst einige Tage später merkte er, dass er Gesprächen nicht mehr richtig folgen konnte und am Computer überfordert war (siehe Bericht).

Res Kielholz, Arzt aus Uster.

26 Prozent der in der Studie Untersuchten gaben an, sich sechs Monate nach der Infektion noch nicht ganz erholt zu haben.  Mindestens jeder zehnte war noch in einem schlechten Gesundheitszustand und im Alltag sehr eingeschränkt. Bei hospitalisierten Personen war in 39 Prozent der Fälle eine unvollständige Erholung aufgetreten, bei nicht hospitalisierten Personen in 23 Prozent. Sind diese Zahlen Ihrer Meinung nach repräsentativ für die Schweiz?
Wenn dem so wäre, stünden wir kurz vor einer sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Katastrophe. Da leichte Fälle seltener untersucht wurden, wird die Häufigkeit in dieser Studie wohl überschätzt. Man muss aber davon ausgehen, dass rund zehn Prozent der Corona-Erkrankten unter Long Covid leiden. Das ist immer noch sehr viel.

Wie behandelt man Long Covid?
Die Behandlung ist primär symptomatisch. Medikamente, die ursächlich etwas nützten, gibt es bis jetzt noch nicht. Wenn aber jemand Schlafstörungen, Panikattacken oder Depressionen hat, kann man diese behandeln. Verhaltenstherapeutische Massnahmen greifen ebenfalls: Eine Betroffene sagte, ihr habe ein «Schnüffel-Training» sehr geholfen. Ihr war der Geruchssinn über Monate hinweg abhandengekommen. In der Küche hat sie dann intensiv an allerhand Gewürzen geschnüffelt und sich so langsam wieder an die Gerüche erinnert. Ein anderer Patient hat Entspannungsübungen und Ressourcenaktivierung gemacht. Auch Spaziergänge in der Natur können helfen.

Res Kielholz moderiert einen Qualitätszirkel des Ärztenetzwerks Zürcher Oberland . Er hat eine nicht repräsentative Umfrage unter den beteiligten 20 Hausärzten aus dem Raum Uster und Wetzikon zum Thema Long Covid durchgeführt. 

Die rückmeldenden Mitglieder haben in den letzten Monaten zwischen zwei und zehn Long-Covid-Patienten behandelt. Die Erfahrungen der Mediziner decken sich grösstenteils: Die  aufgeführten Symptome sind sehr ähnlich und umfassen Konzentrationsstörungen , Vergesslichkeit, Schwinde l, Müdigkeit, Panikattacken und depressive Phasen.

Die Krankheitsverläufe werden als «harzig» und «zermürbend» beschrieben. Die Patienten hätten die lange Rekonvaleszenz   nicht erwartet. Die Dauer des Zustands lag zwischen drei und acht Monaten. Viele schätzen die durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit der Patienten aufgrund von Long Covid auf zwei bis drei Monate. 

Ist die Coronaimpfung empfehlenswert für Long-Covid-Patienten?
Dazu gibt es erfreuliche Indizien. Ein amerikanischer Infektiologe beobachtete, dass sich die Symptome von Long-Covid-Patienten nach einer Impfung in 40 Prozent der Fälle verbessert hatten. Wussten die Abwehrzellen dadurch wieder, wogegen sie kämpfen müssen? Wenn ja, würde dies bedeutet, dass eine Impfung das Immunsystem zurück auf die Spur bringen und dafür sorgen könnte, dass die Abwehrzellen nur noch auf das Virus schiessen. Dieser Effekt muss aber durch weitere Studien noch bewiesen werden.

Da viele Symptome schwer beweisbar sind, wird Long Covid in den Medien bereits als neue Modeerkrankung gehandelt. Was sagen Sie dazu?
Niemand käme auf die Idee, eine Zecken-Hirnhautentzündung als Modediagnose zu bezeichnen. Leider ist das Hirn für die Untersuchung schwer zugänglich: Keiner wäre bereit, sich für wissenschaftliche Zwecke einer Hirnbiopsie unterziehen zu lassen. Somit muss im Wesentlichen auf die Autopsie von an Covid Verstorbener zurückgegriffen werden, auch wenn diese schwerer krank waren als Long-Covid-Patienten.

Sie fürchten also nicht, dass Long-Covid-Patienten von Versicherungen als Simulanten hingestellt werden oder Sozialhilfebetrüger die Krankheit tatsächlich vorschieben könnten?
Da die mikroskopischen Veränderungen oft durch bildgebende Verfahren nicht bewiesen werden können, ist die Gefahr sehr gross, dass Betroffene als Psychosomatiker stigmatisiert werden. Einerseits durch Versicherungen in Anbetracht drohender hoher Folgekosten, andererseits durch politische Kreise, die die Gefährlichkeit des Coronavirus herunterspielen und in Erklärungsnot kommen in Anbetracht des Leidens von Long Covid-Betroffenen.

Trotzdem werden auf die Versicherungen hohe Beträge zukommen.
Das ist so. Zehntausende konnten in der Schweiz bereits in der zweiten Welle nicht arbeiten. Wenn die englische Mutation nun wie ein Waldbrand ungebremst durch die Schweiz hindurchfegen würden, dann blieben möglicherweise Hunderttausende mit einer schweren, monatelangen Leidensgeschichte zurück. Bei zwei bis drei Prozent geht man sogar von irreversiblen Schäden aus. Die Versicherer und Rückversicherer müssten ein grosses Interesse daran haben, vorauszusagen, welche Kosten auf uns zukommen. Die mangelnden Zahlen dazu haben mich erstaunt. Sehr wichtig ist, neben der Prophylaxe vor Ansteckungen auch die Therapiemöglichkeiten bei Long Covid weiter zu erforschen. 

Res Kielholz, Ustermer Ärztepräsident im Interview.

Wir stehen am Anfang der dritten Welle. Werden die aktuellen Mutationen zu mehr Fällen von Long Covid führen?
Davon müssen wir ausgehen; auch wenn man schaut, wie es in den umliegenden Ländern aussieht. Letztendlich wird man entweder durch die Krankheit oder die Impfung immun gegen Corona. Ich empfehle Letzteres. Die Zahlen steigen bereits wieder. Deshalb haben wir nicht beliebig Zeit mit den Impfzentren. Der Waldbrand wird zunehmen. Um ihn zu löschen, brauchen wir Feuerwehrmänner: Das sind die Hausärzte, die in den Praxen impfen können. Wir brauchen aber auch Löschflugzeuge, die das Feuer grossflächig bekämpfen können.

Und das sind die Impfzentren.
Richtig. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit den Impfzentren die dritte Welle bremsen können. Die englische Mutation wird durch die Impfstoffe, die in der Schweiz vorhanden sind, sehr gut abgedeckt. Bei den südafrikanischen und brasilianischen Mutanten sieht es schlechter aus. Dort sind aber bereits Impfstoffe von Pfizer/Biontech und Moderna in Entwicklung, die mit kleinen Anpassungen diese neuen Varianten abdecken sollen. Im Moment würde ich sagen, im Match von FC Moderna gegen FC Corona steht es 2:2. FC Corona hat in England, Brasilien und Südafrika einige sehr gute Fussballer eingekauft. Mit den Impfstoffen werden wir aber langfristig gewinnen.

Was kann die Schweiz tun bis genug Impfstoff vorhanden ist?
Die Hausärzte müssen sich mit den Therapieformen zu Long Covid auseinandersetzten. Es wird nicht genug Reha-Plätze geben für alle Betroffenen. Die Politik und die Medien müssen zudem aufhören, sich zu einseitig auf die Todesfallstatistiken zu fokussieren. Bis jetzt sind vier meiner Patienten an Covid gestorben, sie waren alle über 80 Jahre alt, multimorbid und befanden sich bereits auf der Palliativstation. Mehr Sorgen machen sollten wir uns um die Überlebenden.

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