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Gesellschaft

Heilpädagogik auf dem Pferdehof

Wenn Schule nicht mehr geht: Time-out in Gündisau schafft Perspektive

In Gündisau bei Russikon finden Kinder im Time-Out eine Brücke zwischen Krise und Neustart – getragen von Tieren, Vertrauen und klaren Regeln. Auch der 9-jährige Jannik nutzt hier seine Auszeit.

Jannik geniesst den Kontakt zu den Pferden.

Foto: Simon Grässle

Wenn Schule nicht mehr geht: Time-out in Gündisau schafft Perspektive

In Gündisau bei Russikon finden Kinder im Time-out eine Brücke zwischen Krise und Neustart – getragen von Tieren, Vertrauen und klaren Regeln. Auch der 9-jährige Jannik nutzt hier seine Auszeit.

Etwas müde, aber zufrieden striegelt Jannik* die Ponystute Lilly. Es ist Donnerstagmorgen, 9 Uhr – normalerweise wäre Jannik jetzt in der Schule. Doch stattdessen ist er im Time-out auf dem Pferdehof in Gündisau bei Russikon.

Jannik ist ein aufgewecktes Kind. Er liebt Krimis und Knobelaufgaben, spielt gerne mit seinen Freunden Fussball und ist auch sonst sehr aktiv. Leider, zumindest für den regulären Schulunterricht, etwas zu aktiv: Der 9-Jährige störte regelmässig den Unterricht, hatte Probleme, sich zu konzentrieren, und reagierte gereizt auf unvorhersehbare Veränderungen.

Als die Lage eskalierte, wussten seine Eltern und Lehrpersonen nicht mehr weiter. Die Schule konnte sein Verhalten im Unterricht nicht mehr tragen, zusätzliches Personal war nicht verfügbar und Sonderschulen waren überlastet. Es musste eine Lösung her, denn nach den Sommerferien in die vierte Klasse überzugehen, schien unmöglich.

Eine Brücke zum nächsten Ufer

Für solche Situationen haben Sibylle Pfiffner und Andrea Hertach in Gündisau bei Russikon eine Brückenlösung geschaffen. Auf Hertachs Pferdehof Ponykids bieten die beiden ein Time-out für Kinder an, die nicht mehr am regulären Unterricht teilnehmen können – sei es wegen Schulverweigerung, Verhaltensauffälligkeiten oder psychischen Belastungen.

Mit individuell gestaltetem Unterricht und unter Einbezug in die täglichen Aufgaben auf dem Hof bereiten die gelernte Heilpädagogin Sibylle Pfiffner und Andrea Hertach die Kinder auf den normalen Schulalltag oder eine andere Anschlusslösung vor. Bis zu drei Kinder können die beiden gleichzeitig aufnehmen.

Während des rund dreimonatigen Time-outs sollen die Kinder nicht den Anschluss verlieren und dennoch individuell und der aktuellen Situation entsprechend betreut werden. «Unser Programm bildet eine Brücke zum nächsten Ufer», erklärt Hertach.

Besonders eines zeigt Wirkung: Die Pferde und Ponys in Gündisau schenken den akut schulunfähigen Kindern Vertrauen, wecken Freude und motivieren, mit anzupacken.

Feinfühlig und sensibel

«Der Einfluss der Tiere auf die Kinder ist enorm», erklärt Andrea Hertach. «Es fällt den Kindern oft viel leichter, die klare Sprache der Pferde zu verstehen.» Sie hat vor drei Jahren den Hof mit ihrer Familie gekauft, ist seit Kindheitstagen sehr Pferde-affin und unterhält auf ihrem Hof sieben Ponys und Pferde, darunter zwei eigene.

Hertach übernimmt im Time-out vor allem Aufgaben, die rund um den Hof anfallen: Sie mistet mit den Kindern die Ställe aus, pflegt die Tiere, unternimmt Reitausflüge und unterhält Haus und Umgebung. Neben den Time-out-Plätzen bietet Hertach auch Ponyerlebnisse an.

Gerade bei verhaltensauffälligen Kindern erweise sich der Umgang mit den Ponys und Pferden als sehr wirkungsvoll. «Die Vierbeiner sind sehr feinfühlig und reagieren sensibel auf Stimmungen. Gleichzeitig strahlen sie eine Ruhe aus, die ansteckt.» Das sei optimal für Kinder, die im Alltag Mühe damit haben, sich einzuordnen oder zu konzentrieren.

Klare Regeln, aktive Mitarbeit

Jannik ist erst seit Kurzem bei Pfiffner und Hertach im Time-out. Dennoch weiss er, wie die Tage ablaufen. An den vier Vormittagen, die er bei «Ponykids» in Gündisau verbringt, ist ein strukturierter Ablauf besonders wichtig.

Jeden Morgen bespricht Sibylle Pfiffner mit ihm, was erledigt werden muss. «Die Kinder freuen sich eigentlich immer sehr auf die Tiere, weshalb wir den Tag meistens mit ihnen einläuten», erklärt sie. Ankommen, Tiere begrüssen, eine kleine Aufgabe erledigen: «Simpel, aber wirksam.»

Danach darf er aussuchen, ob er seinen Krimi weiterlesen möchte, Matheaufgaben lösen will oder etwas auf dem Klavier spielt. «Das Kind aktiv in die Entscheidungen einzubeziehen, ist wichtig», erklärt Pfiffner. Selbstbestimmung, aktive Mitarbeit und Gestaltung zählen dabei genauso, wie sich an Regeln und Abmachungen zu halten.

16 Lektionen ist Jannik pro Woche bei den beiden auf dem Hof. «Das entspricht den obligatorischen Schulstunden für Kinder, die in der vierten Klasse sind», sagt Sibylle Pfiffner. Das Ziel des Time-outs sei deshalb auch, besonders in Deutsch und Mathematik, nicht den Anschluss zu verlieren. Doch oftmals ist klassischer Unterricht nicht möglich. «Dann lesen wir, oder backen – und bauen die Themen spielerisch in den Alltag ein.»

Heilpädagogik auf dem Pferdehof

Sibylle Pfiffner weiss, wovon sie spricht. Sie ist seit über drei Jahrzehnten im pädagogischen Bereich tätig, hat in Kindergärten gearbeitet, war Heilpädagogin in Regel- und Sonderschulen und Schulleiterin.

Im Laufe ihrer Karriere wurde für sie immer klarer, dass sie sich gerne noch mehr auf Kinder in schwierigen Situationen konzentrieren würde. «Doch das ist gar nicht so einfach – in der Regelschule gibt es schon gute Angebote, aber die stossen schnell an ihre Grenzen.»

Mit Andrea Hertach ist sie seit der Kanti-Zeit in Wetzikon befreundet. «Als Andrea dann den Hof gekauft hat, ist uns ein Licht aufgegangen», so Pfiffner. Die Idee stand im Raum, die Heilpädagogik mit dem Pferdehof zu verbinden.

Eine passende Anschlusslösung

Seit März nehmen die beiden regelmässig Kinder im Regelschulalter bis und mit Sekundarstufe auf – beauftragt werden sie in der Regel direkt von den Schulen. «Bereits in dieser kurzen Zeit haben wir gemerkt, wie wirksam das Angebot ist», so Pfiffner.

Die intensive Betreuung, der individuell angepasste Unterricht und die lebensnahen Erfahrungen auf dem Hof geben den Kindern die Möglichkeit, sich neu zu ordnen und für eine langfristige Lösung vorbereitet zu werden.

Etwaige Abklärungen, beispielsweise im Bereich ADHS oder Autismus, finden oft gleichzeitig statt. «Die drei Monate erlauben nicht nur dem Kind ein Time-out, sondern auch eine geeignete Anschlusslösung zu finden», so Pfiffner.

Auch für Jannik soll es sobald wie möglich entweder in der Regelschule oder einer alternativen schulischen Einrichtung weitergehen. Doch bis dahin kann er noch ein paar Wochen bei Pfiffner und Hertach auf dem Hof verweilen: «Wir freuen uns, mit Jannik den Weg in einen neuen Lebensabschnitt zu ebnen, der ihm entspricht.»


* Zum Schutz der Privatsphäre des Kindes wurde der Name geändert.

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