Ehemaliger Fotograf aus Russikon spricht offen über seine Alkoholabhängigkeit
Wann wird aus einer lieb gewonnenen Gewohnheit eine Sucht? Oliver Baer erzählt über eine sehr schmale Gratwanderung. Und über seine innigste Beziehung, die sein Leben zerstörte.
Oliver Baers Blick wirkt wach und aufmerksam, seine Körperhaltung lässig entspannt. Das blütenweisse Shirt unterstreicht seinen gesunden Teint und seine sportliche Statur. Haare und Schnurrbart sind sorgfältig getrimmt.
Es ist nicht nur sein gepflegtes Erscheinungsbild – auch wenn der 37-Jährige von seinem Leben erzählt, wirkt er «aufgeräumt» und fokussiert. Das war nicht immer so. Über Jahre hinweg war Baer tagtäglich benebelt und betäubt – vom Alkohol, der sein Leben dominierte. «Ich lebte während 15 Jahren in zwei Welten.»
Er führte ein «Doppelleben»
Oliver Baer war ein sogenannter funktionaler Alkoholiker: Von 8 bis 17 Uhr funktionierte er professionell im Berufsalltag. Sobald er jedoch die Tür hinter sich zuzog, lebte er nur noch für seine Alkoholsucht. «Ich freute mich den ganzen Tag über auf meinen besten Freund, den Alkohol.»
Dabei hatte er alles für eine vielversprechende Karriere: Der erfolgreiche Fotograf hatte sich mit seinen ausdrucksstarken Bildern einen Namen in der Schweizer Kultur- und Werbeszene gemacht. Er arbeitete unter anderen mit Künstlerinnen und Künstlern wie Christa de Carouge, Stefanie Heinzmann oder Seven.


In seinem Berufsalltag merkte niemand etwas von seiner Krankheit. «Klar habe ich bei Apéros und Partys Vollgas gegeben», sagt Baer. Das sei aber in der allgemeinen Feierlaune nie aufgefallen und häufig seiner Kreativität zugeschrieben worden.
Auch im privaten Umfeld konnte er seine Sucht lange Zeit verbergen, sogar vor seiner damaligen Ehefrau. Baer hatte immer eine Ausrede parat. «Ich betrog und belog nicht nur mich selbst, sondern auch meine Familie.» Das Resultat aus diesem Katz-und-Maus-Spiel sind eine geschiedene Ehe und der Bruch mit Eltern und Geschwistern.
Der gebürtige Aargauer wusste mit der Zeit, welche Medikamente er einnehmen musste, um einem Kater vorzubeugen. «Ausserdem gewöhnte sich der Körper an die tägliche Alkoholdosis.» Konkret heisst das: bis zu sechs Flaschen Weisswein pro Abend. Manchmal hat er auch Fotos von sich selbst im betrunkenen Zustand gemacht.

«Ich hatte jahrelang das Gefühl, dass ich erst durch den Einfluss von Alkohol kreativ sein kann», erinnert sich der feinfühlige Künstler. Ein gefährlicher Trugschluss, der ihn in eine endlose Abwärtsspirale brachte: «Das eine ging nicht ohne das andere.»
Die Kamera war nicht nur Baers Arbeitswerkzeug. Sie war auch seine Tarnung. «Ich konnte mich und meine Krankheit hinter ihr verstecken.» Als ihm schliesslich das Ausmass seiner Abhängigkeit bewusst wurde, konnte er sich niemandem öffnen. Die Scham, darüber zu reden, war zu gross.
Im April 2023 sah Oliver Baer keinen Ausweg mehr. Ein Suizidversuch führte ihn an seinen persönlichen Tiefpunkt. «Mir wurde sehr schmerzlich bewusst, dass ich Hilfe brauche.» Also wies er sich selbst in eine stationäre Entzugsklinik ein.
Entgegen den Ratschlägen der Ärzte entschied er sich für einen kalten Entzug. «Ich bin sehr hart mit mir selbst», erklärt er seine Entscheidung, «das war für mich der einzig richtige Weg, der mich zur Heilung führen kann.»
Die Konfrontation mit den starken Entzugserscheinungen bezeichnet er heute als die härteste Zeit seines Lebens. Er zwang sich durch diesen höllischen Trip: «Ich versuchte, die Stärke aus meiner selbst errichteten Fassade zu transformieren – für den Kampf gegen die Sucht.»
In schwierigen Zeiten habe ihm das Mantra seiner Mutter geholfen, die vor einem Jahr – leider viel zu früh – verstorben sei: «Lass dir niemals deinen Willen und deine Stärke brechen.»
Körper und Geist haben sich erholt
Seit dem Entzug sind zweieinhalb Jahre vergangen. Oliver Baer fühlt sich körperlich regeneriert: «Mein Kopf ist klar und frei, mein Körper und mein Gesicht sind nicht mehr aufgedunsen vom Alkohol.» Aber auch seine mentale Gesundheit nimmt jeden Tag mehr positiven Raum ein. «Ich bin extrem dankbar, dass dieser Weg funktioniert hat», sagt er sichtlich gerührt.
Er sieht diesen Erfolg als Lohn an: «Dafür, dass ich Verantwortung übernommen und mich meinen Problemen gestellt habe.» Rückblickend habe es nicht «den» Auslöser per se gegeben. «Es war ein schleichender Prozess bis zur endgültigen Abhängigkeit.»


Hilfe anzufordern, war für Baer der absolut wichtigste Schritt, aus der Krise zu kommen. «Scham tötet, Reden rettet Leben», weiss er heute. «Über Alkoholprobleme spricht man heute noch immer viel zu wenig.»
Das Klischee vom ungepflegten, obdachlosen «Alki» spukt noch immer in vielen Köpfen herum. Und das, obschon laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Jahr 2022 jede fünfte Person in der Schweiz missbräuchlich Alkohol konsumierte.
Im Gegensatz zu anderen suchtgefährdenden Substanzen ist beim Alkohol der Zugang sehr niederschwellig. Das erschwert aus Baers Sicht die Situation zusätzlich. «Bis zu welchem Punkt ist das Konsumverhalten noch unbedenklich?», stellt er die Grundsatzfrage in den Raum. «Es ist ein sehr schmaler Grat zwischen Genuss und Abhängigkeit.»
Diese Gedanken haben ihn dazu bewogen, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Mit Interviews, Podcasts und sogar einem Buch, das er aktuell schreibt. Für sein Buchprojekt hat er ein Crowdfunding eingerichtet, das im Juli gestartet ist.
Der Schritt, hinter seiner Kamera hervor ins Rampenlicht zu treten, ist ihm aber nicht leichtgefallen. «Diesem Tabuthema endlich ein Gesicht zu geben, ist für mich meine Herzensangelegenheit», beschreibt er seine Motivation.
Der Schritt in eine neue Zukunft
Während seines Entzugs hat sich Oliver Baer nicht nur vom Alkohol, sondern auch von seinem Beruf getrennt. Er bezeichnet die Zeit zwar als «intensiv und schön». Aber: «Ich werde nie mehr für Geld fotografieren können.» Zu stark sei die Assoziation zu den alten Verhaltensmustern.
Seine Kamera wird der Russiker nur noch für private Zwecke in die Hände nehmen – etwa für eine Bildstrecke in seinem Buchprojekt. «Ich möchte mit nüchternem, puristischem Blick nochmals die prägendsten Stationen in meinem Leben beleuchten.»
Baer schaut voller Zuversicht auf seine neue Zukunft. Sein Blick wird traurig, als er darüber sinniert, was seine verstorbene Mutter heute zu ihm sagen würde: «Sie wäre sicher stolz, dass auch der Kampf gegen den Alkohol meinen Willen und meine Stärke nicht brechen konnte.»