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Drogen in der Palliativmedizin

«Mit LSD kann man das Sterben üben»

Der Palliativmediziner Sivan Schipper, der am Spital Uster tätig ist, erklärt, wieso er die Substanz in der Sterbebegleitung einsetzen möchte– und warum wir ein gestörtes Verhältnis zum Tod haben.

«Es war wie ein Wunder»: Palliativmediziner Sivan Schipper über Behandlungen mit LSD.

Foto: Patrick Gutenberg

«Mit LSD kann man das Sterben üben»

Drogen in der Palliativmedizin

Der Palliativmediziner Sivan Schipper, der am Spital Uster tätig ist, erklärt, wieso er die Substanz in der Sterbebegleitung einsetzen möchte– und warum wir ein gestörtes Verhältnis zum Tod haben.

Die ehemalige Hippie-Droge LSD erlebt ein überraschendes Comeback, als Hilfe bei Depressionen oder Traumata. Und in der Forschung laufen immer mehr Studien, die die hochpotente Substanz untersuchen – etwa im Zusammenhang mit Palliativmedizin. Der Leiter der Palliativabteilung im Spital Uster, Sivan Schipper, erklärt, wie LSD helfen kann, das Sterben mit weniger Angst zu erleben.

Herr Schipper, um den therapeutischen Einsatz von LSD ist ein regelrechter Hype entstanden. Ist dieser aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?

In den letzten zehn Jahren wurde viel Evidenz gesammelt, dass diese Substanzen therapeutisch wirksam sein können. Je mehr geforscht wird, desto klarer treten aber auch gewisse Gefahren und Risiken zutage – das Wissen vertieft sich. Wenn die Politik nicht wieder dazwischenfunkt wie vor 45 Jahren, als LSD weltweit verboten wurde, werden sich Psychedelika-assistierte Therapien vermutlich etablieren.

Wo genau sehen Sie das grösste Potenzial dieser Behandlungen?

Derzeit ist der Einsatz von Psychedelika, nicht nur LSD, vor allem bei Depressionen, Traumafolgestörungen und Angststörungen am weitesten fortgeschritten, weniger auch bei Suchterkrankungen. Erprobt werden die Substanzen auch bei Autismus, Demenz, Zwangsstörungen, Sozialphobien, Schmerzstörungen oder nach Schlaganfällen. Es scheint kaum eine Indikation zu geben, bei der man nicht zumindest prüft, ob es einen Nutzen geben könnte.

Sie selbst haben LSD zur Behandlung Ihrer Clusterkopfschmerzen eingesetzt. War das ein Erweckungserlebnis?

Absolut. Ich litt jahrelang täglich an chronischem Clusterkopfschmerz – keine Behandlung schlug an. Dann stiess ich in Internetforen auf Berichte von Betroffenen, die ihre Schmerzen mit LSD in den Griff bekamen. Ich recherchierte gründlich und fand heraus, dass LSD dabei helfen kann, die Schmerzen unter Kontrolle zu bringen. Durch die Behandlung verschwanden die Schmerzen, zum ersten Mal seit Jahren. Es war wie ein Wunder. Die Episoden kehren gelegentlich zurück, aber ich kann sie mithilfe von LSD gut kontrollieren. Glücklicherweise habe ich eine Bewilligung vom Bundesamt für Gesundheit, LSD legal für mich und meine Patienten einzusetzen.

Zur Person

Sivan Schipper leitet seit 2020 die Abteilung Innere Medizin und Palliative Care im Spital Uster. Der 51-Jährige lebt in Zürich.

Nun wollen Sie LSD auch bei sterbenden Menschen in der Palliativmedizin einsetzen. Das klingt erst mal ungewöhnlich. Was versprechen Sie sich davon?

Meine persönlichen Erfahrungen mit LSD haben mir gezeigt, wie wichtig es ist, loslassen zu können – und das ist auch im Sterbeprozess zentral. Wenn man das im Leben gelernt hat, kann das Sterben eine angenehme Erfahrung oder sogar ein letztes spannendes Abenteuer sein. Eine Hypothese besagt, dass sich unser Bewusstsein beim Sterben in ein grösseres Bewusstsein auflösen könnte – eine Erfahrung, die viele Menschen auch unter Psychedelika machen. Vielleicht kann man durch die Therapie das Sterben quasi «üben» – und es dann mit mehr Gelassenheit und weniger Angst erleben.

Sie sagen «Hypothese». Das klingt nach einem Versuch …

Die Inspiration kam durch das Buch «Die Begegnung mit dem Tod» von Stan Grof und Joan Halifax. Sie begleiteten in den 70er-Jahren Hunderte Sterbende mit LSD. Ihre Studien genügen zwar nicht heutigen wissenschaftlichen Standards, aber das Buch hat mich inspiriert und zu einer eigenen Studie bewogen, unterstützt vom Nationalfonds.

Wie genau muss man sich eine solche Behandlung vorstellen?

Teilnehmen an der Studie können Patienten mit unheilbarer Diagnose, Angstbelastung und einer Lebenserwartung von mindestens drei Monaten. Die Patienten haben mehrere Vorgespräche, danach kommen die eigentlichen Therapietage. In dieser Studie wird insgesamt zweimal LSD verabreicht. Die LSD-Therapie dauert etwa zwölf Stunden und findet unter ständiger Begleitung eines Therapeuten statt. Danach finden mehrere Gespräche statt, in denen das Erfahrene in das Alltagsleben integriert wird.

Gibt es typische Muster bei diesen Erfahrungen?

Das Spektrum ist sehr breit: das Auslösen starker Gefühle oder neuer Sichtweisen auf biografische Erfahrungen, sensorische Erlebnisse, Veränderungen von Raum und Zeit, spirituelle oder mystische Erlebnisse, bis hin zu Nahtoderfahrungen.

Was sind die Risiken oder Nebenwirkungen?

Ich arbeite seit drei Jahren als Co-Therapeut in einer Gruppe mit depressiven, traumatisierten und angstgestörten Patienten. Die meisten bewerten ihre Erfahrung im Nachhinein als wertvoll – auch wenn sie extrem fordernd sein kann. Zweimal kam es während eines Trips zu panischer Verzweiflung, die jedoch durch unsere Begleitung ohne zusätzliche Medikamente beruhigt werden konnten. Aber beide Patienten beschrieben die Erfahrung später als heilsam.

Trotzdem: Man hat Angst vor dem Tod – und soll dann auch noch LSD nehmen? Nicht jedermanns Sache.

Natürlich nicht. Das wird kein breitenwirksames Mittel in der Palliativmedizin sein, sondern ein ergänzendes Angebot für Menschen, die bereit und mutig genug sind, diesen Weg der Bewusstseinserweiterung achtsam zu begehen.

Es klingt, als habe diese Therapie auch eine spirituelle Dimension.

Ja, sie geht über reine Symptombehandlung hinaus. Es geht um Bewusstseinserweiterung bis hin zu spiritueller Transformation der Grundängste, nicht um deren Dämpfung wie bei Beruhigungsmitteln. Viele Sterbenskranke empfinden Hoffnungslosigkeit, Sinnverlust. Manche Menschen könnten durch die Behandlung auch Werte wiederentdecken, die verloren gingen – und am Lebensende plötzlich wieder aufblühen: Beziehungen, Musik, Natur.

Wird diese spirituelle Ebene in der medizinischen Fachwelt akzeptiert?

In der Palliativszene ja, dort ist Spiritualität längst ein anerkannter Bestandteil.

Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) fordert, dass nur Psychiater psychedelische Therapien durchführen dürfen. Ist das nicht folgerichtig?

Aus meiner Sicht nicht. Die Psychedelika-assistierte Therapie kann keine ausschliessliche Aufgabe der interventionellen Psychiatrie sein. Hierfür eignet sich vielmehr die interdisziplinär aufgestellte Säpt, die Schweizerische Ärztegesellschaft für psycholytische Therapie. Die Säpt setzt sich seit Jahrzehnten intensiv mit der Psychedelika-assistierten Therapie auseinander.

Inwiefern?

Sie fördert die Ausbildung und die Forschung sowie auch die sichere Anwendung von Psychedelika. Sie hat in den letzten Jahren Behandlungsempfehlungen und ethische Leitlinien verfasst und eine Ombudsstelle ins Leben gerufen. Kürzlich hat eine Arbeitsgruppe der Säpt ein interdisziplinäres Aus- und Weiterbildungskonzept beim Schweizerischen Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung eingereicht, welches die Anwendung der Psychedelika-assistierten Therapie nachhaltig und integrativ regeln soll.

Was, wenn der Vorschlag abgelehnt wird?

Das wäre aus meiner Sicht fatal. Sollten ausschliesslich Psychiater psychedelika-assistierte Therapien durchführen, befürchte ich eine Unterversorgung von Palliativpatienten und anderen Patientengruppen wie zum Beispiel Clusterkopfschmerzpatienten.

Ein weiteres Reizthema ist die Selbsterfahrung von Therapeuten.

Nun: Würden Sie mit einem Bergführer auf einen Berg, der noch nie auf einem Berg war?

Ist die Ausbildung mit Substanzen nicht illegal?

Das Problem, dass Therapeuten Selbsterfahrungen mit psychedelischen Substanzen in der Schweiz nicht legal machen dürfen, hat die Säpt so gelöst: Die Therapeutenausbildung wird im Kontext einer Studie durchgeführt.

Was haben Sie persönlich aus Ihrer Arbeit mit LSD und Sterbenden gelernt – und wie hat das Ihre Sicht auf den Tod verändert?

Dass man mit dem Tod Frieden schliessen kann. In westlichen Kulturen ist der Tod ein Tabu, das viele ein Leben lang verdrängen. Und dann, mit 90, werden sie plötzlich wie unvorbereitete Schulkinder mit dem Tod konfrontiert, unreif und überfordert. Ein Zitat begleitet mich: «If you die before you die, you won’t die when you die.» Wer sich mithilfe von Psychedelika existenziell mit dem Tod auseinandersetzt, erlebt ihn nicht mehr als Tragödie – sondern als das, was er ist: als natürlicher Teil des Lebens.

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