Im Überlebensmodus: Zu Fuss unterwegs im Dübendorfer Zentrum
Mobilitätsexperte Pascal Regli gibt der Dübendorfer Innenstadt in Sachen Fussgängerfreundlichkeit keine guten Noten. Die Situation sei stressig, konzeptlos – und potenziell gefährlich.
Seitdem im Zentrum von Dübendorf im Frühsommer 2021 Tempo 30 eingeführt wurde, hat sich der Verkehr zwar beruhigt. Für Fussgänger brachte das Ganze aber auch Nachteile. Denn die meisten Zebrastreifen wurden entfernt, manchmal blieb noch eine Mittelinsel übrig. Der Stadtrat begründete das Vorgehen damit, dass der Kanton Fussgängerstreifen in 30er-Zonen nur in Ausnahmefällen vor Schulen oder Heimen erlaube.
Fussgänger dürfen die Strassen in der Tempo-30-Zone zwar überqueren, wo sie wollen, haben aber keinen Vortritt. Und gerade in den Stosszeiten stösst das System an seine Grenzen: Es braucht Geduld, bis man auf die andere Strassenseite gelangt. Und immer wieder kommt es zu potenziell gefährlichen Szenen. Das gilt umso mehr für Personen, die nicht gut zu Fuss sind, oder für Kinder, die sich im Strassenverkehr noch nicht sicher fühlen.
Unnötiger Verzicht auf Zebrastreifen?
Laut Pascal Regli müsste das gar nicht sein. Regli ist Geschäftsleiter von Fussverkehr Schweiz, einem politisch unabhängigen Fachverband, der sich für die Anliegen der Fussgänger einsetzt. Für ihn sind die Voraussetzungen für eine Tempo-30-Zone nicht gegeben. Denn 30er-Zonen seien gemäss Strassenverkehrsgesetzgebung nur auf nicht verkehrsorientierten Nebenstrassen zulässig.
Bei den betreffenden Strassen im Dübendorfer Zentrum handle es sich vielmehr um sogenannte Tempo-30-Strecken. Diese befinden sich laut Regli auf verkehrsorientierten Strassen.
Auch gebe es «rechtlich keinen Anlass, auf Fussgängerstreifen zu verzichten oder diese aufzuheben». Regli verweist auf die Stadt Zürich, wo solche geschwindigkeitsreduzierten Strecken mittlerweile an zahlreichen Orten bestehen – mit Zebrastreifen. Eine verkehrsberuhigende Strassenraumgestaltung sei zwar anzustreben, aber nicht zwingend notwendig.

Gegen die Entfernung eines Fussgängerstreifens spreche, wenn die Querung als Teil einer Fusswegverbindung im kommunalen Richtplan eingetragen sei. «Doch die Gemeinden sind oftmals zurückhaltend darin, ihre Interessen gegenüber dem Kanton durchzusetzen», sagt Regli. «Es bestehen viele Abhängigkeiten, und die Gemeinden sind auf das Wohlwollen des Kantons angewiesen, da möchte man die gute Zusammenarbeit nicht aufs Spiel setzen.»
In Sachen Verkehr ein Dorf
Doch wie schätzt Regli konkret die Situation im Zentrum Dübendorfs ein? Der Verkehrsplaner und diplomierte Geograf hat sich für diese Zeitung die neuralgischen Stellen in der umstrittenen Tempo-30-Zone angesehen. Sein Fazit vorweg: «Dübendorf wächst unaufhörlich, wird mit seinen bald 35'000 Einwohnern immer urbaner, aber im Zentrum ist die Stadt punkto Verkehr nach wie vor ein Dorf.»
Bezeichnend sei, dass das Auto im Zentrum gegenüber dem Langsamverkehr Vortritt habe. Diese verkehrsplanerische Haltung hänge auch mit «dem Irrglauben» zusammen, dass das Gewerbe in einem Ort vom uneingeschränkten Autoverkehr profitiere. «Eine Annahme, die mittlerweile durch Studien mehrfach widerlegt ist.» Bewiesen sei das Gegenteil: «Ist ein Ortskern für Fussgänger attraktiv, kurbelt das auch die lokale Wirtschaft an.»
Aber Fussgänger hätten eben keine echte Lobby, so Regli. «Sie sind die flexibelsten Verkehrsteilnehmer und weichen fast schon gezwungenermassen auf alternative Routen aus, wenn sie gegenüber dem übrigen Verkehr benachteiligt werden.»
Neuhofstrasse/Bahnhofstrasse (1)

Pascal Regli: «Diese Stelle ohne Fussgängerstreifen ist heikel. Man muss eine grosse Distanz überqueren, und die Situation ist extrem unübersichtlich, denn die Autos, Busse und Lastwagen kommen von drei Seiten. Das ist schon für Erwachsene nicht einfach, Kinder und ältere Leute sind hier schnell überfordert, umso mehr, weil es in der Mitte der Strasse keine Schutzinsel hat. Erschwerend kommt dazu, dass diese Querung auf der logischen und direkten Verbindung zwischen der Unterführung am Bahnhof und dem Stadtzentrum liegt; die Strecke wird also von vielen Personen zu Fuss genutzt.»
Grundstrasse/Bahnhofstrasse (2)

Pascal Regli: «Die Distanz, die es hier ohne geschützten Fussgängerübergang zurückzulegen gilt, ist zwar etwas weniger lang als an der Neuhofstrasse, die Situation ist aber nicht weniger unübersichtlich. Im Gegenteil: Durch die Büsche sind Kinder am Strassenrand kaum zu sehen, Autofahrer können erst im letzten Moment reagieren. Massnahmen für eine Verbesserung wären dringend nötig. Zudem hat man hier bereits die zweite ungeschützte Querung für Fussgänger auf der Strecke vom Bahnhof zum Zentrum. Von einem zusammenhängenden Fusswegnetz ist nicht viel zu spüren.»
Strehlgasse/Bahnhofstrasse (3)

Pascal Regli: «Mittelinseln verbessern die Sicherheit, weil die Strasse in zwei Etappen gequert werden kann. Hier gibt es immerhin eine solche, die allerdings deutlich zu schmal ist. Dennoch ist die Situation an dieser Stelle insgesamt überschaubarer. Viel mehr als eine Krücke ist die Mittelinsel aber nicht, denn sie ändert nichts daran, dass die Fussgänger hier keinen Vortritt haben. Wieso also nicht klare Verhältnisse schaffen und einen Fussgängerstreifen anbringen?
Querung Wallisellenstrasse (4)

Pascal Regli: «Schwellen respektive sogenannte Berliner Kissen mit der entsprechenden Markierung signalisieren den Autofahrern: Achtung, aufpassen! Immerhin. Allerdings haben Fussgänger auch hier keinen Vortritt, was vielen Verkehrsteilnehmern nicht klar ist. Wer an einer solchen Stelle als Fussgänger selbstbewusst zur Querung der Strasse ansetzt, wird viel eher durchgelassen als Kinder. Denen wird beigebracht, dass sie am Strassenrand warten müssen, bis die Autos komplett angehalten haben. Und so stehen sie dann verunsichert da, und niemand lässt sie durch – das ist auch nicht unbedingt ein Zeichen von Wertschätzung für die jüngsten Verkehrsteilnehmer.»
Wallisellenstrasse/Bahnhofstrasse (5)

Pascal Regli: «Es handelt sich um eine sogenannte Trottoirüberfahrt – die Fussgänger hätten Vortritt. Um in die Strasse einbiegen zu können, ignorieren viele Autofahrer das und versperren den Passanten den Weg. Dieser Fall zeigt exemplarisch: In der Innenstadt von Dübendorf fehlt eine Vision, eine einheitliche verkehrsplanerische Handschrift, die das Verkehrsregime mit entsprechender Signalisation für alle nachvollziehbar macht. Weiter oben an der Bahnhofstrasse gilt für die Autofahrer Rechtsvortritt, hier nun plötzlich nicht mehr. Gleich daneben gibt es dann doch noch einen Fussgängerstreifen mit Mittelinsel, der deutlich zu schmal und für Sehbehinderte mit einer mangelhaften taktil-visuellen Markierung ausgestattet ist.»
Das sagt die Stadt Dübendorf
Könnte das Problem fehlender Zebrastreifen gelöst werden, indem die Tempo-30-Zone im Dübendorfer Zentrum kurzerhand in Tempo-30-Strecken umgewandelt würde? «Ganz klar», sagt Pascal Regli, Geschäftsleiter des Fachverbands Fussverkehr Schweiz (siehe Haupttext).
Im Stadthaus ist man anderer Meinung. Die Tempo-30-Zone im Zentrum sei auf Antrag der Stadt Dübendorf von der Kantonspolizei verfügt worden, sagt Reto Lorenzi, Leiter der Stadtplanung. Das Thema «Tempo-30-Strecke» sei dabei nie zur Sprache gekommen.
«Eigentlich ist das ja ein interessanter Ansatz», so Lorenzi. «Wenn man den aber vertieft, wird es schnell mal kompliziert.» Tempo-30-Strecken müssten einzeln bewilligt werden und durch ein Gutachten gestützt sein. Dabei bestehe die Gefahr, dass auf einzelnen Abschnitten dann plötzlich wieder Tempo 50 eingeführt werden müsse. «Und das ist aus verkehrsplanerischer Sicht nicht sinnvoll.»
Auch Eintrag in Richtplan ändert nichts
Lorenzi wehrt sich gegen den Vorwurf, die Stadt setze ihre Interessen gegenüber dem Kanton nicht hartnäckig genug durch. «Wir stehen in regelmässigem Austausch und kommen dabei immer auf die fehlenden Fussgängerstreifen zu sprechen, die werden aber stets aufs Neue abgelehnt.»
Gleichzeitig habe die Stadt aber auch schon Erfolge verbuchen können, sagt Lorenzi und verweist auf zwei Fussgängerstreifen auf der Bahnhofstrasse, welche die Stadt im Nachhinein wieder aufmalen durfte. Grundsätzlich sei es so, dass in 30er-Zonen Zebrastreifen nur vor Schulen oder Heimen erlaubt seien.
Daran ändere sich auch nichts, wenn ein Fussweg im Richtplan eingetragen sei – solange es zum Beispiel auf der anderen Strassenseite einen Weg ohne Unterbruch gebe. Und das sei bei der Bahnhofstrasse der Fall.
Zebrastreifen löst nicht alle Probleme
Lorenzi räumt aber ein, dass die Situation im Zentrum nicht ideal ist. Bei der Querung der Neuhofstrasse etwa wäre seiner Meinung nach eine Mittelinsel hilfreich. Doch eine solche bauliche Massnahme sei wegen der Busse nicht möglich. «Letztlich löst dort aufgrund der Breite der Strasse auch ein Zebrastreifen nicht alle Probleme.»
Die Signalisation im Zentrum sei unmissverständlich, hält Lorenzi fest. So liessen die Markierungen bei der Trottoirüberfahrt Bahnhof-/Wallisellenstrasse keinen Zweifel, dass die Fussgänger Vortritt hätten. Der Übergang auf der Wallisellenstrasse wiederum sei eine Massnahme zur Verkehrsberuhigung, Passanten dürften die Strasse überall queren – sie hätten halt einfach keinen Vortritt.